Sonntag, 10. Dezember 2023

Flugschrift: Notizen zum antijüdischen Furor in der Türkei

 

Wenn der faschistische Agitator von den Juden spricht, äußert er sich zuallererst über sich selbst. In der Dämonisierung Israels, dem Staat der Juden, spiegelt sich sein eigenes Wesen. Seine Empörung ist projizierte Aggression. Als Antizionist ist in ihm kein Staatskritiker verloren gegangen. Vielmehr leugnet er beharrlich, dass Israel überhaupt ein Staat ist. Israel ist dem Antizionisten eine illegitime Entität, ein Retortenprodukt oder ein bösartiges Geschwür. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan etwa raunte unlängst davon, dass Israel sich „wie eine Organisation und nicht wie ein Staat“ geriere. „Örgüt“, Organisation, ist in der türkischen Propaganda die Chiffre für die ewige Intrige gegen den erhabenen Staat unter blutroter Flagge. Ihre gnadenlose Ausrottung in Nordsyrien oder Bergkarabach etwa wird tagtäglich als nationale Existenzfrage beschworen.


Mit der Benennung „örgüt“ werden in der Propaganda gemeinhin die kurdischen Abtrünnigen am türkischen Staat denunziert, doch der Vorsitzende der Büyük Birlik Partisi, Mustafa Destici, kläfft in diesen Tagen, dass Israel die „unbarmherzigste“ und „mörderischste“ unter allen „terroristischen Organisationen“ sei. Für den faschistischen Idealisten, dessen „Partei der Großen Einheit“ Kleinkoalitionär in der türkischen Staatsfront ist, sind auch die Anrainer-Republiken der Griechen und Armenier keine wahren Staaten, vielmehr existieren sie als „Barriere- und Puppenstaaten“ einzig in dem imperialistischen Interesse, einen wahrhaften Staat, nämlich den türkischen, von allen Seiten einzuengen. „Die türkische Nation“, so der heulende Wolf, habe „den Willen und die Entschlossenheit – bei weiteren gefühlten Provokationen – die beiden Staatsattrappen „aus der Geografie zu eliminieren“.


Auch der Vorsitzende der Partei Hüda Par, Zekeriya Yapıcıoğlu, spricht davon, dass Israel „kein Staat“, vielmehr eine „terroristische Organisation“ sei. Seine Partei ist ebenso Kleinkoalitionär in der türkischen Staatsfront und das offiziöse Antlitz der kurdischen Hizbullah, die in den 1990er als Todesschwadrone berüchtigt war und angesichts ihrer Bestialität von vielen nur Hizbul Vahşet, „Partei der Gräuel“, gerufen wurde. In den vergangenen Jahren traten ihre Kader den Marsch in die Institutionen an. Nach Süleyman Soylu folge die Koalition der AKP mit der Hüda Par der „Staatsräson“, sie sei ein „strategischer Schritt“ zur „Wiederbelebung des Konservatismus“ in den kurdischen Provinzen. Wie diese Wiederbelebung aussieht, ist auf den tagtäglichen Parteiparaden zu beobachten, wo die Hüda Par Kinder als Abu Ubayda kostümiert, dem berüchtigten, mit der Kufiya vermummten Kader der al-Qassam-Brigaden. Die AKP-nahen Gazetten schwören indessen auf die Dringlichkeit der Judenfrage ein: „Die Juden“, so der namhafte Kolumnist Yusuf Kaplan in der Yeni Şafak, „haben keine Heimat. Sie haben nur einen Gott: Kapital/Geld.“ Mit ihrer „gierigen Mentalität“ hätten sie auch die Europäer korrumpiert. Der „perverse Glauben“ der Juden, titelt die Yeni Şafak am 8. Dezember, sei „ein Virus“, der ausgerottet werden müsse. In der Yeni Akit indessen ersieht Şevki Yılmaz ein baldiges Ende der „tyrannischen Juden und ihrer Kollaborateure“. Israel werde, so der Veteran der Millî Görüş in Vorfreude, „Staub sein“.


Die türkische Staatsfront der AKP ist ein Pakt rivalisierender Banden: Von der Hizbullah mit ihrer Vergangenheit als Todesschwadrone und ihrer Nähe zum khomeinistischen Iran, über die laizistische Vatan Partisi von Doğu Perinçek, der als geistiger Bruder von Aleksandr Dugin eine eurasische Achse mit der khomeinistischen Despotie und dem großrussischen Regime fordert, um das Ende der „atlantischen Ära“ zu erzwingen, bis hin zu den Parteien völkischer Idealisten, den Grauen Wölfen, zu denen sich die Granden der organisierten Kriminalität, wie Kürşat Yılmaz und Alaattin Çakıcı, bekennen. Sie verbrüdern sich einzig im Hass auf die Abtrünnigen.


