Mittwoch, 30. Oktober 2019

Flugschrift: Solidarität mit der irakischen Jugend gegen die Despotie der Shia-Milizen!


Ein junger Mann fragt die ihm Umstehenden:

Folgt ihr Asa'ib Ahl al-Haq (khomeinistische Shia-Miliz)?“
Die Umstehenden antworten:
Nein!“

Folgt ihr Muqtada al-Sadr (national-populistischer Shia-Kleriker und Milizführer)?
Nein!“

Folgt ihr den al-Hashd ash-Shaʿbi (Dachorganisation aller Shia-Milizen, auch rivalisierender wie die der Sadristen)?
Nein!“

Wer seid ihr dann?“
Iraker!“


Nach dem gnadenlosen Konter der mit dem khomeinistischen Iran assoziierten Shia-Milizen schien im Irak die Grabesruhe wieder gewahrt zu sein. Doch die irakischen Sozialrevolutionäre ruhten nicht. Unter Slogans wie: „Mit dem Kniefall vor den Mächtigen erhaltet ihr kein Brot“, riefen sie zum Generalstreik am 25. Oktober auf. Die Proteste wurden gewaltig: In Samawah im Gouvernement Muthanna wurde die Repräsentanz des Klerikers Ammar al-Hakim und seiner Partei der „Nationalen Weisheit“ niedergebrannt. Ammar al-Hakim gehört zu einer der mächtigsten Familien des schiitischen Klerus, er selbst war Vorsitzender des „Obersten Islamischen Rates im Irak“. Auch die Repräsentanz der erzkonservativen „Partei der Tugend“ von Mohammad Yaqoobi, der als einer der ranghöchsten Kleriker der irakischen Shia als „absolute Instanz der Nachahmung“ zu gelten hätte, traf der Zorn der Protestierenden. Selbst übergroße Banner mit dem Antlitz des verstorbenen Ayatollahs Mohammad Baqir al-Hakim, Gründer des „Obersten Islamischen Rates im Irak“, wurden unter der Freude der Umstehenden heruntergerissen.


Am verhasstesten sind den Protestierenden die mit dem khomeinistischen Iran assoziierten Shia-Milizen, die die gnadenlose Niederschlagung der Hungerrevolte verfolgen, während die regulären interkonfessionellen Armeeverbände nicht selten zwischen die Fronten geraten und nicht wenige der Soldaten mit den Protestierenden fraternisieren. Im südirakischen Nasiriyah wird die Repräsentanz der khomeinistischen Kata'ib Hezbollah niedergebrannt, genauso wie die der berüchtigten Shia-Milizen des Badr Korps, der Khorasani Brigade sowie der Asa'ib Ahl al-Haq von Qais al-Khazali, einer der zentralen Figuren der sektiererischen Gewalt der vergangenen Jahre. Einer der populärsten Slogans der Protestierenden ist „Heraus mit dem Iran, Baghdad wird frei sein“. Jene, die für ihre Korruption und ihr sektiererisches Unwesen kritisiert werden, kontern die Proteste mit entfesselter Gewalt: über 50 Tote an einem einzigen Tag.


Als Vorsitzender der Dachorganisation der Shia-Milizen macht Falih al-Fayadh aus seinem Herzen keine Mördergrube: „Wir werden uns rächen. Wir können niemanden dulden, der sich gegen den Irak verschwört.“ Die Drohungen werden ausgesprochen von einem Mann, der zum engsten Beraterstab des mächtigen „Nationalen Sicherheitsrates“ gehört. Die politische Shia, ihre Milizen und Förderer, also der khomeinistische Iran, haben zentrale Institutionen der „inneren Sicherheit“ des Iraks längst infiltriert. So habe etwa die Miliz Asa'ib Ahl al-Haq in Kooperation mit dem „Nationalen Sicherheitsrat“ den iranischen Dissidenten und Gründer des Telegram-Kanals „Amad News“, Ruhollah Zam, im Irak entführt und ihn an den khomeinistischen Iran ausgehändigt. Wahrlich existiert nirgends ein Protest der Massen, in dessen Schatten sich nicht auch die Rivalitäten konkurrierender Fraktionen im Staat äußern: im Irak ist es etwa die Revierfehde des sozialfaschistischen Klerikers Muqtada al-Sadr und seiner „Friedensbrigade“ – ursprünglich die berüchtigte Mahdi Armee – mit anderen Shia-Milizen. Darauf ist aber nur ein Bruchteil des Konfliktes herunterzubrechen.


