„Zunächst
werden wir die Wurzeln der Terroristen abtöten, dann werden wir
Afrin wieder lebenswert machen. Für wen? Für die 3,5 Millionen
Syrer, die wir in unserem Land bewirten“, erklärte Recep Tayyip
Erdoğan am 24. Januar anlässlich der Einberufung anatolischer
Dorfvorsteher in den Präsidentenpalast. In Afrin selbst kann dies
nicht anders verstanden werden als eine Drohung mit genozidalen
Zügen. Afrin, der nordwestlichste Zipfel des de facto inexistenten
Gouvernements Aleppo, war bis zum türkischen Militäreinmarsch der
einzige Teil Nordwestsyriens, der noch nicht weitflächig zur Ruine
geschliffen worden ist und verblieb somit für hunderttausende
Flüchtende ein innersyrisches Exil. In den vergangenen Jahren
flüchteten bis zu 400.000 Kurden und vor allem sunnitische Araber
aus Aleppo und anderswoher in den Distrikt Afrin. Ungefähr dieselbe
Anzahl an Menschen lebte zuvor in dem Distrikt. Die Zubetonierung der
türkischen Grenze zu Afrin sowie Stacheldraht und gegossenes Blei
verunmöglichten die Weiterflucht nach Europa.
Türkische
Großraumpolitik
Wie zuvor in
Azaz und Jarablus wird jenen, die als militantes Frontvieh türkischen
Interessen dienen, versprochen, zur Kompradorenklasse in den
eroberten Territorien gemacht zu werden. Im „Nationalen Heer“ hat
die Türkei die sunnitischen Milizionäre aus den Provinzen Idlib und
Aleppo reorganisiert, die sich in internen Rivalitäten längst
aufgerieben und bereits für die Teilnahme an der vorherigen
türkischen Militärkampagne „Schild des Euphrats“ die
ursprüngliche Front gegen das Regime von Bashar al-Assad verlassen
hatten. Die erste Legion des „Heeres“ wird von der turkmenischen
Samarkand Brigade, affiliiert mit der al-Hamza Division, geführt.
Ihre Frontberichte auf Twitter ähneln denen anderer sunnitischer
Milizen: demonstratives Gebet im schlammigen Boden und das ewig
gleiche Gebrüll von „Allahu Akbar“. Auch die zweite Legion wird
von einer turkmenischen Miliz angeführt: die Sultan Murad Division,
sie gilt seit längerem als präferierte Guerilla des türkischen
Secret Service, dem MİT. In ihren Reihen wie in denen anderer
panturkistischer Brigaden wie die Muntasır Billah aus der ersten
Legion befinden sich viele türkische Volontäre der Grauen Wölfe.
Sie sind die militante Speerspitze der völkischen Großraumpolitik
der Türkei. Prominente Politiker der türkischen Staatsfront stecken
seit längerem weite Teile Syriens und des Iraks als ursprünglich
türkische Scholle ab. „Afrin heißt Hatay, Afrin heißt Kilis. Es
ist das Vaterland“, so etwa İsmet Büyükataman, Generalsekretär
der Milliyetçi Hareket Partisi (MHP). „Mit Allahs Willen werden
die Terroristen im Feuer (des türkischen Einmarsches) verbrennen.“
Die
Staatsfront, die die völkische MHP mit den Muslimbrüdern Erdoğans
begründet hat, ist nicht allein eine strategische. In ihr kommt die
Verzahnung von völkischem Wahn und Islamisierung ganz zu sich. Auf
der blutroten Flagge der Ursprungspartei der Grauen Wölfe prangt für
jeden Kontinent, auf dem die osmanischen Imperialisten zu anderen
Tagen Territorien beherrschte, ein Halbmond. Ganz so wie in der
Türkischen Republik der Islam durch die ideologischen Elemente Rasse
und Blut domestiziert wurde, adressieren die Grauen Wölfe ihre
Identifikation zuallererst entlang völkischer Kriterien. Die
türkischen Muslimbrüder, die der anti-laizistischen
Erweckungsbewegung Millî Görüş entsprungen sind, haben mit dieser
Verschmelzung von Rasse und Islam nicht gebrochen. „Mit Täuschungen
und Intrigen“ haben sie „unser 5 Millionen Quadratkilometer
großes Vaterland geplündert. Sie haben uns so genötigt, dass sie
am Ende den schlafenden Riesen aufgeweckt haben. Das sollen sie
wissen“, so der türkische Staatspräsident vor wenigen Tagen. Sein
antiimperialistischer Opfermythos ist projizierter Geltungsdrang, in
Unschuld ummantelte imperiale Aggression.