Örgüt“ – das ist auch eine Chiffre dafür, dass in der Republik der Türken nahezu zwanghaft die Paranoia gekitzelt wird, existenziell bedroht zu sein. Eine Paranoia, die in der Schuld gründet, dass das Fundament des eigenen Staates der Genozid an den anatolischen Christen ist. Ein weiterer Kolumnist des AKP-nahen Boulevards, İbrahim Karagül, mahnt, dass es „dringend eilt“, die Konföderalisten in Syrien und Irak „auszurotten“. Ihre „Organisationen“ seien „der größte Trumpf“ von Israelis und US-Amerikanern. Mit ihnen drohe eine noch „viel größere Front in unserem Süden“. Im kurdischen Kobani, rumort es in der Mördergrube, existiere ein „Rekrutierungsbüro der israelischen Armee“. In der sich in der laizistischen Tradition Mustafa Kemals wähnenden Gazette Aydınlık erblickt Tevfik Kadan einen mysteriösen „David Korridor“, über den „das sogenannte ‚Kurdistan‘“ mit Israel vereinigt werden soll. Das Zentralorgan der Vatan Partei spekuliert, dass Israels Militärkampagne gegen Syrien ausgeweitet werde, um vom Golan in das syrische Deir ez-Zor vorzustoßen. Tevfik Kadan schlussfolgert, dass die türkische Militärstrategie einer Pufferzone in Nordsyrien sinnlos sei. Vielmehr müssen die konföderalistischen Organisationen „vernichtet“ werden. „Das wäre der größte Dienst“, so der laizistische Ultranationalist, „den wir Palästina ... und uns selbst tun könnten“.


Es ist ein Mitgliedstaat des Nordatlantikpakts, in dem sich Ismail Haniyya, Vorsitzender des Politbüros der Hamas, in seiner Istanbuler Residenz zum Dankgebet für das Pogrom am 7. Oktober niederkniet, und dessen Staatspräsident als Agitator eines globalisierten Milieus auftritt, aus dem heraus die islamofaschistische Konterrevolution in Afrin, Conflans-Sainte-Honorine oder Re'im zur Tat schreitet. Die Zuneigung der türkischen Staatsfront gilt seit einigen Jahren den Protagonisten jener dunklen Heilsideologie der „Todesindustrie“, für die sich die Hamas in Berufung auf eine gleichnamige Schrift des Muslimbruders Hassan al-Banna aus dem Jahre 1938 rühmt. Mit Ismail Haniyeh und Saleh al-Arouri reiste in den vergangenen Jahren die erste Garde der Organisation ein und aus und traf sich zu vertrauten Gesprächen mit dem Staatspräsidenten. Vor allem die berüchtigte İHH İnsani Yardım Vakfı, die unter der AKP auch die zuvor streng laizistischen Bildungsinstitutionen infiltrieren konnte, fungiert als Fundraiser für die Hamas.


Am 3. November begann die staatsnahe İHH unter Schlachtrufen wie „Ey, Qassam (Brigade) – wir sind mit euch bis zum Tod“ mit einem mehrtägigen Konvoi von İstanbul zur südtürkischen Garnison İncirlik, auf der neben der türkischen auch die 39. Einheit der US-amerikanischen Air Force stationiert ist. Für Bülent Yıldırım, Vorsitzender der İHH, und seine Freunde ist İncirlik ein „kleines Israel“. Sie beschwören eine drohende Invasion der US-Amerikaner. Während am späten Abend Antony Blinken in Ankara erwartet wurde, eskalierte in İncirlik die orchestrierte Raserei. Hunderte türkische Freunde der Qassam Brigaden durchbrachen die polizeilichen Absperrungen mit der Absicht, die Garnison einzunehmen. Die türkische Polizei hielt sie mit Kanistern an Reizgas davon ab. Mit den beschwichtigten Worten, dass „die Zeit für den Gihad noch kommen wird“, erklärte Bülent Yıldırım den Aufmarsch für beendet und versicherte allen Zweifelnden, dass „unser Präsident“ Erdoğan mit ihnen sei.