Das Regime des Sunniten Saddam Hussein war unter seiner panarabischen Fassade ein konfessionalistisches. Der sektiererische Furor eskalierte im Irak indes nach dem Ende der Despotie der Hizb al-Ba'ath: die Kader der politischen Shia infiltrierten die Staatsapparate und vor allem die Repressionsorgane, die alsdann Todesschwadronen ähnelten; die irakische al-Qaida und später der „Islamische Staat“ rächten die Sunniten mit suizidalen Massakern und genozidalen Feldzügen. Heute ist es der schiitische Süden selbst, der sich gegen die Despotie der Shia-Milizen erhebt, während in Baghdad konfessionsübergreifend und Seite an Seite gegen die Verelendung als Folge einer perpetuierten Krise protestiert wird. Die Emanzipation der schiitischen Jugend vom Milizunwesen und der Shia-Variante eines „Islamischen Staates“ – der Titel einer frühen Schrift von Ruhollah Khomeini, die aus seinen Vorlesungen im irakischen Najaf besteht – ist eine direkte Bedrohung für die Islamische Republik Iran. Die zentralen Koordinaten der regionalen Expansionsstrategie des „schiitischen Halbmondes“ liegen im Irak und dem Libanon. Der Führer des mit dem khomeinistischen Iran assoziierten Badr Korps, Hadi Al-Amiri, spricht panisch von einer verschwörerischen „Aufwiegelung“ der Massen durch US-Amerikaner und Israelis.


Indessen protestieren auch Libanesen seit Tagen etwa in Beirut, Sidon oder Baalbek, wo seit jeher die Hezbollah herrscht, gegen Korruption und die Altherren konfessioneller Milizen und mafiotischer Clans. In Tripolis, eine Bastion des sunnitischen Hariri-Clans, werden Porträts des Ministerpräsidenten Saad Hariri heruntergerissen. Im südlibanesischen Nabatiyeh, wo vor allem Schiiten heimisch sind, demolieren Protestierende die Repräsentanz des Hezbollah-Veteranen Mohammed Raad. Parteigänger der Hezbollah sowie der Amal-Miliz drängten zunächst auf die Straße, um die Proteste mit ihrem antiisraelischen Furor zu infiltrieren oder um sie mit organisierten Provokationen in zermürbende Handgemenge zu nötigen. Auf ihre Präsenz folgten jedoch beständig körperliche Konfrontationen; auf ihr Gebrüll „Nasrallah ist ehrenwerter als sie alle“ folgte der Konter: „Alle von ihnen meint alle – Nasrallah ist einer von ihnen“. Währenddessen sprach Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hezbollah, als Suppenküchenpolitiker von begrüßenswerten Sozialreformen und raunte als faschistischer Agitator von verschwörerischen Dunkelmännern, die Chaos schüren.

Im Vergleich zum Irak ist der Fokus der Proteste noch verschwommen. Doch im Libanon wie im Irak ist es vor allem auch die aggressive Ermächtigung der Staatsapparate durch konfessionelle Rackets, die in das Zentrum der Kritik gerät. So fordern junge Liebespärchen etwa, die das Unglück traf, in verschiedene Konfessionen hineingeboren zu sein, die Zivilehe: „Wir wollen im Libanon heiraten, nicht auf Zypern“. Im libanesischen System der konfessionellen Parität haben Parteien der christlichen und muslimischen Konfessionen den Staat unter sich aufgeteilt. Ihre Macht gründet auch in der Exklusivität religiöser Trauung.

Am 13. Protesttag in Folge griff in Beirut eine Anrottung hunderter Hezbollah-Thugs und Parteigänger der Amal-Miliz unter dem Gebrüll „Allah, Nasrallah & Dahieh“* die Protestierenden an. Sie stürmte die Protestzelte, in denen tagelang gekocht und verpflegt wurde, verbrannte sie und schlug mit Metallstangen um sich. Kein Zweifel mehr, dass die Hezbollah im Libanon nicht nur „Staat im Staate“ ist, sie ist auch die organisierte Konterrevolution im Wartestand. Während im Beirut die Protestzelte wieder stehen, bleiben in Baghdad unzählige junge Männer und Frauen trotz einer verhängten Sperrstunde auf der Straße, tanzen, singen und inhalieren den Dampf ihrer Wasserpfeifen. Es ist nicht nur eine Hungerrevolte: In Baghdad befreit sich die Jugend auch von den tugendterroristischen Zwängen eines Regimes, das in den vergangenen Jahren Festivals und säkulare Festlichkeiten mehr und mehr verunmöglicht hat. Beeindruckend auch die Solidarität unter den Protestierenden und die Logistik auf der Straße: mobile Küchen oder etwa auch improvisierte Friseursalons ermöglichen es, tagelang auf den strategisch zentralen Plätzen auszuharren.

