Nachdem
Erdoğan am 7. Juni wieder in Istanbul eintraf – die Tage zuvor
verbrachte er im Maghreb – begrüßte ihn ein auf einige
zehntausend Menschen angeschwollenes Brüllvieh mit einem penetranten
„Beuge dich nicht. Diese Nation ist mit dir“. Erdoğan, der noch
in Marokko äußere Kräfte für die Geschehnisse in der Türkei
verantwortlich machte, markierte nun die halluzinierten Dunkelmänner
hinter den Protesten als perfide „Zins-Lobby“ (faiz lobisi), die
es auf „des Volkes Schweiß“ abgesehen hätte: „Wenn der
Generaldirektor einer Bank sagt, er sei auf der Seite dieser
Plünderer, dann werden sie uns als ihre Gegner vorfinden. Sie werden
uns vorfinden.“ (1) Es dauerte nicht lange und es kursierten die
ersten Boykottaufrufe gegen jene „Zins-Lobby“, die in Trailern
und ähnlichem assoziiert wird mit der Schändung der türkischen
Flagge sowie der Dolmabahçe-Moschee, die durch Protestierende zum
Lazarett umfunktioniert worden ist. Auf der Straße macht sich das
Brüllvieh seine eigenen Gedanken: „Sie sind Juden geworden. Sie
sind Armenier geworden. Sie sind Plünderer geworden. Sie waren nie
Kinder des Vaterlandes“, hieß es etwa in Ankara. Am 12. Juni
konkretisierte Erdoğan selbst, wenn er meinen könnte: „Diejenigen,
denen wir sagten ''One Minute', freuen sich nun.“ (2) Erdoğan
hatte im Jahr 2009 im schweizerischen Davos hysterisch eine weitere
Minute eingefordert, um den anwesenden Shimon Perez vorzuhalten, dass
Töten eine jüdische Spezialität sei. Nachdem Erdoğan mit dem
Ägypter Amr Moussa bereits 34 Minuten gegen Israel gehetzt hatte
(Perez blieben 20 Minuten, um zu antworten) und aus der weiteren
herausgeschlagenen Minute drei geworden waren, stand Erdoğan abrupt
auf, drückte die Hand des Generalsekretärs der Arabischen Liga und
verließ die Debatte. Wieder in Istanbul angekommen, wurde er von
seinem Brüllvieh als „Eroberer von Davos“ begrüßt.
Als Erdoğan
bei seiner Begrüßung am 7. Juni der Name des Gezi Parks über die
Lippen ging, begann das Brüllvieh zu buhen. Dieses letzte Grün, das
nicht den Islam meint, scheint ihm und seinem Brüllvieh so verhasst
zu sein, weil die Menschen sich dort noch ein wenig Müßiggang
gönnen können, weil „des Volkes Schweiß“ heißt, auf die Knie
zu fallen und zu beten, zu buckeln und mindestens drei weitere
Arbeitskraftdrohnen zu gebären. Folglich bittet das Brüllvieh im
Chor um den Befehl Erdoğans, Taksim einnehmen zu dürfen. Ende des
vergangenen Jahres hatte Erdoğan in Konya die Gebärfunktion der
muslimischen Jugend angemahnt „Ihr werdet heiraten. Ihr werdet die
Generation von 1071 heranziehen.“ Jede Familie solle mindestens
drei Kinder beitragen. „Es sollten mehr als drei sein, nicht
weniger“, so Erdoğan (3). In Taksim und anderswo finden sich viele
Graffiti, die sich auf die Disziplinierung - etwa über die
schleichende Kriminalisierung des Trinkens - und Funktionalisierung
der Menschen als Arbeitskraftdrohnen und Gebärautomaten beziehen:
Wie „Mindestens drei Biere“ oder „Wollt ihr immer noch drei
Kinder von uns?“.