Islamistische Agitatoren außerhalb der Staatsfront, wie etwa Mahmut Kar von der Hizb ut-Tahrir, fordern den Marsch der türkischen Armee nach Jerusalem und beschuldigen Erdoğan der Heuchelei. Die Hizb ut-Tahrir, die Mustafa Kemals Erbe verachtet und das Kalifat herbeiruft, genießt in der türkischen Republik dennoch alle Freiheiten. Sie ermahnt und schmäht Erdoğan persönlich, wie es kein anderer Oppositioneller tun könnte, ohne Vergeltung fürchten zu müssen. „Die Ummah des Islams“, so die Hizb ut-Tahrir auf ihrer jüngsten Istanbuler Konferenz zur Judenfrage, könne auf militärische Technologie und „Millionen gläubiger Soldaten und junger Menschen, die sich nach dem Märtyrertod sehnen“, vertrauen. Es fehle ihr einzig an einer legitimen Führung, die den Befehlt zum Marsch erteile. Unverhohlen ruft die Hizb ut-Tahrir zur Auferstehung des Kalifats auf, denn einzig ein Kalif, so die Organisation, könne die Armeen nach Jerusalem führen, „um die jüdische Existenz auszurotten“.


Die türkische Republik war im Jahr 1948 der erste muslimische Staat, der Israel als souveränen Staat anerkannt hat. Über Dekaden war ihr Israel der nahezu einzige kontinuierlich seriöse Partner in der Region. Das erweckungsislamische Milieu der 1970er Jahre, dem Erdoğan entkrochen ist, indessen stand von ihren ersten Tagen an in der antizionistischen Tradition der Muslimbrüder. Die Juden personifizierten für sie, was sie als existenzielle Bedrohung verstanden: die Aufklärung, das Hereinbrechen einer krisenhaften Moderne, kommunistische Perversion und feministische Demolierung der Familie. Bei der Jugendorganisation der Akıncılar, wo der juvenile Erdoğan als karrierebewusster Agitator auftrat, war das Gerücht über „die Schändung“ der al-Aqsa-Moschee durch die „im Koran verfluchte jüdische Nation“ zentrales Moment ihrer Propaganda. Die islamische Jugend las Necip Fazıl Kısakürek, Idol Erdoğans und Vordenker eines „Islamischen Großen Osten“, der in seinen Schriften die liberalen und kommunistischen Gespenster der türkischen Modernisierungsdiktatur mit den wahnhaftesten antijüdischen Gerüchten exorzierte. Nicht viel anders als heute waren die sozialistischen Parteien auch in den 1970er Jahren Komplizen - und an manchen Tagen auch Avantgarde - des konterrevolutionären Hasses auf Israel. Der bis heute verehrte Mahir Çayan und dessen Volksbefreiungspartei-Front der Türkei (THKP-C) ermordeten am 17. Mai 1971 in Istanbul den israelischen Generalkonsul Ephraim Elrom.


In diesen Tagen erneuert Erdoğan seine Anschuldigung, dass sich Israel wie „eine Organisation“ verhalte, die Hamas dagegen sei „keine terroristische Organisation“. Vielmehr sei sie, so der türkische Staatspräsident, eine nationale Befreiungsbewegung. Wirkte Erdoğan in den ersten Tagen nach dem Massaker am 7. Oktober angesichts der Vielzahl an rivalisierenden antizionistischen Einpeitschern noch wie ein Getriebener, inszeniert er sich wieder als „der Reis“ unter den faschistischen Agitatoren. Auf der Istanbuler Massenchoreografie am 28. Oktober, zu der die türkische Staatsfront aufrief, drohte er Israel, dass „wir eines Nachts unerwartet kommen können“. Die Masse brüllte: „Hier ist die Armee, hier ist der Kommandeur“. Das antizionistische Geschrei verrät vor allem das eigene revanchistische Gelüste der nationalen Entgrenzung. So sprach Erdoğan am 28. Oktober unverhohlen davon, dass Gaza, Skopje, Thessaloniki, Mossul und Aleppo ihnen ebenso gehöre „wie unser Blut und unsere Seele“. Und natürlich raunte Erdoğan auch von den Dunkelmännern hinter den „erbärmlichen Terroristen“ in Nordsyrien. Sein antiimperialistischer Opfermythos ist projizierter Geltungsdrang, in Unschuld sich verhüllende imperiale Aggression.