Die dritte
Legion des „Nationalen Heeres“ wird geführt von der al-Shamiyah
Front, ein Upgrade der ursprünglichen Islamischen Front. Sie vereint
rivalisierende Milizen, die im Spätherbst 2013 die Institutionen der
syrischen Exil-Opposition als illegitim und „konspirative
Unternehmung“ denunzierten. Die Shariah gilt ihnen als einzig
legitimes Fundament des Staatswesens. Die berüchtigste Miliz
innerhalb der Front ist Ahrar al-Sham, sie preist die Schlächter der
afghanischen Taliban dafür, dass sie gelehrt hätten, „wie das
Emirat in die Herzen des Volkes gepflanzt wird, noch bevor es
Wirklichkeit auf dem Boden wird“. Neben den syrischen Taliban der
Ahrar al-Sham ergänzt die zuvor in Gangrivalitäten aufgeriebene
Fastaqim Union die dritte Legion.
Die Faylaq
al-Sham, der inoffizielle militärische Flügel der syrischen
Muslimbrüder, führt mit der islamistischen Jaysh al-Nukhba den
„Siegesblock“ des „Nationalen Heers“ an. Ihr Kommandeur
Yasser Abdul Rahim ist eine der Schlüsselfiguren des „Nationalen
Heeres“. In Aleppo befehligte er die Fatah Halab als deren
Artillerie monatelang flankiert vom Mordgebrüll „Allahu Akbar“
die kurdische Enklave Sheikh Maqsood terrorisierte. Auch die
berüchtigte Ahrar al-Sharqiyah twittert von der Front. Sie bewegt
sich im Dunstkreis von Abu Mariyyah al-Qahtani, einem Veteran der
irakischen al-Qaida, und rekrutiert aus dem Gouvernement Deir ez-Zor
geflüchtete Soldaten des gescheiterten Kalifats. Die islamistischen
Marodeure von Ahrar al-Sharqiyah, die sich die Monate zuvor vor allem
mit anderen Banden befehdeten, demolieren nun in der eroberten
Peripherie von Afrin Alkoholausschänke und besingen das
islamistische Globetrotting von Grosny über das afghanische Tora
Bora nach Afrin.
An der
südlichen Front zu Afrin terrorisieren die mit der „Freien
Syrischen Armee“ affiliierte Jaysh al-Nasr und die salafistische
Harakat Nour al-Din al-Zenki den bedrohten Kanton. Jaysh al-Nasr,
Jaysh al-Nukhba und die al-Hamza Division stehen exemplarisch für
die Islamisierung der „Freien Syrischen Armee“. Ihre
Frontberichte inklusive Gebet auf der eroberten Erde sind durchzogen
mit Nashids, islamischen Schlachtgesängen, und dem ewig gleichen
„Allahu Akbar“. Jaysh al-Nasr wird zudem beschuldigt,
systematisch alawitische Familien als Geiseln genommen zu haben.
Angehörige der Harakat Nour al-Din al-Zenki dagegen verstanden es
als Publicité, als sie in Aleppo einem Kind – beschuldigt ein
Kindersoldat Bashar al-Assads zu sein – lachend die Kehle
durchschnitten. Nicht wenige Angehörige der originären „Freien
Syrischen Armee“ haben sich übrigens anders entschieden. Die
multiethnische Jaysh al-Thuwar, die „Armee der Revolutionäre“,
verteidigt in diesen Stunden Afrin gegen die türkischen Aggressoren
und ihre islamistischen Koalitionäre.
Staatsfront
aus Muslimbrüdern und Ultranationalisten
Inzwischen
kritisieren auch Abgeordnete der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), die
traditionelle Partei Mustafa Kemals, den islamistischen Charakter des
syrische Frontviehs der türkischen Militärkampagne ohne auch nur
ein einziges böses Wort über die ihnen heilige Türkische Armee
zuzulassen. In Wahrheit aber repräsentiert das „Nationale Heer“
exakt die ideologischen Kernelemente der türkischen Staatsfront.
Während des Abstrafungsfeldzugs im eigenen Südosten ließ die
türkische Konterguerilla aus Polizei und Gendarmerie keinen Zweifel,
dass sie den Feind als Abtrünnige an Vaterland und Islam verfolgen.