Was so
manchem zunächst wie ein “Istanbul 21” erschien, ist viel mehr
eine Eskalation der schleichenden Islamisierung - und ebenso die
Hoffnung, dem noch etwas zu entgegnen. Nach der Eskalation der
Proteste gegen die Betonierung des letzten Grün in Taksim (Beyoğlu),
dem Gezi Park, der für eine der Fassade der osmanischen Halil Paşa
Topçu-Kaserne nachempfundene Shopping Mall weichen soll, drohte
Erdoğan mit einer Moschee am Taksim Meydanı. Er müsse dazu keine
Plünderer fragen, das Volk habe ihn befugt, so Erdoğan (4). Es ist
als würde den Menschen kein anderes Grün mehr gegönnt werden als
das des Islam. Entweder wird mit „Volkes Schweiß“ dazu
beigetragen, das BIP zum Profit wie Prestige des Muslimbrüder-Regimes
am köcheln zu halten, oder aber – vor allem auch für jene, die
von der Prosperität ausgesperrt bleiben – gebetet und gehetzt.
Istanbuls Beyoğlu ist für Erdoğan und seine Muslimbrüder eine
einzige Provokation, weil sich dort alles trifft, was in den 76
Millionen nicht aufzugehen vermag: lebenshungrige Menschen, die für
keine Märtyrerflotille nach Gazzah zu rekrutieren sind, Homo- und
Transsexuelle, Feministinnen und Kosmopoliten, laizistische
Intellektuelle und Anarchisten, die nur noch wenigen Christen und
Juden Istanbuls sowie Reisende, die sich für den Trubel in engen
Gassen und Höfen mehr interessieren als für die Blaue Moschee.
Allein die vielen kleinen Cafés sind ein stiller Protest gegen die
sexuelle Apartheid, die anderswo herrscht. Ja – in diesem Beyoğlu
begann auch die politische Karriere Erdoğans. Im nah gelegenen
Kasımpaşa wuchs er auf, hier stand er der Jugendorganisation der
Milli Nizam Partisi vor, der ersten Milli Görüş-Partei Necmettin
Erbakans. Den Sündenpfuhl Beyoğlu aber konnte Erdoğan bis heute
nicht austrocknen.
Es scheint
als hätte bei Erdoğan alles Symbolkraft. Er ist ja nicht der erste,
der eine Moschee am Taksim Meydanı, diesem Symbol der laizistischen
Republik, angedroht hat. Es war Necmettin Erbakan, Erdoğans
Ziehvater, der als Ministerpräsident mit einer Moschee am Taksim
Meydanı geliebäugelt und somit das Militär provoziert hat. Am 15.
Juni mobilisierte Erdoğan sein Brüllvieh nach Sincan, unweit von
Ankara, wo er bereits am 9. Juni davon sprach, dass 'heute' nicht der
27. Februar 1997 sei, der Tag des sog. samtigen Coups gegen Erbakans
Refah Partisi (5). Nach Sincan hatte am 30. Januar 1997 auch die RP
geladen, vereint mit der Ankaraer Filiale der Islamischen Republik
Iran zum khomeinistischen al-Quds-Tag. Als Reaktion fuhr in der
ersten Hälfte des Februars das Militär in Sincan auf und lancierte
ein Memorandum, in welchem Erbakan bei weiteren antilaizistischen
Bestrebungen mit Konsequenzen gedroht wurde. Am 18. Juni 1997 sah
Erbakan sich gezwungen, als Ministerpräsident abzutreten. Heute, wo
das Militär auf eine Funktion heruntergebracht zu sein scheint (6),
kann Erdoğans Stellvertreter Bülent Arınç Kritikern der
Islamisierung mit dem Militär drohen, ohne auch nur eine verbale
Distanzierung der Generalität zu riskieren (7).