Alle Fotografien von Ziyad Matti (Baghdad, 25. - 29. Oktober)

Solidarität mit der irakischen Jugend gegen die Despotie der Shia-Milizen!


* Die Hezbollahis der ersten Stunde – unter ihnen auch Hassan Nasrallah – spalteten sich ursprünglich von der sozialfaschistischen Shia-Bewegung Amal ab. Unter dem Kommando der berüchtigten „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“, die Ruhollah Khomeini in das libanesische Baalbek abordnete, reorganisierten sie sich als „Partei Allahs“, die Hezbollah, die heute weitaus mächtiger ist als die ursprüngliche Amal-Bewegung. Dahieh ist ein Banlieue, in der südlichen Peripherie von Beirut, hier herrscht die Hezbollah. 

Dienstag, 15. Oktober 2019

Flugschrift in Gedenken an Hevrîn Xelef: Kein weiterer Meter der türkischen Aggression!



Hevrîn Xelef war am 12. Oktober auf dem Weg von Qamishlo nach Manbij, als sie auf dem M4-Highway von einer Todesschwadron der berüchtigten Miliz Ahrar al-Sharqiyah überrascht wurde. Die Milizionäre zerrten sie auf die Straße und richteten sie und ihre Entourage unter dem Gebrüll „Allahu Akbar“ hin. Die Bilder ihrer geschändeten Leiche kursieren seither als Snuff-Film. Wenige Stunden nach der Hinrichtung jubelte Yeni Şafak, eines der aggressivsten türkischen Propagandagazetten, triumphierend über eine „erfolgreiche Operation“, bei der die „Terroristin“ Hevrîn Xelef „neutralisiert“ wurde.

Die Feministin Hevrîn Xelef war bis zu ihrem Tode Generalsekretärin der syrischen Partei Hizbul Suri Müstakbel, die im März 2018 im vom „Islamischen Staat“ befreiten Rakka gegründet wurde, um die Idee eines säkularen und nicht-ethnizistischen Syrien zu vertreten. Der Parteivorsitzende ist mit Ibrahim al-Qaftan ein Veteran der syrischen Revolte gegen das al-Ba'ath-Regime. Er stand dem Revolutionsrat der im Jahr 2012 vom Regime befreiten Stadt Manbij vor, verließ diesen jedoch wenig später aufgrund der Korruption innerhalb der sunnitischen Opposition.

Hevrîn Xelef, ermordet am 13. Oktober 2019 

Wie in Afrin sind an der Spitze der türkischen Aggression auch in diesen Tagen die islamistischen Warlords der syrischen Katastrophe. Die Miliz Ahrar al-Sharqiyah, die umtriebig von den Frontverläufen der türkischen Militärkampagnen twittert, wurde im Jahr 2016 unter Beteiligung von Abu Mariyyah al-Qahtani, einem Veteran der irakischen al-Qaida, gegründet und rekrutierte in der Vergangenheit vor allem aus dem Gouvernement Deir ez-Zor geflüchtete Soldaten des gescheiterten Kalifats. Wie zuvor in Afrin ist die Miliz eines der umtriebigsten Frontkommandos der jüngsten türkischen Aggression. Aus ihren Reihen und denen der Sultan Murad Brigade – sie gilt seit längerem als präferierte Guerilla des MİT, dem türkischen Secret Service – war in den vergangenen Tagen der Slogan „baqiya“ zu hören, die Kurzform für „al-Dawla al-Islamiya baqiya“, was nichts anderes heißt als: „der Islamische Staat bleibt“. Nicht von ungefähr spricht Erdoğan von seiner Militärkoalition als „Armee des Propheten Mohammed“.

Der Mord an Hevrîn Xelef demonstriert, dass die Türkei in Nordsyrien nicht etwaige „legitime Sicherheitsinteressen“ (Nordatlantikpakt-Generalsekretär J. Stoltenberg) verfolgt. Die Türkei rächt sich dafür, dass sich in Nordsyrien trotz des verheerenden Erbes des „Islamischen Staates“ und des al-Ba'ath-Regimes und trotz der türkischen Totalisolation sich ein Gemeinwesen etabliert hat, in dem nicht Gangrivalitäten und die Entführungsmafia herrschen wie unter türkischer Okkupation. Die Föderation Nordsyrien wird nicht gehasst, weil sie etwa identisch ist mit „dem Berg“, eine gängige türkische Metapher für die PKK. Sie wird gehasst, weil sie durch ihre bloße Existenz die neo-osmanische Großraumpolitik tagtäglich provoziert. Von Beginn an kritisierten die Föderalisten die Vereinnahmung der sunnitischen Opposition durch die Türkei und Qatar. Und von Beginn an vermieden sie jede militärische Konfrontation, die nicht der Verteidigung des Erreichten oder der Befreiung vom Kalifat diente. Das Arabisierungsregime der al-Ba'ath hat jahrzehntelang Hass gesät, doch die Föderalisten haben ihn nicht geerntet. Sie konterten den arabischen Nationalchauvinismus, der sich in Entrechtung, Verfolgung und Folter tagtäglich konkretisierte, nicht durch eine nationalistische Gegenmobilisierung.