Es war vor allem auch die europäische Gleichgültigkeit gegenüber der türkischen Vernichtungskampagne in Nordsyrien, die dem türkischen Regime die Gewissheit brachte, keinerlei Konsequenzen erwarten zu müssen. Als am 12. Oktober 2019 die syrische Kurdin Hevrîn Xelef auf dem Weg nach Rakka von einer Straßensperre einer islamistischen, mit der türkischen Staatsfront kollaborierenden Miliz überrascht wurde, diese Barbaren sie an den Haaren durch den Staub zerrten, auf sie einschlugen und sie schlussendlich hinrichteten, ganz so wie am 7. Oktober die Hamas Jüdinnen und Juden, besang die türkische Propaganda den bestialischen Mord als Triumph über den Feind. Hevrîn Xelef war bis zu ihrem Tode Generalsekretärin einer syrischen Partei, die im befreiten Rakka gegründet wurde, um die Idee eines säkularen und nicht-ethnizistischen Syrien zu verwirklichen. Die türkische Militärstrategie der systematischen Devastierung Nordsyriens, infolgedessen viele Menschen tagelang ohne Elektrizität und Wasser auszuharren gezwungen sind, verunmöglicht mehr und mehr das Leben in jener anti-islamistischen Bastion, an der zuvor noch der Islamische Staat gescheitert war. Ohne die pathische Indolenz Europas, dem völligen Desinteresse gegenüber der Katastrophe, dass etwa aus dem säkularen Afrin nach der türkischen Okkupation ein Territorium rivalisierender islamistischer Gangs wurde, unter der die syrische al-Qaida die berüchtigste ist, wäre die türkische Staatsbestie wahrscheinlich weniger ungezähmt. Indessen trottet in diesen Tagen Robert Habeck lustlos durch Ankara und mahnt „Reformbedarf“ im türkischen Justizwesen an, um europäischen Investoren mehr Sicherheit zu garantieren. Und Annalena Baerbock empfängt ihren türkischen Amtskollegen Hakan Fidan in Berlin zur ästhetisch inszenierten „Krisendiplomatie“.


Dass die blutrote Republik zur islamistischen Mördergrube wurde, ist für die türkische Staatsfront auch eine Investition in ihre internationale Geltung. Die Tagesschau etwa spricht von ihr als eventuellen „Gastgeber für Gespräche“ mit der Hamas. Doch auch wenn bei Bloomberg Opinion jüngst glauben gemacht wurde, dass Joseph Biden nur persönlich mit Erdoğan sprechen müsse, um zu einem Ende der „Gaza Krise“ zu kommen, sind es bislang einzig Katar und Ägypten die ihr Prestige als „Mediatoren“ erhöhen konnten.


So wahnhaft das Geraune der türkischen Staatsparanoia und so komplizenhaft die europäische und nordamerikanische Beschwichtigungspolitik auch ist, verrät beides doch vieles über die regionalen Konstellationen. Die laizistische Vatan Partei, deren Übervater Doğu Perinçek jüngst mit Kadern der Hamas vor dem Porträt Mustafa Kemals konferierte, spricht sich für eine eurasische Achse mit der Islamischen Republik Iran, dem großrussischen Regime und ihren Satelliten aus. Im syrischen Deir ez-Zor, dessen Territorien östlich des Euphrats mit der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien assoziiert sind, investiert das khomeinistische Regime seit längerem ausgiebig in Infiltrierung und Destabilisierung. In den vergangenen Tagen eskalierten in der Region die militanten Anfeindungen durch seine Proxy-Milizen.


Nur wenige Stunden nach dem Beginn der „al-Aqsa Flut“ wartete Ali Khamenei auf seiner mehrsprachigen X-Präsenz mit einer Sequenz vom Massaker von Re'im auf. Die vor den Todesschwadronen flüchtenden Festivalgäste bedachte der faschistische Jubelgreis mit dem freudigen Ausruf, dass das „Geschwür des zionistischen Usurpatorenregimes“ alsbald ausgerottet werde. Nur wenige Tage vor dem Massaker hatte Khamenei die muslimischen Staaten vor einer Annäherung an Israel eindringlich gewarnt. Der „Widerstand“ werde baldigst über Israel triumphieren. Es ist augenfällig, dass das Massaker vom 7. Oktober auch dem perfiden Kalkül folgte, die Annäherung zwischen Israel und den arabischen Staaten im Geiste der Abraham Accords zum Scheitern zu bringen.


Anders als in der türkischen Republik, wo in diesen Tagen die Lust am Gerücht über die Juden kollektiv ausagiert wird, ist das khomeinistische Regime im Iran an einer solchen Front der antizionistischen Raserei gnadenlos gescheitert. Während die khomeinistische Cyberarmee sich mit dem Massenandrang bei den antiisraelischen Aufmärschen in London, Paris, San Francisco oder Sydney rühmt, ähneln die vom Regime agitierten Anrottungen in Teheran oder anderswo im Iran einer trostlosen Geselligkeit von den noch verbliebenen Greisen der Islamischen Revolution. Als etwa mit Fars das Propagandaorgan der Wächterarmee der Islamischen Revolution vom antiisraelischen Massenaufmarsch am 11. November in London begeistert als der beeindruckendsten antiisraelischen Demonstration „mit mehr als einer Million Menschen“ sprach, spöttelten Iraner, dass in Teheran, der Kapitale der „Achse des Widerstandes“, nicht mehr als einige wenige Tausend Regimebüttel zu solchen Aufmärschen hinkämen.


