Ein
junger Mann fragt die ihm Umstehenden:
„Folgt
ihr Asa'ib Ahl al-Haq (khomeinistische Shia-Miliz)?“
Die
Umstehenden antworten:
„Nein!“
„Folgt
ihr Muqtada al-Sadr (national-populistischer Shia-Kleriker und
Milizführer)?
„Nein!“
Folgt
ihr den al-Hashd ash-Shaʿbi (Dachorganisation aller Shia-Milizen,
auch rivalisierender wie die der Sadristen)?
„Nein!“
„Wer
seid ihr dann?“
„Iraker!“
Nach dem
gnadenlosen Konter der mit dem khomeinistischen Iran assoziierten
Shia-Milizen schien im Irak die Grabesruhe wieder gewahrt zu sein.
Doch die irakischen Sozialrevolutionäre ruhten nicht. Unter Slogans
wie: „Mit dem Kniefall vor den Mächtigen erhaltet ihr kein Brot“,
riefen sie zum Generalstreik am 25. Oktober auf. Die Proteste wurden
gewaltig: In Samawah im Gouvernement Muthanna wurde die Repräsentanz
des Klerikers Ammar al-Hakim und seiner Partei der „Nationalen
Weisheit“ niedergebrannt. Ammar al-Hakim gehört zu einer der
mächtigsten Familien des schiitischen Klerus, er selbst war
Vorsitzender des „Obersten Islamischen Rates im Irak“. Auch die
Repräsentanz der erzkonservativen „Partei der Tugend“ von
Mohammad Yaqoobi, der als einer der ranghöchsten Kleriker der
irakischen Shia als „absolute Instanz der Nachahmung“ zu gelten
hätte, traf der Zorn der Protestierenden. Selbst übergroße Banner
mit dem Antlitz des verstorbenen Ayatollahs Mohammad Baqir al-Hakim,
Gründer des „Obersten Islamischen Rates im Irak“, wurden unter
der Freude der Umstehenden heruntergerissen.
Am
verhasstesten sind den Protestierenden die mit dem khomeinistischen
Iran assoziierten Shia-Milizen, die die gnadenlose Niederschlagung
der Hungerrevolte verfolgen, während die regulären
interkonfessionellen Armeeverbände nicht selten zwischen die Fronten
geraten und nicht wenige der Soldaten mit den Protestierenden
fraternisieren. Im südirakischen Nasiriyah wird die Repräsentanz
der khomeinistischen Kata'ib Hezbollah niedergebrannt, genauso wie
die der berüchtigten Shia-Milizen des Badr Korps, der Khorasani
Brigade sowie der Asa'ib Ahl al-Haq von Qais al-Khazali, einer der
zentralen Figuren der sektiererischen Gewalt der vergangenen Jahre.
Einer der populärsten Slogans der Protestierenden ist „Heraus mit
dem Iran, Baghdad wird frei sein“. Jene, die für ihre Korruption
und ihr sektiererisches Unwesen kritisiert werden, kontern die
Proteste mit entfesselter Gewalt: über 50 Tote an einem einzigen
Tag.
Als
Vorsitzender der Dachorganisation der Shia-Milizen macht Falih
al-Fayadh aus seinem Herzen keine Mördergrube: „Wir werden uns
rächen. Wir können niemanden dulden, der sich gegen den Irak
verschwört.“ Die Drohungen werden ausgesprochen von einem Mann,
der zum engsten Beraterstab des mächtigen „Nationalen
Sicherheitsrates“ gehört. Die politische Shia, ihre Milizen und
Förderer, also der khomeinistische Iran, haben zentrale
Institutionen der „inneren Sicherheit“ des Iraks längst
infiltriert. So habe etwa die Miliz Asa'ib Ahl al-Haq in Kooperation
mit dem „Nationalen Sicherheitsrat“ den iranischen Dissidenten
und Gründer des Telegram-Kanals „Amad News“, Ruhollah Zam, im
Irak entführt und ihn an den khomeinistischen Iran ausgehändigt.
Wahrlich existiert nirgends ein Protest der Massen, in dessen
Schatten sich nicht auch die Rivalitäten konkurrierender Fraktionen
im Staat äußern: im Irak ist es etwa die Revierfehde des
sozialfaschistischen Klerikers Muqtada al-Sadr und seiner
„Friedensbrigade“ – ursprünglich die berüchtigte Mahdi Armee
– mit anderen Shia-Milizen. Darauf ist aber nur ein Bruchteil des
Konfliktes herunterzubrechen.
Das Regime
des Sunniten Saddam Hussein war unter seiner panarabischen Fassade
ein konfessionalistisches. Der sektiererische Furor eskalierte im
Irak indes nach dem Ende der Despotie der Hizb al-Ba'ath: die Kader
der politischen Shia infiltrierten die Staatsapparate und vor allem
die Repressionsorgane, die alsdann Todesschwadronen ähnelten; die
irakische al-Qaida und später der „Islamische Staat“ rächten
die Sunniten mit suizidalen Massakern und genozidalen Feldzügen.