Die dezidiert säkulare Föderation Nordsyrien blockiert die türkische Großraumexpansion – und sie provoziert Neid und Rachegelüste. Während die Föderation – weit über die Parteigänger von Abdullah Öcalan und Murray Bookchin hinaus – für Kurden, Araber, assyrische und armenische Christen ein Versprechen auf bessere Tage ist, herrschen in jenen Teilen Syriens, in denen die Türkei ausgiebig investiert hat, eine misogyne Apartheid zwischen Frauen und Männern, brutale Gangrivalitäten, eine absurde Türkifizierung oder längst wieder das bleierne Regime aus al-Ba'ath, Hezbollah und russischer Militärpolizei.

Die imperialen Ambitionen der Türkei sind wahrlich kein Ausdruck innerer Stärke. Der Staat der Muslimbrüder realisiert vielmehr einzig noch Einheit in der Aggression gegen ein Drittes. Die Paranoia von der Teilung des Vaterlandes ist ein zentrales Moment türkischer Ideologie über sonstige Gesinnung hinweg; sie entspricht dem Zwang zur nationalen Homogenität in Ansehung der Krisenhaftigkeit der eigenen Staatlichkeit. Zugleich nährt sie sich von der Leugnung des Genozids an den anatolischen Armeniern als konstitutives Moment der Staatsgründung; Kehrseite der kollektiven Verdrängung sind permanente Selbstviktimisierung und pathische Projektion. Die Kurden, sobald sie sich der Staatsloyalität nicht hingeben, sind den Muslimbrüdern „Zoroastrier“, „Feueranbeter“ und „Atheisten“; den laizistischen Nationalchauvinisten sind sie archaische Untermenschen, willfährige Instrumente imperialistischer Intrigen. So überrascht es nicht, dass im Gleichklang der Prediger „Cübbeli“ Ahmet Hoca, jahrelang eine Spottfigur der Laizisten, von Allah eine „Armee von Engeln“ herabgesandt sieht, die der türkischen Armee gegen kurdische „Atheisten“ beikommt, die „Judendiener“ und zugleich eine tödliche „armenische Saat“ seien, und mit Beyazıt Karataş, ein pensionierter General und Stratege der strenglaizistischen Vatan Partisi droht, dass die türkische Armee 30 Kilometer in das nordsyrische Territorium vorrücken und alle „Schachfiguren“ der US-Amerikaner eliminieren wird. Im aggressiven Wahn sind sie eins. Einer der wenigen Antimilitaristen innerhalb der etablierten Parteien, Sezgin Tanrıkulu von der Cumhuriyet Halk Partisi, wird von der türkischen Rachejustiz verfolgt.

Es bedarf in diesen Tagen keine weiteren geostrategischen Analysen. Die Verantwortlichen in Nordsyrien haben alles gesagt. Vom Militärrat der christlichen Assyrer-Aramäer in Syrien, Mawtbo Fulhoyo Suryoyo (MFS), zum Kommandeur der Hêzên Sûriya Demokratîk (HSD/SDF), Mazlum Kobanê: sie alle bedauern Donald Trumps fatale Entscheidung des withdrawal als Geschenk an die russischen, iranischen und türkischen Großmeister der Rackets. 

The world first heard of us, the Syrian Democratic Forces (SDF), amid the chaos of our country’s civil war. I serve as our commander in chief. The SDF has 70,000 soldiers who have fought against jihadi extremism, ethnic hatred, and the oppression of women since 2015. They have become a very disciplined, professional fighting force. They never fired a single bullet toward Turkey.

We lost 11,000 soldiers, some of our best fighters and commanders, to rescue our people from this grave danger. The forces that I command are now dedicated to protecting one-third of Syria against an invasion by Turkey and its jihadi mercenaries. The area of Syria we defend has been a safe refuge for people who survived genocides and ethnic cleansings committed by Turkey against the Kurds, Syriacs, Assyrians, and Armenians during the last two centuries. We are now standing with our chests bare to face the Turkish knives.
Mazlum Kobanê, Kommandeur der SDF, am 13.10. 2019 in einem Gastbeitrag für Foreign Policy


Donnerstag, 10. Oktober 2019

Flugschrift zu Nordsyrien und dem Irak: Kein weiterer Meter den Aggressoren!