Die wochenlange militärische Abriegelung abtrünniger Distrikte war
die Rache dafür, dass sich im Juni 2015 in manchen Provinzdistrikten
nordöstlich von Syrien bis zu über 90 Prozent der Menschen an der
Urne für die Halkların Demokratik Partisi (HDP) mit ihrer Idee für
eine föderale Türkei aussprachen. Im grenznahen Silopi beschallte
die militarisierte Polizei die Eingeschlossenen mit dem Gedröhne
osmanischer Marschkapellen. Nach Explosionen erfolgte ein
verächtliches „Allahu ekber“ - ganz so wie in der syrischen
Hölle. Während auf den zerschossenen Fassaden in den
eingeschlossenen Distrikten der Schlachtruf der türkischen
Staatsfront aus Grünen und Grauen Wölfen prangte, „Armenische
Bastarde“, salutierte die Konterguerilla mit Wolfsgruß in der
schwerbeschädigten St. Giragos Kathedrale in Diyarbakır. Neben der
Reviermarkierung des Wolfsrudels im Staatsdienst hinterließ vor
allem die paramilitärische Gang Esedullah, „Allahs Löwen“,
ihren Namen an den durchlöcherten Fassaden.
Auf die
Militärkampagne folgten die Verhaftungen der Co-Vorsitzenden der
Partei der Abtrünnigen sowie weiterer Abgeordneter und unzähliger
namenloser Parteiangehöriger. „Der Staat hat sie wie Ratten, die
aus der Kanalisation gekrochen kommen, am Genick gepackt“, prahlte
Nihat Zeybekçi, ein Muslimbruder in Ministerwürden. Während der
Rudelführer der Grauen Wölfe, Devlet Bahçeli, den inhaftierten
Abgeordneten drohte: „Entweder sie beugen ihre Köpfe oder ihre
Köpfe werden zermalmt“. In Polizeihaft genommene Abgeordnete wie
Besime Konca wurden über Stunden mit Militärmärschen berieselt.
Der regimehörige Boulevard titelt seit längerem von „Zoroastriern“
und „Feueranbetern“, wenn er die kurdischen Abtrünnigen meint.
„Sie sind Atheisten, sie sind Zoroastrier“, benennt Erdoğan
höchstpersönlich ihre Parteigänger als Feinde des Islams. In
Afrin, so Erdoğan, bekämpfe die Türkei die „Kollaborateure des postmodernen Kreuzzugs“.
Die syrische
Katastrophe mit ihrer eskalierenden Racketisierung des Regimes und
der „befreiten“ Zonen sunnitischer Banden fungiert als dunkle
Prophetie, was sich auch in der Türkei Bahn zu brechen droht. Unter
dem Regime der Muslimbrüder ist das türkische Militär vom Garanten
der formal-laizistischen Verfasstheit der Republik nicht nur
heruntergebracht auf eine bloße Funktion als Armee, es wird mehr und
mehr ausgehöhlt durch einen militarisierten und hochideologisierten
Polizeiapparat sowie durch eine reale Parallelstruktur militanter
Männerrotten. Im Verbund mit dem Cemaat des exilierten Imams
Fethullah Gülen brachten die Muslimbrüder ab 2008 die zuvor von
ihnen infiltrierte Justiz gegen die traditionslaizistischen Militärs
und ihr politisches Milieu in Anschlag. Als inszenierter Konter auf
die Parallelstrukturen „Ergenekon“ und „Balyoz“ wurden
pensionierte Generäle und amtierende Offiziere angeklagt und
schuldig gesprochen, sich gegen den Staat verschworen zu haben.
Nachdem die
Rivalitäten zwischen den Muslimbrüdern Erdoğans und den Getreuen
des exilierten Imams eskalierten, amnestierten erstere nach für nach
die inhaftierten Ultranationalisten. Erdoğan bedurfte die
Rehabilitierten zur Absicherung gegenüber den Getreuen des
abtrünnigen Imams. Nach dem gescheiterten regime change vom 15. Juli
2016 – nach allem, was man weiß, lief dieser durch Vorwissen der
Staatsführung „kontrolliert“ ab – mussten die Verhaftungen und
Massenentlassungen in der Armee personell kompensiert werden. Nun
verließ sich Erdoğan auf jene, die er Jahre zuvor noch als
Intriganten einer „Parallelstruktur“ denunzierte. Diese boten
sich strategisch an, da sie – noch konsequenter als die
Muslimbrüder – eine schleichende Abwendung von der traditionellen
Militärallianz mit den US-Amerikanern und eine Zuwendung hin zu
einer eurasischen Regionalstrategie verfolgen. Eine der
Schlüsselfiguren ist hier Doğu Perinçek, passionierter
Genozidleugner und Gründer der ultranationalistischen
„Vaterlandspartei“, die auf den Islam ganz in der Tradition
Mustafa Kemals argwöhnisch herabblickt. Nach dem 15. Juli 2016 rief
er zur „patriotischen Front“ mit den „religiös Konservativen“
Erdoğans gegen die Feinde des Vaterlandes. Die Vatan Partisi ist
dabei weniger eine Partei als ein konspirativ-paranoider Zirkel
ausgedienter Militärs wie Cem Gürdeniz. Der pensionierte Admiral
propagiert in diesen Tagen Afrin als erste Etappe einer
Schicksalsschlacht des „blauen Vaterlandes“. Mit der Eroberung
von Afrin werde verunmöglicht, dass eine etwaige kurdische
Eigenstaatlichkeit eine maritime Präsenz und somit auch einen
Korridor zu Israel bekäme. Nach der Militärkampagne gegen Afrin
müsse, so Gürdeniz, die Einverleibung der Inseln Kardak und
Kastelorizo im griechisch-türkischen Grenzgewässer folgen. Aus dem
direkten Dunstkreis Erdoğans hieß es jüngst, Athen werde den Zorn
der Türkei mehr noch als Afrin zu spüren bekommen, wenn die
Griechen das menschenleere Inselchen Kardak betreten. „Die
Imperialisten“, so Erdoğans Vertrauter Yiğit Bulut, „müssen
das Handgelenk, das sie nicht brechen konnten, küssen“.