Während im Iran also das Brüllvieh mehr und mehr dahinschwindet, sprechen sich viele prominente als auch weniger prominente Oppositionelle der iranischen Diaspora, wie etwa Masih Alinejad und Reza Pahlavi, explizit für Solidarität mit Israel aus. Einig sind sie sich darin, dass das khomeinistische Regime, wie es etwa Abdullah Mohtadi als Generalsekretär der kurdischen Partei Komala ausdrückt, das „Haupt der Schlange“ ist, die jeden Frieden verunmöglicht, und dass jede Beschwichtigung dem Regime gegenüber, nur die nächste Anhäufung von Trümmern heraufbeschwört. Denn ganz wie bei der fatalen Übernahme Afghanistans durch die Taliban im Jahr 2021 ist es nicht seine Popularität, worin die regionale Geltung des khomeinistischen Regimes gründet, es ist vielmehr seine ausdauernde Investition in Destabilisierung und Milizwesen. Ganz ähnlich wie der withdrawal aus Nordsyrien einer Absolution für jene türkische Staatsbestie gleich kam, die in diesen Tagen am hysterischsten heult, ist die Beschwichtigung gegenüber dem Regime, etwa die europäische Absage gegenüber der verzweifelten Forderung iranischer Revolutionäre, die Wächterarmee als terroristische Organisation zu kriminalisieren, eine Carte blanche für den Islamischen Staat im Geiste Ruhollah Khomeinis.


Während in diesen Tagen Osama Bin Laden post mortem zum TikTok-Influencer wurde und die Parteinahme für das antijüdische Pogrom an US-amerikanischen und europäischen Universitäten als fashionable gilt, assoziieren sich Iraner im Exil zu den entschlossensten Gegnern des sich demonstrierenden Vernichtungswillens. Und so sind es in London, Paris und anderswo vor allem auch Exil-Iraner, die sich mit Israel solidarisieren und der islamofaschistischen Rotte entgegentreten, im Wissen, dass der antiisraelische Wahn und die tugendterroristische Despotie, die im Iran jüngst die sechsjährige Armita Geravand ermordet hat, eins sind.


Der Antisemit verfällt nicht einem Trugschluss, er entscheidet sich in voller Überzeugung für eine Ideologie, die die Wahrheit verachtet und verächtlich macht. In der israelischen Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1948 werden „die in Israel lebenden Araber“ aufgerufen, „den Frieden zu wahren“ und bei „voller bürgerlicher Gleichberechtigung und entsprechender Vertretung in allen provisorischen und permanenten Organen des Staates“ an der Staatsgründung teilzuhaben. Den arabischen Staaten wird in der von David Ben-Gurion verlesenen Unabhängigkeitserklärung „die Hand zum Frieden“ gereicht. Die Antizionisten hassen Israel nicht für etwaige Staatsverbrechen, sie hassen es, weil es den Zionisten gelungen ist, einen Staat zu gründen, der freier und prosperierender ist als die finsteren Republiken arabischer Auferstehung von Nassers Ägypten bis hin zu den Staatsruinen der Baʿth-Regime. Anders als zuvor noch die osmanische Staatsbestie raubten die ersten Generationen jüdischer Pioniere keinen Boden. Sie kauften es über kollektive Fonds den arabischen Efendis ab, von denen viele zuvor auf Wertsteigerung brachliegenden Bodens spekuliert hatten. Diese jüdischen Pioniere, viele von ihnen Parteigänger sozialistischer Ideen, gründeten Musterdörfer, forsteten kahle Hügel auf, entsalzten Böden und trockneten Sümpfe aus, um die mörderische Malaria auszurotten. Sie unternahmen das, wozu der osmanische Staat zuvor nicht gewillt war: die Modernisierung der palästinensischen Urproduktion.