Dass ihre antiimperialistische Widerstandsrhetorik projizierte Aggression und ihre ureigene Staatspolitik die imperialistische Entgrenzung ihres terroristischen Apparates ist, daran lässt weder der faschistische Agitator Recep Tayyip Erdoğan noch irgendein klerikaler Einpeitscher der Islamischen Republik Iran den Hauch eines Zweifels: „Ihr sagt, dass die Drohnen (die am 14. September in saudische Raffinerien einschlugen) aus dem Norden und nicht aus dem Süden angeflogen kamen. Süden oder Norden – welchen Unterschied macht das? Der Iran ist in eurem Norden und er ist in eurem Süden“, drohte jüngst Ahmad Alamolhoda, der die wöchentliche Khutba-Predigt in der nordöstlichen Stadt Mashhad hält. „Der Iran ist nicht beschränkt auf seine geografischen Grenzen“, so der ranghohe Kleriker aus dem innersten Kreis der khomeinistischen Despotie. Die Islamische Republik Iran sei „die Hezbollah im Südlibanon“ als auch „die Hamas in Palästina“, sie sei die Houthi-Miliz im Jemen als auch die Shiah-Milizen in Syrien und dem Irak.

Wenige Tage später – die Gegenreaktion auf die Demonstration des terroristischen Potenzials der khomeinistischen Despotie blieb aus – massakrieren die Shiah-Milizen im Irak mehrere hundert vor allem junge Männer, die gegen Verelendung, die systematische Korruption und das Unwesen sektiererischer Rackets protestieren. Das Morden an jenen, die auch gegen die Entgrenzung der khomeinistischen Despotie auf der Straße ausharren, hält auch in diesen Stunden an – und das Auswärtige Amt als auch das State Department sitzen es weiterhin konsequent aus. Selbst die rituell vorgetragene Besorgtheit, die gebrechliche Fassade europäischer Humanität, blieb bislang aus.

Im südirakischen Nasiriyah etwa zerreißen Protestierende einen der übergoßen Banner der al-Fadhila, der klerikal-islamischen „Partei der Tugend“, mit dem Antlitz von Mohammad Yaqoobi, der als einer der ranghöchsten Kleriker der irakischen Shiah als „absolute Instanz der Nachahmung“ zu gelten hätte und in dessen wahngeschwängerten Schriften sich „Juden und Freimaurer“ gegen den Islam verschworen haben. In Karbala trifft es ein Banner mit dem Antlitz von Ali Khamenei unter den Rufen der Anwesenden, der khomeinistische Iran solle den Irak verlassen. In der Nacht werden die Zentren der Islamischen Dawa Partei sowie der Badr Brigade, einer militanten Agentur der khomeinistischen Despotie, niedergebrannt. Worin diese Massenproteste, die in Baghdad wie auch im Südirak ungebrochen andauern, enden, ist nach wie vor ungewiss. Dass an der Emanzipation der irakischen Jugend vom Milizunwesen und der Shiah-Variante des „Islamischen Staates“ niemand anderes Interesse äußert, ist eine Katastrophe, die weitere Trümmer anhäufen wird.

Indessen brachen auch im Iran – wenn auch begrenzt auf das kleine Lordegan – wütende Straßenproteste aus. In der dörflichen Peripherie von Lordegan haben sich mindestens 300 Menschen mit HIV infiziert, nachdem sie, so der Verdacht, mit kontaminierten Kanülen auf Diabetes geprüft wurden. Der Gesundheitsminister beschuldigt dagegen Heroinsüchtige und Menschen mit außerehelichem Sexualleben, ein Kapitalverbrechen im Iran. Wie selbstverständlich attackierten die Protestierenden das Büro des Imams der Khutba-Predigt und brannten es nieder. Und wie selbstverständlich riefen sie Slogans, die die aggressive Entgrenzung des khomeinistischen Regimes als ihr eigenes Unglück ausmachen: „Verlasst Syrien, kümmert euch um den Iran“ und „Weder Gaza (Hamas) noch der Libanon (Hezbollah), unser Leben dem Iran“.

Inzwischen überschattet eine Katastrophe die andere. „Ich habe nichts zu kritisieren“, konstatierte jüngst Horst Seehofer in Ankara neben seinem türkischen Amtskollegen Süleyman Soylu, einem faschistischen Bluthund, der an anderen Tagen Oppositionellen persönlich mit dem Tod droht. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan machte die Tage zuvor – etwa vor den „Vereinten Nationen“ – aus seinem Herzen keine Mördergrube und versprach mit der Einverleibung Nordsyriens auch ein Ende der Migrationskrise. Man erinnere sich: Auf den vor Versöhnungskitsch triefenden Empfang von Mevlüt Çavuşoğlu im niedersächsischen Goslar zu Beginn des Jahres 2018 folgte die terroristische Okkupation von Afrin, wo heute Shariah-Gangs und Devastation herrschen. „Zunächst werden wir die Wurzeln der Terroristen abtöten, dann werden wir Afrin wieder lebenswert machen. Für wen? Für die 3,5 Millionen Syrer, die wir in unserem Land bewirten“, erklärte Recep Tayyip Erdoğan in den Vortagen des Militäreinmarsches.