Das
ultranationalistische Milieu pensionierter Militärs mit einer
Marotte für eurasische Ordnungsstrategien fungiert auch als
geostrategisches Ticket Erdoğans zu Bashar al-Assad und Vladimir
Putin. Der Russe Aleksandr Dugin, Vordenker der
anti-universalistischen Kontrarevolution mit geistigen Anleihen bei
Julius Evola, Alain de Benoist und Carl Schmitt, war unlängst zu
Gast bei der Fraktionssitzung der AK Parti. Ministerpräsident von
Erdoğans Gnaden, Binali Yıldırım, ließ sich mit ihm
fotografieren.
Doch auch
diese Einheit ist durch und durch krisenhaft. Das islamistische
Milieu aus obskurantistischen Tarikats fürchtet die
Ultranationalisten in der Konkurrenz um die Funktionsstellen im Staat
und zweifelt an deren Loyalität. Islamistische Kolumnisten wie Ahmet
Taşgetiren denunzieren die Ulusalcılar, die ultranationalistischen
Traditionslaizisten, als die nächste aufkommende „Parallelstruktur“.
Hinzu kommt, dass die Muslimbrüder an der Graswurzel sich den
kaukasischen Emiren verpflichtet sehen und ihnen Vladimir Putin ein
Blutfeind ist.
Währenddessen
höhlen die Muslimbrüder in der Staatsführung die Armee weiter aus.
Eine Schlüsselfigur hierbei ist der persönlicher Berater Erdoğans
Adnan Tanrıverdi, ein pensionierter General, der mit „Sadat
International Defense Consulting“* Soldaten um sich scharrt, bei
denen Ende der 1990er Jahre noch auf den Verdacht, den laizistischen
Charakter der Republik zu beargwöhnen, konsequent die
Exkommunikation aus der Armee folgte. Seine Unternehmenspraxis
bestehe nach Eigenaussage darin, die islamischen Staaten – unter
türkischer Führung, versteht sich – dabei zu flankieren, die
Abhängigkeit von den „imperialistischen Kreuzfahrern“ zu
beenden. Zuständig für das analytische Lagebild ist bei „Sadat“
Abdurrahman Dilipak, Kolumnist jener Gazette Yeni Akit, die in diesen
Tagen freudig die Teilnahme des kaukasischen Warlords Muslim
al-Shishani an der türkischen Militärkampagne verkündet hat.* *
Die
imperialen Ambitionen der Türkei sind kein Ausdruck von innerer
Stärke. Der Staat der Muslimbrüder realisiert vielmehr einzig noch
Einheit in der Aggression gegen ein Drittes. Auf die föderalen
Strukturen in Nordsyrien und ihren vor allem kurdischen Protagonisten
können sich alle Nationalchauvinisten einigen. Dies gilt auch für
jene, die Opposition sein sollten: die Getreuen Mustafa Kemals, die
im Angesicht des Scheiterns der Republik sich einschwören, den Eid
„Wie glücklich derjenige, der sagt: Ich bin Türke“ mit in ihr
Grab zu nehmen, und die historisch dem Südosten weniger Aufklärung
und Frauenbefreiung brachten als Kasernen und Zwangstürkisierung.
Ihr Boulevard, die Sözcü, geriert sich als einer der aggressivsten
Einpeitscher: „Die Verräter werden geschlagen“, beschriftet sie
an Tag eins der Aggression gegen Afrin martialisch das Titelblatt mit
türkischem F-16 und Feuerwolke. Nicht anders die renommierte
Hürriyet: „Die Türkei – ein Herz“.