Das einzige feierliche Versprechen dagegen, welches die Parteien der arabischen Auferstehung machten, war die baldige Vernichtung Israels. Man erinnere sich nur daran, als wenige Stunden nach der israelischen Ungültigkeitserklärung am 14. Mai 1948 eine Allianz arabischer Armeen in den jüdischen Staat einmarschiert ist. Die arabischen Wortführer fabulierten von einem raschen Durchmarsch, der die Juden in das Meer und somit in den Tod drängen wird, während die Geistlichkeit der ehrwürdigen al-Azhar in Kairo und mit ihnen die Muslimbrüder die Vernichtung Israels zur heiligen Pflicht ernannten. Oder man erinnere sich an die Jubelmärsche in Kairo 1967 in den Vortagen des militärischen Debakels der ägyptischen Armee, als der Schlachtruf „Töte“ durch die Straßen dröhnte und siegesgewiss Judenpuppen stranguliert wurden. Von diesem Vernichtungswahn, der den eigenen Tod einkalkuliert, zeugt auch ein abgehörtes Telefongespräch vom 7. Oktober aus dem südisraelischen Kibbuz Mefalsim. Von dort rief einer der palästinensischen Pogromisten mit dem Telefon einer von ihm zuvor ermordeten Frau seine Familie in Gaza an, um ihr freudig mitzuteilen, Juden eigenhändig abgeschlachtet zu haben: „Papa, schaue auf mein WhatsApp und du siehst alle Getöteten. Schaue, wie viele ich mit meinen eigenen Händen getötet habe. Dein Sohn hat Juden getötet.“ Als sein Bruder ihn bittet, nach Gaza heimzukommen, erwidert der Pogromist irritiert: „Was meinst du mit ‚Heimkommen?‘ … Es ist entweder Tod oder Sieg. Schaue WhatsApp. Schaue dir die Toten an."


In Gaza wurden die Pogromisten frenetisch empfangen, junge Männer, manche noch Kinder, bespuckten die menschliche Beute, schlugen unter dem triumphalen Gebrüll „Allahu Akbar“ auf sie ein und bezeugten ihre Freude am Pogrom mit TikToks. Sie alle, die Mörder, das Brüllvieh, ihre stolzen Mütter als auch jene, die mit triumphaler Geste Lokum auf den Straßen von Gaza darboten, wussten, dass die Reaktion der israelischen Armee auf das Pogrom gewaltig sein wird. Berauscht durch die Sequenzen der Bodycams, mit denen die Hamas die Bestialität ihrer Mordbrennerei bezeugt, und ermutigt durch die Propaganda eines notorischen Größenwahns, ist dieses suizidale Mordkollektiv gleichgültig gegenüber dem eigenen Leben, solange es Freude dafür empfindet, den Tod über jene zu bringen, die das Leben nicht verachten. Wenn also der ranghohe Hamas-Kader Ghazi Hamad vom Libanon aus seinen „Stolz“ äußert, „Märtyrer zu opfern“ und weitere Pogrome prophezeit, bis Israel vernichtet sei, kann die antimilitaristische Forderung zur Stunde nur der Ruf nach einem Aufstand gegen diese Todesindustrie sein. Es wäre ein Aufstand aus purem Eigeninteresse am Leben. Während die sogenannte „pro-palästinensische Solidarität“ mit Slogans wie „From the River to the Sea“ den Wahn von Erlösung durch Judenmord reproduziert, werden jene Palästinenser totgeschwiegen, die in diesen Tagen die Hamas und ihre Finanziers dafür verfluchen, dass sie Trümmer und Tod über Gaza gebracht haben.


Allein gelassen sind seit jeher die Abtrünnigen der Todesindustrie. Am 24. November, dem ersten Tag der durch Ägypten und Qatar meditierten ceasefire, lynchte in Tulkarm eine Rotte aus hunderten Freunden der Qassam Brigaden zwei junge Männer, die der Kollaboration mit Israel beschuldigt wurden. Unter dem penetranten Gebrüll „Allahu Akbar“ wurden die Leichen, wie im Ritus, geschändet, durch den Staub geschleift und, als Drohung an alle anderen, an einem Stahlmast gefesselt. Am selben Tag wurden vor der Istanbuler Beyazıt-Moschee angesichts des Todes türkischer Volontäre bei den Qassam Brigaden im Südlibanon die „Gratulationswünsche“ der Hamas-Eminenz Ismail Haniyya an die Familien der Toten verlesen und frohmütig verkündet, dass „Israel im Blut der Märtyrer ertrinken“ werde. Der Name einer der beiden Märtyrer, Yakup E., wurde im Jahr 2011 aktenkundig, als die türkische Justiz noch nicht vollends ein Repressionsorgan der AKP war. Der in diesen Tagen als Vorkämpfer gepriesene Yakup E. galt der Justiz als ein ausgewiesener Kader der türkischen Filiale der khomeinistischen al-Quds Brigade.