Dass Vladimir Putin seine schützende Hand einzig über Afrin entfaltet hat, um dieses dann später den Wölfen zum Fraß vorwerfen zu können, hätte jeder wissen müssen, der sich nicht über diesen Großmeister der Rackets täuscht. Bei Donald Trump dagegen war bis zuletzt noch zu hoffen, dass er auf jene US-amerikanischen Politiker hört – etwa auf einen der namhaften republikanischen Senatoren wie Lindsey Graham –, die davon überzeugt sind, dass die US-amerikanische Militärpräsenz in Nordsyrien eine relativ kostengünstige Investition in die Absicherung eines säkularen Gemeinwesens ist, in dem der Hass auf Amerika nicht zur nationalen Formierung beiträgt. Die bloße physische Präsenz weniger US-amerikanischer Soldaten schreckte das türkische Regime Grüner Wölfe davor ab, nach Afrin sich auch weitere Teile Nordsyriens zu krallen. Drüber hinaus grenzte die bislang erfolgreiche US-amerikanische Militärkooperation mit dem föderalen Nordsyrien die iranische wie auch russische Infiltration Syriens ein. Verhöhnend twitterte dagegen Trump von den 50 Soldaten, die er aus der Grenzregion zwischen Tell Abyad und Serê Kaniyê abzog. Eine andauernde Präsenz dieser 50 Soldaten würde weder Löcher in das US-amerikanische Militäretat reißen noch würde sie das Leben dieser jungen US-Amerikaner riskieren. Alle getwitterten Argumente von Trump sind vor allem eins: eine perfide Lüge, hinter der sich die Kumpanei mit der Türkei Erdoğans tarnt.

Der Armeeverband der syrischen Föderalisten, die Syrian Democratic Forces (SDF), hat vor Wochen unter US-amerikanischer Aufsicht strategische Verteidigungspositionen in der Grenzregion abgetragen, um das „Security Mechanism Framework“ auszuführen und koordinierte Grenzpatrouillen mit US-amerikanischem und türkischem Militär zu ermöglichen. Sie vertrauten darauf, dass eine andauernde US-amerikanische Präsenz die türkische Armee und ihr islamistisches Frontvieh davon abhält einzumarschieren. Die Wahrheit ist, Trump ist mit seinem pazifistischen Geraune ganz Europäer: Er bedient jene, die am aggressivsten brüllen, und überlässt die Region den Großmeistern der Rackets – ganz so wie im Irak. Während jedoch unter deutschen Politikern das Geraune vor einer „weiteren Destabilisierung und Verkomplizierung“ das Höchste an Gefühlen ist, spricht sich eine Vielzahl an US-amerikanischen Senatoren für die Verteidigung Nordsyriens aus moralischer Verpflichtung und ureigenem strategischen Interesse aus.

Marschiert und sagt den Ungläubigen, dass die Armee Mohammeds zurück ist“, skandiert die türkische Gazette Yeni Akit, während simultan die den Islam skeptisch beäugende Vatan Partisi, die „Partei des Vaterlandes“, hinter der Förderation Nordsyrien eine US-amerikanisch-israelische Intrige wittert. In diesen Tagen schließen sich die Reihen. Wird gegen die Abtrünnigen marschiert, existieren in der Türkei keine Parteien mehr und so fraternisiert auch die strenglaizistische Cumhuriyet Halk Partisi – mit wenigen Ausnahmen – mit den Aggressoren. Das türkische Propagandaspektakel – von CNN Türk über die Moscheen der Diyanet – lässt sich höchstens noch in den Begriffen der Psychopathologie beschreiben. Vergeblich wäre da die Hoffnung, dass hohe Verluste innerhalb der türkischen Armee die Freude am Tod anderer dämpft.

Ihre ökonomische Unterlegenheit gleichen die Türkei der Grünen Wölfe und die khomeinistische Despotie durch die aggressive Verfolgung ihrer strategischen Agenden aus. Und doch bleibt ihnen die Krise eingebrannt. Die gnadenlose und zugleich panikartige Reaktion auf die Massenproteste im Irak ist vielsagend. In diesem Sinne: Solidarität mit den Protesten gegen Verelendung und Milizwesen im Irak! Kein weiterer Meter der türkischen Armee, Solidarität mit den Föderalisten Rojavas!