Die Halkların
Demokratik Partisi, damit angetreten den zähen wie tödlichen
Konflikt im Südosten über eine Demokratisierung der Türkei zu
beenden, hat der Partei Mustafa Kemals wieder und wieder die Hand
ausgestreckt – nur einige wenige wie ihre Abgeordneten Sezgin
Tanrıkulu und Hüseyin Aygün, selbst Kurden, haben sie
entgegengenommen. Während der pogromartigen Stürme auf ihre
Parteihäuser, der anhaltenden Inhaftnahmen von über 10.000 ihrer
Parteigänger und der Zwangsverwaltung ihrer Kommunen blieb die
Partei der Versöhnung allein mit ihren Verfolgern. Heute sind alle
zum Schweigen verdammt. Hunderte werden als „Front des Verrats
denunziert und verhaftet, weil sie auf Twitter oder anderswo Kritik
an der Militärkampagne gegen Afrin geäußert haben. Protest wird
rigoros im Keim erstickt. Prominente, die die Aggression nicht
demonstrativ begrüßen, werden verleumdet.
Dabei ging
von Afrin nie auch nur irgendeine Bedrohung aus. In der an Afrin
grenzenden türkischen Provinz Hatay wissen vor allem die Aleviten,
worin die eigentliche Bedrohung liegt. Die verheerenden Massaker in
Grenznähe in Reyhanlı, Provinz Hatay, am 11. Mai 2013 und Suruç,
Provinz Şanlıurfa, am 20. Juli 2015 waren islamistische – vom
„tiefen Staat“ der Muslimbrüder flankiert.
Afrin darf
nicht fallen
Wer die
Verteidigung von Afrin und der Föderation Nordsyriens als ureigenes
Interesse zu verstehen hat, sollte außer Frage stehen. Nicht nur,
dass sich in Nordsyrien Frauen entschließen, sich organisiert und
militant gegen die islamistischen Aggressoren zu verteidigen – und
jeder Befreiungsschlag gegen das Kalifat des gescheiterten
„Islamischen Staates“ demonstrativ damit gefeiert wird, dass sich
Frauen den zwangsverordneten schwarzen Schleier vom Leib reißen und
genüsslich ihre erste Zigarette qualmen. Dies als Sachzwang der
Generalmobilisierung zu relativieren oder als Kalkül der Partiya
Yekîtiya Demokrat (PYD) zu denunzieren, verkennt nicht nur, dass in
den von den sunnitischen Militanten gehaltenen Zonen Syriens die
Funktion der Frau weiterhin die der verschleierten Gebärmaschine
ist. Es entmündigt auch die Frauen, die ihren Entschluss, sich
militant zu organisieren, neben der Verteidigung ihres Lebens und
ihrer Nächsten auch damit begründen, sich von der patriarchalischen
Verpflichtung auf die Reproduktionsfunktion zu befreien. Der Eid, den
sie sich schwören: „Frau – Leben – Freiheit“, sollte
unmissverständlich sein.
Die
penetrante Referenz auf Abdullah Öcalan als Vater des Gedankens an
Befreiung irritiert, dem Bild der nationalen Onkelfigur haftet selbst
etwas Patriarchales an. Doch ist der Führerkult um Abdullah Öcalan
dann noch am wenigstens befremdlich, wo sich konkret auf seine
Forderung berufen wird, dass Befreiung ohne Selbstbefreiung der
Frauen nicht zu denken ist. Und die Emanzipation geht über die in
der Milizkluft weit hinaus. Während im pseudo-säkularen Syrien
Bashar al-Assads die patriarchalische Despotie innerhalb der Familien
unberührt blieb, Polygamie und Zwangsverheiratungen von Kindern in
Berufung auf islamisches Recht legal waren, sind in der Föderation
Nordsyrien die Kinderehe, Zwangsheirat, männliche Vielehigkeit,
Brautpreis sowie familiäre Gewalt kriminalisiert. Frauenkommissionen
verfolgen diesbezügliche Verstöße. In den sunnitisch „befreiten“
Zonen Syriens herrscht die Shariah in ihrer ganzen Rohheit; der
Niqab, die Ganzkörperverschleierung, ist omnipräsent – in der
Föderation Nordsyrien ist dieser höchstens eine Ausnahme.
Galt Afrin
auch bevor die PYD im September 2012 den Distrikt unter ihre
Kontrolle brachte als relativ säkular, provoziert hier wie anderswo
in Nordsyrien die zentrale Parteiprogrammatik der Frauenbefreiung die
konservativsten unter den traditionellen Familien. In der jüngeren
Vergangenheit kursierten hin und wieder Gerüchte, die von der Partei
initiierten „Volksverteidigungseinheiten“, die Yekîneyên
Parastina Gel (YPG), würden junge Frauen ihren Familien abpressen.
Mit der Behauptung, ihre Tochter sei entführt worden, ummantelt
manch Familie die Schande, dass ihr Kind vor einer arrangierten
Heirat oder einem Leben als häusliche Arbeitsdrohne geflohen ist.