Montag, 2. Januar 2023

Flugschrift zum aktuellen Stand der revolutionären Erhebung im Iran Teil II

 

Das Ideal der islamischen Familie umriss Ruhollah Khomeini als er im Jahr 1981 forderte, dass bei „konterrevolutionären Umtrieben“ Eltern ihre Kinder und Kinder ihre Eltern und Geschwister zu denunzieren hätten. Das Islamic Republic of Iran Broadcasting (IRIB) – mit dem ZDF und ARD jahrelang kooperiert haben – führte im selben Jahr den Idealtypus der islamischen Mutter vor: Im schwarzen Chador gehüllt sitzt die Frau ihrem Sohn gegenüber. Der junge Mann, dem als „gottloser Marxist“ die Hinrichtung droht, hält weinend ihre Hände, während sie in das Mikrofon spricht, dass er nicht länger ihr Sohn sei, wenn er sich der „Feindseligkeit gegenüber Allah“ schuldig gemacht habe. Die Khomeinisten hatten der Mutter zuvor zugesichert, dass ihr Sohn nicht hingerichtet werde, wenn sie an der Propagandainszenierung teilhabe. Entgegen dem Versprechen richtete das Regime Mahmud Tariqoleslami wenig später im Kashefi Garten von Isfahan doch hin – derselben Kulisse, vor der er verzweifelt die Hände seiner Mutter hielt. Ruhollah Khomeini pries den propagandistisch inszenierten Bund zwischen Mutter und Henker: „Ich will mehr solche Mütter sehen, die ihre Kinder aushändigen, ohne eine Träne zu verlieren. Das ist wahrer Islam“. Ali Khamenei erblickte darin eines der schönsten Epen des Islams.


In Wahrheit fürchtet das Regime die toten Körper der Ermordeten ebenso wie ihre Familien. Als am 12. Dezember in Mashhad Majidreza Rahnavard als „Feind Allahs“ gehängt wird, schreit eine Rotte an Angehörigen der Repressionsmaschinerie ein stumpfes Allahu Akbar in den Nachthimmel. In der Morgendämmerung verscharrt das Regime den Ermordeten schleunigst unter Staub, noch bevor die Familie von Majidreza über die Ausführung der Hinrichtung benachrichtigt wird. Um Trauerversammlungen zu verhindern, versperrt das Regime die Wege, die zum Haus der Familie führen. Um das Stillschweigen der Familie zu erzwingen, nimmt das Regime den Bruder von Majidreza und einen Onkel in Geiselhaft. Das ist die tagtägliche Routine eines Regimes, das die von ihm Ermordeten aus Leichenhäusern raubt, sie hastig verscharrt und die Trauernden mit mafiotischen Taktiken bedrängt.


Aus den frühen Tagen dieser islamofaschistischen Despotie mit der Fassade einer „Islamischen Republik“ ist bekannt, dass mit Mohammed Beheshti der höchste Richter Irans den Familien inhaftierter „Konterrevolutionäre“ hohe Geldsummen abpresste, die diese in der trügerischen Erwartung aufbrachten, die Hinrichtung ihrer Liebsten abzuwenden. Nach erbrachter Zahlung wurden die Regimefeinde dann doch hingerichtet. Dem „Spiegel“ (28/1981) zufolge verkauften die Emissäre von Beheshti in Hamburg zudem Teppiche, die zuvor geraubt wurden. In der Tageszeitung „Die Welt“ erschien in jenen Tagen ein Inserat, in dem kaiserliche Seidenteppiche mit einer Knotendichte von 1,2 Millionen pro Quadratmeter angeboten wurden. Inserent war Mohammed Beheshti höchstpersönlich.


Für sein Raub-Business, so der „Spiegel“, habe Beheshti mehrere Geldsummen in Millionenhöhe vom Finanzinstitut Melli auf dessen Filiale an der Hamburger Holzbrücke transferiert. Über das berüchtigte Islamische Zentrum an der Hamburger Schönen Aussicht sei die Beute auf das Konto eines deutschen Finanzinstituts eingezahlt wurden. Mohammed Beheshti war ausgesprochen vertraut mit der norddeutschen Stadt. Zwischen 1965 und 1970, als im Iran noch die Monarchie herrschte, stand Beheshti dem IZH vor, um von dort aus die revolutionären Ideen von Ruhollah Khomeini „unter den Muslimen Europas“ populär zu machen (so die Islamic Republic News Agency-IRNA). Als Hans-Dietrich Genscher im Jahr 1984 mit einem Tross aus deutschen Industriellen in den Iran reiste, suchte er das Grab des inzwischen verstorbenen Mohammad Beheshti mit einem Gedenkkranz auf.