Freitag, 4. Oktober 2019

Flugschrift: Aufruf zur Solidarität mit den Protestierenden im Irak



Wir sind weder Getreue von Muqtada al-Sadr noch von Ayatollah Ali al-Sistani,
wir sind weder Sunniten noch Schiiten, wir sind Iraker!
Aus welchem Grund tötest du uns? Mein täglicher Lohn besteht aus 8 Dollar, wir wollen leben!“
Ein Protestierender auf Baghdads Straßen, 3. Oktober 2019

Der heutige Iran besteht nicht nur aus dem Iran“, so jüngst der ranghohe Kleriker Ahmad Alamolhoda, der die wöchentliche Khutba-Predigt in der nordöstlichen Stadt Mashhad zu verantworten hat. „Der Iran ist nicht beschränkt auf seine geografischen Grenzen“, so der Agitator in traditioneller Robbe. „Die Milizen der al-Hashd ash-Shaʿabi im Irak, die Hezbollah im Libanon, die Ansar Allah im Jemen, die nationale Front in Syrien, der Islamische Jihad und die Hamas in Palästina sind Iran. Sie alle sind Iran geworden. Der Sayyid des Widerstandes (gemeint ist Hassan Nasrallah, Führer der Hezbollah) hat erklärt, dass der Widerstand in der Region einen Imam hat und dass dieser Imam der ehrwürdige Führer der Islamischen Revolution im Iran (Ali Khamenei) ist“.

Der Vorsitzende des berüchtigten Teheraner Revolutionsgerichts, Musa Ghazanfarabadi, sprach unlängst offen aus, dass jene libanesischen und irakischen, afghanischen und pakistanischen Shiah-Milizen der „Achse des Widerstandes“ die Verteidigung der „Islamischen Revolution“ im Iran übernehmen, sobald die „inneren Kräfte“ darin zu scheitern drohen. In die iranischen Krisenprovinzen Khuzestan und Lorestan, beide in jüngerer Vergangenheit Zentren von Straßenprotesten, sind unlängst Teile der Shiah-Milizen aus Syrien und dem Irak eingedrungen. Die Agenda der khomeinistischen Despotie ist die Entgrenzung ihres terroristischen Apparats und jedes Business erleichtert es ihr, die Realisierung ihrer mörderischen Aggressionsstrategie in Syrien und anderswo zu finanzieren.

Die Jugend im Iran – das weiß auch der Khutba-Prediger – ist für die „Islamische Revolution“ längst verloren. Langjährige Haftstrafen und tagtägliche Repression zögern einzig noch die fortschreitende Erosion des khomeinistischen Staates mit der Fratze einer Republik hinaus. Erfolgreicher rekrutierte bislang die khomeinistische Despotie ihr Märtyrermaterial zwischen den Trümmern der regionalen Katastrophen, an deren Fortschreiten sie wesentlich beiträgt: in Syrien, dem Jemen oder dem Irak etwa. Die reguläre irakische Staatsarmee etwa ist nicht viel mehr als die überkonfessionelle Fassade des Unwesens sektiererischer Milizen unter direkter Kontrolle der khomeinistischen Despotie – und das längst vor der Degradierung des Generalleutnants Abdul-Wahab al-Saadi, einem Kritiker konfessionalistischer Milizen und der Korruption innerhalb der militärischen Verbände, wenige Tage vor dem Ausbruch der jüngsten Massenproteste.

Es wäre fatal verfehlt, die irakische Katastrophe einzig auf die iranische Infiltration herunterzubrechen. Die Saat zur Konfessionalisierung wurde noch unter Saddam Hussein ausgestreut; die Racketisierung des Staatsapparates hat zweifelsohne parteiübergreifenden Charakter. Und doch ist es der khomeinistische Iran, der mit seiner aggressiven Expansionsstrategie den Irak noch tiefer in die Abgründe der Krise reißt. Die südirakische Region um al-Basrah etwa, gelegen am irakisch-iranischen Grenzfluss Shatt al-Arab, ist eine der ressourcenreichsten, weit über den Irak hinaus. Doch nirgendwo anders leben die Menschen im Irak elendiger als im dunklen Schatten der Tiefpumpen, die aus der Erde ragen. Für das Funktionieren der Erdölförderung sind die Massen an jungen Männern längst überschüssiger Menschenmüll. Die Milizen dagegen werben mit den Zutritt zu einem den Märytrertod preisenden Männerbund.