Noch in den ersten Tagen der revolutionären Umwälzung in Nordsyrien
waren sich die organisierenden Frauen bewusst, dass sie „am meisten
zu gewinnen – aber auch wieder zu verlieren“ haben.
Graffiti zum 8. März: „Frau - Leben - Freiheit“
Über die
Föderation und ihre zentralen Protagonisten kursieren viele Gerüchte
und Mythen. Unter Freunden der „Freien Syrischen Armee“
zirkulieren nach wie vor Dolchstoßlegenden. Ganz ohne sich der
Revolutionsromantik hinzugeben, waren die Gründertage der Föderation
Nordsyriens ein ebenso durchdachter wie brillanter Coup d'État, der
unzählige Menschenleben dem Zugriff der syrischen Hölle entzog und
ein Gemeinwesen etablierte, das angesichts des brutalen
Arabisierungsregimes der Hizb al-Ba'ath Versöhnung verspricht.
Als im späten
Juli 2012 das Regime Bashar al-Assads gezwungen war, seine
militärische Präsenz entlang der türkisch-syrischen Grenze in
Nordostsyrien stark auszudünnen, überrannten die Militanten der YPG
die verbliebenen Garnisonen in Kobanî, Dêrik, Tirbespî, Amudê
und Efrîn in wenigen Stunden oder Tagen. Anders als in den
sunnitisch „befreiten“ Zonen wurden die überwältigten Soldaten
nicht gelyncht oder ihnen ähnliche Torturen angetan, für die das
Regime berüchtigt ist. Die Beamten in den Elektrizitäts- und
Wasserwerken wurden im Amt gelassen und nicht durch eigene
Parteigänger ohne Qualifikation ersetzt. Die Insignien des Regimes
dagegen wurden konsequent entfernt, die berüchtigten Folterhöhlen
öffentlich zugänglich gemacht. Trotz der erzwungenen
Generalmobilisierung wurde nicht gezögert, die Despotie in der
Keimzelle der Kollektivbestie Staat, der patriarchalen Familie, zu
bekämpfen. Noch in jedem befreiten Dorf wurden Frauenzentren zur
Aufklärung und Selbstorganisation gegründet.
Noch im
selben Jahr attackierte die al-Nusra Front, die ursprüngliche
syrische Filiale von al-Qaida, sowie die mit der „Freien Syrischen
Armee“ affiliierte Ahfad al-Rasul Brigade, die „Brigade der Enkel
des Propheten“***, das grenznahe Serê Kaniyê (Ras al-Ayn). Das
Kalkül war es, auch den Nordosten Syriens in den Abgrund der
syrischen Hölle aus islamistischer Geiselnahme und der Rache des
Regimes in Form von explodierenden Fässern gefüllt mit Nägeln und
Metallsplittern zu reißen. Offen flankiert wurden die islamistischen
Aggressoren von der Türkei. Ende Juli 2013 drängte die YPG die
sunnitischen Militanten aus Serê Kaniyê hinaus.
Unzählige
Kader der PYD wurden seit der Parteigründung vom Regime verschleppt
und zu Tode gefoltert. Keine andere oppositionelle Organisation traf
in den letzten Jahren der syrischen Grabesruhe die Repression so
gnadenlos. Und doch blieb sie von Anbeginn an gegenüber
der militanten Opposition gegen das Regime Bashar al-Assads
distanziert. Aus guten Gründen – denn die fatalen Mechanismen der
Militarisierung des Konfliktes waren früh zu erkennen.
Stammesautoritäten, Imame, selbst ernannte Emire, desertierte
Militärs, gewiefte Start-up-Unternehmer, viele zuvor selbst in
Funktion für das Regime, heuerten in der ruralen Peripherie der
Städte junge sunnitische Männer an, die von dem Klientelregime
Bashar al-Assads ausgesperrt blieben und denen sowieso die
Zwangsrekrutierung durch die verhasste Zentralgewalt drohte. Mit
einem Miliznamen, der die Herrlichkeit des Islam preist, und dem
Versprechen, die ahl as-sunna, das „Volk der Tradition“, gegen
die Häretiker zu verteidigen, werben die Warlords in Qatar, Kuweit
und anderswo um Finanzierung. Vor allem die Kontrolle über
Grenzübergänge und Schmuggelkorridore zwischen den „befreiten“
Territorien versprechen enorme
Gewinnspannen. Die Brigade Asifat al-Shamal etwa – heute Teil der
al-Shamiyah Front und somit der türkischen Militärkampagne gegen
Afrin – wurde berüchtigt als die Schmuggelbande von Azaz. Die
Brigade Ahrar Souriya – Teile von ihr sind in der al-Shamiyah Front
aufgegangen – montierte in Aleppo ganze Fabrikanlagen ab und
verkaufte diese in die Türkei. Nicht anders das Regime. Die dem
Regime loyalen konfessionalistischen Rackets, von denen die Hezbollah
das berüchtigste ist, investieren erfolgreich in die
Entführungsindustrie.