Angesichts der traditionellen deutschen Kumpanei mit der islamofaschistischen Despotie Irans droht so manche Solidaritätsduselei in diesen Tagen mehr zu verschleiern als aufzuklären. Als da wäre etwa der Vorsitzende der SPD-Bundestagsclique, Rolf Mützenich, der noch vor einem halben Jahr für Flüssiggas aus dem Iran warb. In den Jahren zuvor vermochte Mützenich „einige Nuancen“ bei der khomeinistischen Katastrophenpolitik in Syrien zu erkennen und empörte sich über die Tötung des Schattengenerals Qasem Soleimani als Bruch des Völkerrechts. Mützenich reproduzierte dabei die Regimelüge und sprach von der „Einigkeit“ der Iraner im Verlangen nach Rache. Wenige Tage später – und geflissentlich ignoriert von Herrn Mützenich – hallten bei den PS752-Protesten die Slogans „Soleimani ist ein Mörder und sein Führer (Ali Khamenei) auch“ und „Das Regime sagt, Amerika ist unser Feind, aber es lügt, das Regime selbst ist unser Feind“ durch den Iran. In diesen Tagen indessen lugt auch Mützenich hervor, wenn seine Partei mit der Vereinnahmung des revolutionären Slogans „Frau, Leben, Freiheit“ reines Gewissen demonstriert.


Während etwa Omid Nouripour wie ein Motivationscoach aus seinen Parteifreunden den moralischen Größenwahn herauskitzelt, „keine Frau im Iran, keine Frau in der Ukraine, keine Frau in Afghanistan oder in Saudi-Arabien darf daran zweifeln, dass wir an ihrer Seite stehen“, sind die Frauen in Afghanistan, die in diesen Tagen von den Taliban aus den Universitäten geprügelt werden, genauso allein wie die kurdischen Feministinnen in Nordsyrien mit der türkischen Armee und ihrem islamistischen Frontvieh, denen das Auswärtige Amt in einer orwellschen Sprachverdrehung ein „Recht auf Selbstverteidigung“ zuspricht. Die Deutschen stehen den Frauen in ihrer zugleich aufdringlichen wie eitlen Selbstbespiegelung vielmehr auf den Füßen.


Es scheint ganz so, als haben die politisch-staatlichen Repräsentanten weder im Auswärtigen Amt noch im Kanzleramt die Absicht, dem Regime nachhaltig zu schaden. Das viel beschworene Signal an die islamofaschistische Despotie ist dementsprechend auch nicht die Sanktionierung einiger weniger Repräsentanten des Regimes, es ist vielmehr das jüngste Gespräch einer Delegation um den Beauftragten der Europäischen Union für Auswärtiges, Josep Borrell, mit seinem iranischen Amtskollegen, Hossein Amir-Abdollahian, in Amman. Dass in der Europäischen Union die „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“, mit der das Regime steht und fällt, weiterhin nicht als terroristisch sanktioniert ist, gründet nicht, wie ständig behauptet, in juristischen Schwierigkeiten. In Wahrheit wird in Berlin wie in Brüssel die Wette noch auf das Regime gemacht.



Revolutionsaufrufe aus dem November


Mehr als hundert Tage nach der Ermordung von Mahsa Amini ist es dem Regime mit Massakern, erzwungenem Verschwinden und Hinrichtungen nach wie vor nicht gelungen, die revolutionäre Erhebung niederzudrücken. Fehlt in diesen Tagen auch die Wucht, mit der noch am 17. November selbst unzählige Provinzstädtchen von den Revolutionsaufrufen erfasst wurden, vergeht doch kein Tag, an dem keine Molotowcocktails in Mullah-Seminare oder Repressionszentren der Basij-Miliz einschlagen, und in Teheran und anderswo aus Menschenansammlungen Slogans gerufen werden. Zum Jahresende erschallen über mehrere Tage in dem zentraliranischen Provinzstädtchen Semirom Slogans wie „Wir hassen deine Religion, verflucht sei deine Moral“, während die Revolutionäre in Najafabad in der Provinz Isfahan „Unser Geld ist im Libanon (bei der Hezbollah), unsere Jugend ist in Haft“ rufen. Im kleinen Semirom hatten zuvor zwischen den eingeschneiten Berghängen Tausende an der Trauerversammlung für den ermordeten Revolutionär Ali Abbasi teilgenommen. Auch auf dem Großen Bazar Teherans werden am Jahresende Slogans gerufen wie „Armut, Korruption, Inflation – wir schreiten voran zur Revolution“, während 40 Tage nach dem Massaker im kurdischen Javanrud die Revolutionäre die Straße der Kleinstadt verbarrikadieren und den Regimeschergen entgegenrufen „Kurden, Belutschen sind Geschwister – sie verfluchen den Führer (Ali Khamenei)“.