Es ist das entscheidende revolutionäre Moment der jüngst ausgebrochenen Massenproteste in Baghdad und den südirakischen Provinzen, dass die Protestierenden auf der Straße die katastrophale Infiltrierung des Iraks durch die khomeinistische Despotie mit ihrem Unwesen der Milizen als den entscheidenden Beschleuniger von Racketisierung und Verelendung erkannt haben und sich selbst der Vereinnahmung verweigern. Wie bei den Protesten im vergangenen Jahr werden auch in diesen Stunden wieder die Rekrutierungszentren der Shiah-Milizen wie Asa'ib Ahl al-Haq oder Kata'ib Hezbollah niedergebrannt und Slogans gegen die Einverleibung des Iraks durch die khomeinistische Despotie gerufen. Die Protestierenden bestehen vor allem aus jenen jungen Männern, die die Shiah-Milizen als ihr Märtyrermaterial identifiziert haben, aber auch einige junge Frauen treten selbstbewusst bei den Straßenprotesten auf.

Währenddessen scheint sich inzwischen die Annahme zu bewahrheiten, dass der iranische Generalmajor Qasem Soleimani – der die Qods-Pasdaran befehligt, also jene staatseigene Guerilla der „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“, die dem Expansionsauftrag weit über die geografischen Grenzen des Irans hinaus verpflichtet ist – als Schattenkommandeur über die mörderische Niederschlagung der Proteste wacht. Trotzt dieser permanenten Eskalationsstrategie – oder gerade deswegen – bleibt der khomeinistische Iran dem deutschen Friedhofsverwalter der Sargnagel, an dem er sich mit seinem Fetisch von der „regionalen Stabilität“ krallt. So trafen sich am 19. und 20. August Regimeschergen mit der deutschen Prominenz aus Auswärtigem Amt und Finanzaufsicht im Berliner Maritim Hotel zum „Banking und Business Forum Iran Europe“. Als einen „Akt europäischer Souveränität“ charakterisiert unlängst das Auswärtige Amt im Handschlag mit den französischen und britischen Amtskollegen jenes europäische Clearingsystem Instex, das das weitere Business mit dem Iran garantieren soll. Amtsherr Heiko Maas gesteht durchaus ein, dass der als schicksalhaft verteidigte Vertrag eine iranische Erpressung – Reduzierung der Urananreicherung gegen Business – ist. Doch gerade im „kritischen Dialog“ mit der khomeinistischen Bestie wähnen sich die Europäer als moralisch integer, als „ehrlicher Makler“, der kultursensibel die in Blei gegossene Grabesruhe achte, während die US-amerikanische Konkurrenz die nächste (in Wahrheit doch längst eingetretene) Eskalation herauf provoziere.

Auf den Straßenprotesten im Iran selbst wurde in jüngerer Vergangenheit wieder und wieder der militärische Abzug aus Syrien und ein Ende der Finanzierung der libanesischen Hezbollah und der palästinensischen Hamas gefordert. Während der wochenlangen Arbeiterproteste in der Provinz Khuzestan riefen sie vor den Filialen der Nationalbank Melli sowie der Saderat – die in die Finanzierung der Hezbollah, Hamas und des Palästinensischen Islamischen Jihads involviert sind – Slogans wie „Mutter der Korruption, hier bist du, hier bist du“, „Sie zahlen die Löhne nicht und rufen Tod für Amerika, aber wir wissen, unser Feind ist hier“ und „Tod der Mafia“. Im Berliner Maritim Hotel dagegen war auch die hiesige Direktion der Bank Melli geladen. Gegen einige der streikenden Arbeiter und ihren Freunden aus der Provinz Khuzestan verhängten die berüchtigten Revolutionsgerichte inzwischen langjährige Haftstrafen: Esmail Bakhshi (14 Jahre Haft), Sepideh Qoliyan, Amirhossein Mohammadifard, Asal Mohammad, Sanaz Allahyari, Amir Amirgholi (alle jeweils 18 Jahre Haft) und Mohammad Khonifar (sechs Jahre Haft).

In Indonesien protestierten vor wenigen Tagen Zehntausende gegen eine Strafrechtsreform, die das Verbot außerehelicher Intimität diktiert und zugleich die Ahndung von Korruption zu verunmöglichen droht. Im Sudan erzwangen Massenproteste das Ende von Omar al-Bashir. Viele der Frauen, die an den Straßenprotesten einen hohen Anteil hatten, forderten ausdrücklich ein Ende der organisierten misogynen Verfolgung. Selbst in der Beton-Diktatur in Ägypten kam es jüngst wieder zu Protesten. Es ist längst nicht entschieden, dass die Meister der Krise und Konterrevolution auch die nächsten Siege davontragen werden.

Solidarität mit den Straßenprotesten in Baghdad wie Basra:
für einen freien und säkularen Irak!