In dieser
Hölle traf die PYD geduldig und umsichtig ihre Entscheidungen. Von
Beginn an kritisierte sie die Vereinnahmung der sunnitischen
Opposition gegen Bashar al-Assad durch die Türkei und Qatar. „Eine
Revolution kann nicht aus den Moscheen kommen“, so Hanife Hüseyin,
Mitglied der in der Föderation administrativen Parteienkoalition
TEV-DEM. Mit ihrer überlegten Strategie konnte sie dem Regime ein
weitflächiges Territorium entreißen – ohne dass dieses zur Ruine
geschliffen wurde. Als Kompromiss verblieb eine Präsenz des Regimes
im Gouvernement al-Hasakah, beschränkt auf die gleichnamige Stadt
und das Zentrum von Qamishlo. Dies als Kollaboration zu denunzieren,
hieße den Todespathos, den man gemeinhin unterstellt, einzufordern,
hieße auch Afrin und Qamishlo derselben Logik der Vernichtung wie
Homs und Aleppo zu unterwerfen.
Vor
allem über lokale Räte konsolidierten die Föderalisten die
befreiten Territorien. Im schleunigst niedergeschriebenen Contract
Social ist die Säkularität des Gemeinwesens benannt und werden
Kinderehe, Vielehigkeit und weibliche Genitalverstümmelung explizit
kriminalisiert. Zentraler Stützpfeiler der Föderation ist die
gegenseitige Solidarität derer, die ein sunnitisches Syrien nicht
weniger fürchten als das Regime Bashar al-Assads.**** Intensiv ist
der Verbund mit der „Syriakischen Partei der Einheit“, sie
vereint säkulare assyrische Christen aus der östlichen Region
Jazira. Der mit ihr affiliierte „Syriakische Militärrat“ (Mawtbo
Fulhoyo Suryoyo, MFS) hat in diesen Tagen ein Kontingent zur
Verteidigung nach Afrin entsandt.
Vor allem in Afrin und Sarrin, gelegen in der zentralen Region
Euphrat, tritt auch die multiethnische „Syrische
Nationale Allianz für Demokratie“ für
ein föderales Syrien ein. Ihrem Repräsentanten Ahmed Shawa
zuzuhören, ist explizit jenen empfohlen, die noch unschuldig von
„Rebellen“ daherreden, wenn es doch in Wahrheit islamistische
Warlords sind, und die die kurdischen Föderalisten beschuldigen, die
„Revolution“ verraten zu haben als würde ein Emir von Ahrar
al-Sham aus ihnen sprechen. Ahmed Shawa sieht sich wie seine Partei
in Tradition der ersten Massenproteste gegen das Regime Bashar
al-Assads im südsyrischen Daraa: „Mit wenigen Ausnahmen existiert
in Daraa keine Revolution, von der heute noch gesprochen werden
kann.“ Sie ist niedergegangen „in religiöser Radikalität“.
„Haben unsere Kritiker eine politische Unternehmung, ähnlich wie
in Afrin, die alle Menschen in Syrien vereint und religiöse
Radikalität ächtet? Wir bewegen uns nach und nach, wir haben
Schwierigkeiten gehabt, aber wir sind überzeugt, dass wenn das, was
wir in Afrin etablieren konnten, auf ganz Syrien übertragen wird,
wir einen Weg gefunden haben.“ Dies alles ist in diesen Tagen
bedroht.
Während
im Ankaraer Präsidentenpalast Erdoğans Ansprache mit der
türkisierten Shahada auf den Tod – „Schlacht, Jihad,
Märtyrertod“ – abgeschlossen wird,
ist dem Staatspräsidenten garantiert, dass er bei dem
Vernichtungsfeldzug gegen das Gröbste an Emanzipation in Syrien von
den Deutschen gedeckt wird. Den vor Versöhnungskitsch triefenden
Empfang von Mevlüt Çavuşoğlu im niedersächsischen Goslar zu
Beginn des Jahres – als die türkische Staatsfront tagtäglich
einen vernichtenden Schlag gegen die Abtrünnigen in Nordsyrien
angedroht hatte – und das ganz ungenierte Ausplaudern der deutschen
Unternehmung, die türkischen Panzergefährten technologisch
nachzurüsten, kann die türkische Staatsfront nicht anders
verstanden haben denn als Billigung ihrer Aggression. Es ist vor
allem auch deutsche Technologie von Rheinmetall, Krauss-Maffei, MTU
und Daimler, die auf Afrin zurollt.