Heute ist es der schiitische Süden selbst, der sich gegen die
Despotie der Shia-Milizen erhebt, während in Baghdad
konfessionsübergreifend und Seite an Seite gegen die Verelendung als
Folge einer perpetuierten Krise protestiert wird. Die Emanzipation
der schiitischen Jugend vom Milizunwesen und der Shia-Variante eines
„Islamischen Staates“ – der Titel einer frühen Schrift von
Ruhollah Khomeini, die aus seinen Vorlesungen im irakischen Najaf
besteht – ist eine direkte Bedrohung für die Islamische Republik
Iran. Die zentralen Koordinaten der regionalen Expansionsstrategie
des „schiitischen Halbmondes“ liegen im Irak und dem Libanon. Der
Führer des mit dem khomeinistischen Iran assoziierten Badr Korps,
Hadi Al-Amiri, spricht panisch von einer verschwörerischen
„Aufwiegelung“ der Massen durch US-Amerikaner und Israelis.
Indessen
protestieren auch Libanesen seit Tagen etwa in Beirut, Sidon oder
Baalbek, wo seit jeher die Hezbollah herrscht, gegen Korruption und
die Altherren konfessioneller Milizen und mafiotischer Clans. In
Tripolis, eine Bastion des sunnitischen Hariri-Clans, werden Porträts
des Ministerpräsidenten Saad Hariri heruntergerissen. Im
südlibanesischen Nabatiyeh, wo vor allem Schiiten heimisch sind,
demolieren Protestierende die Repräsentanz des Hezbollah-Veteranen
Mohammed Raad. Parteigänger der Hezbollah sowie der Amal-Miliz
drängten zunächst auf die Straße, um die Proteste mit ihrem
antiisraelischen Furor zu infiltrieren oder um sie mit organisierten
Provokationen in zermürbende Handgemenge zu nötigen. Auf ihre
Präsenz folgten jedoch beständig körperliche Konfrontationen; auf
ihr Gebrüll „Nasrallah ist ehrenwerter als sie alle“ folgte der
Konter: „Alle von ihnen meint alle – Nasrallah ist einer von
ihnen“. Währenddessen sprach Hassan Nasrallah, der Generalsekretär
der Hezbollah, als Suppenküchenpolitiker von begrüßenswerten
Sozialreformen und raunte als faschistischer Agitator von
verschwörerischen Dunkelmännern, die Chaos schüren.
Im Vergleich
zum Irak ist der Fokus der Proteste noch verschwommen. Doch im
Libanon wie im Irak ist es vor allem auch die aggressive Ermächtigung
der Staatsapparate durch konfessionelle Rackets, die in das Zentrum
der Kritik gerät. So fordern junge Liebespärchen etwa, die das
Unglück traf, in verschiedene Konfessionen hineingeboren zu sein,
die Zivilehe: „Wir wollen im Libanon heiraten, nicht auf Zypern“.
Im libanesischen System der konfessionellen Parität haben Parteien
der christlichen und muslimischen Konfessionen den Staat unter sich
aufgeteilt. Ihre Macht gründet auch in der Exklusivität religiöser
Trauung.
Am 13.
Protesttag in Folge griff in Beirut eine Anrottung hunderter
Hezbollah-Thugs und Parteigänger der Amal-Miliz unter dem Gebrüll
„Allah, Nasrallah & Dahieh“* die Protestierenden an. Sie
stürmte die Protestzelte, in denen tagelang gekocht und verpflegt
wurde, verbrannte sie und schlug mit Metallstangen um sich. Kein
Zweifel mehr, dass die Hezbollah im Libanon nicht nur „Staat im
Staate“ ist, sie ist auch die organisierte Konterrevolution im
Wartestand. Während im Beirut die Protestzelte wieder stehen,
bleiben in Baghdad unzählige junge Männer und Frauen trotz einer
verhängten Sperrstunde auf der Straße, tanzen, singen und
inhalieren den Dampf ihrer Wasserpfeifen. Es ist nicht nur eine
Hungerrevolte: In Baghdad befreit sich die Jugend auch von den
tugendterroristischen Zwängen eines Regimes, das in den vergangenen
Jahren Festivals und säkulare Festlichkeiten mehr und mehr
verunmöglicht hat. Beeindruckend auch die Solidarität unter den
Protestierenden und die Logistik auf der Straße: mobile Küchen oder
etwa auch improvisierte Friseursalons ermöglichen es, tagelang auf
den strategisch zentralen Plätzen auszuharren.
Alle
Fotografien von Ziyad Matti (Baghdad, 25. - 29. Oktober)
Solidarität
mit der irakischen Jugend gegen die Despotie der Shia-Milizen!
* Die
Hezbollahis der ersten Stunde – unter ihnen auch Hassan Nasrallah –
spalteten sich ursprünglich von der sozialfaschistischen
Shia-Bewegung Amal ab. Unter dem Kommando der berüchtigten „Armee
der Wächter der Islamischen Revolution“, die Ruhollah Khomeini in
das libanesische Baalbek abordnete, reorganisierten sie sich als
„Partei Allahs“, die Hezbollah, die heute weitaus mächtiger ist
als die ursprüngliche Amal-Bewegung. Dahieh ist ein Banlieue, in der
südlichen Peripherie von Beirut, hier herrscht die Hezbollah.