Die
kurdischen Föderalisten und ihre Mitstreiter in Nordsyrien sind in
diesen Tagen die einzigen, die die Front des schiitischen Halbmondes
sowie die Front der Muslimbrüder daran hindern, Syrien noch
weitflächiger aufzuteilen. Die wesentlichen Entscheidungen fallen
nicht im eingeschlossenen Ost-Ghouta, wo einzig noch gestorben wird –
für den Profit der Schmuggelbanden, aber nicht mehr für
territoriale Gewinne. Strategische Entscheidungen fallen vielmehr an
der Grenze zum Irak: im östlichen Gouvernement Deir ez-Zor, wo die
Tiefpumpen aus der Erde ranken. Hier bremsen die Hêzên Sûriya
Demokratîk, die militärische Koalition der Föderalisten, in einem
taktischen Verbund mit den US-Amerikanern den Vormarsch des Regimes
aus.
Doch
Solidarität ist kein geostrategisches Kalkül. Die kurdischen,
arabischen, turkmenischen und assyrischen Föderalisten in Nordsyrien
haben mit den fatalsten Mechanismen der syrischen Katastrophe
gebrochen. Solidarität hieße konkret Parteinahme für jene, die die
feministischen Erfolge gegen die islamistischen Aggressoren
verteidigen: mit der YPG/YPJ, dem assyrischen MFS und seiner
Selbstverteidigungseinheit der Frauen namens Bethnahrain, sowie der
originären Freien Syrischen Armee von Jaysh al-Thuwar. Dies heißt
nicht, den Mythos Rojava zum Heilsversprechen zu erklären, wie es
dem internationalistischen Milieu eigen ist. Die Parteinahme für die
Föderation Nordsyrien kann nicht von der Zwiespältigkeit absehen,
die jeder Bewegung inhärent ist, die in Tradition Abdullah Öcalans
und seiner Genossen steht. Denn entgegen der absurden Beschuldigung,
eine stalinistische Diktatur zu etablieren, gibt es weder die reine
Lehre noch den Führerbefehl. Anders als bei türkischen Leninisten,
wo die ideologischen Grundpfeiler – der Hass auf Amerika, die
Verklärung des „palästinensischen Volkes“ und der Intifada, die
nationale Projektion – unerschütterlich zu sein scheinen, wird im
Dunstkreis jener, die sich mehr und weniger auf die Schriften Öcalans
berufen, über nahezu alles gestritten. Eine der häufigsten
Streitfragen streift die Relikte des ideologischen Erbes, welches das
der türkischen Leninisten ist. Wer dagegen den Verteidigern von
Afrin eine Blut und Boden-Ideologie unterstellt, weil sie von Afrin
als „Heimat“ sprechen, und ihnen Todesverfallenheit
diagnostiziert, weil sie ihre Gefallenen „şehîd“ rufen, übt
sich in Sprachpolitik und abstrahiert von der Realität der syrischen
Katastrophe, in der die kurdischen Föderalisten das Leben
verteidigen. Wilde Assoziationen mit jenen Jahren, als bei der PKK
zweifelsohne die befremdlichen Momente die emanzipatorischen unter sich begruben, verstellen den Blick dafür, was noch alles zu
verlieren ist.
* „Sadat“
ist die Pluralform von Seyyid, dem Ehrentitel für diejenigen, die
als Nachkommen Mohammeds und seines Enkels Husain gelten.
** Der
salafistische Milizenführer der Junud al-Sham dementierte dies
selbst und forderte auf, die Front gegen das Regime der „Rafida“
(salafistischer Slang für die schiitischen „Ablehner“ des
„ursprünglichen“ Islams) nicht weiter auszudünnen.
*** Der
Führer der Stammesmiliz, Nawaf Ragheb al-Bashir, schwört seit dem
Fall von Aleppo dem Regime die Treue.
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Natürlich sind sich die Menschen auch innerhalb der Föderation
nicht nur Freunde. Der Hauptteil der Anschuldigungen, die gegen die
PYD vorgebracht werden, kommt auch dem Dunstkreis der syrischen
Schwesterorganisation der vom Barzani-Clan dynastisch geführten
Partiya Demokrata Kurdistan (PDK) und dem von ihr kontrollierten
„Kurdischen Nationalrat“. Im nordirakischen Erbil, wo die PDK
autoritär herrscht, untersagt sie in diesen Tagen
Solidaritätsmärsche mit Afrin und bestraft Verstöße mit
gegossenem Blei. In Syrien paktieren Teile des Nationalrats
wiederholt mit der Türkei Erdoğans.
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