Die
Beschwörung Erdoğans, Diener von 76 Millionen Brüdern und
Schwestern zu sein, allein das Wort „Demokratie“ im Mund
Erdoğans, ist eine einzige große Drohung an jeden, der noch
irgendwie als Individuum leben will, an jede Differenz, die sich
nicht fügt. Noch schlugen die Getreuen Erdoğans, auf
Eigeninitiative oder Kommando, nur vereinzelt zu und wenn ja, unter
'regulierendem' Zugriff der Polizei, in Izmir und Adana etwa, in Rize
und Konya. In ihrem orchestrierten Gebrülle aber - „Istanbul ist
hier, wo sind die Plünderer?“, „Wer auf Polizisten schlägt, dem
sollen die Hände brechen“ und „Allahu Akbar“ sowieso - drängt
sich die Erinnerung an Sivas 1993 unweigerlich auf.
Nicht nur die
Blutspuren, die die Revolten und deren Konter in Ägypten, Syrien und
anderswo nach sich ziehen, erzwingen es, über das Gröbste zu
sprechen, womit eine Einkehr der Grabesstille drohen könnte. Einige
Tage bevor der Protest in Taksim eskalierte, fanden sich in Ankara
einige hundert Menschen zusammen. Pärchen und Freunde, Hetero- wie
Homosexuelle, küssten sich demonstrativ gegen den Moralterror.
Jugendliche Muslimbrüder, die sich dadurch provoziert fühlten,
riefen: “Auch wenn unser Blut fließt, der Sieg dem Islam”.
Später lauerten sie einigen der sich Küssenden auf und hinterließen
blutende Schnittwunden. Erdoğan muss wissen, was es für
Konsequenzen haben kann, wenn er die Protestierenden denunziert,
Moscheen zu schänden (8), seine “Töchter und Schwestern”
physisch zu bedrängen und “keinen Respekt vor dem Glauben” zu
haben. Er wird wissen, was es in blutigster Konsequenz heißen
könnte, wenn auf die Gerüchte ein “Allahu Akbar”-Chor folgt.
Seit Tagen kursiert auf Facebook und anderswo Material, auf dem
Moscheeschänder und andere identifiziert werden. Am 16. Juni,
Erdoğan hatte wenige Stunden zuvor nach Istanbul-Zeytinburnu
mobilisiert, zogen einige hundert Männer “Ya Allah Bismillah”
und “Recep Tayyip Erdoğan” brüllend durch die Straßen Beyoğlus
und attackierten vereinzelte Regimekritiker mit Hölzern - ohne dass
die anwesende Polizei dazwischengegangen ist. In Istanbul mögen die
Säkularen die Gewalt der Verhetzten militant erwidern können –
was aber droht noch den alleingelassenen Aleviten und Säkularen in
den frommen Provinzen Zentral- und Ostanatoliens, in Erzincan oder
Sivas etwa, in Malatya oder Kahramanmaraş, falls der Konflikt sich
noch hinausziehen sollte?
Im Jahr 1993
provozierte im zentralanatolischen Sivas die Anwesenheit
genussfreudiger Aleviten, libertärer Intellektueller und vor allem
die des Atheisten Aziz Nesin die religiösen Gefühle frommer
Muslime. Nesin, der in seiner Jugend von seinem Vater durch die
Mühlen von Moschee und Kaserne getrieben worden war, hatte es noch
nach Khomeinis Todesdekret aus dem Jahr 1989 gewagt, Auszüge der
Satanischen Verse von Salman Rushdie auf Türkisch zu publizieren.
Als für die ersten Julitage 1993 Nesin und andere sich zu einem
alevitischen Kulturfestival in Sivas aufmachten (der kemalistische
Gouverneur von Sivas lud dazu ein), schnaubte der Vorsitzende des
Stadtrates und Funktionär der Refah Partisi, Temel Karamollaoğlu,
Nesin sei ein Abtrünniger, seine Anwesenheit eine Provokation
gegenüber jedem Muslimen. In den kursierenden Flugblättern wurde
alsdann der Djihad gegen die Gavur, die Ungläubigen, und den „Satan
Aziz“ ausgerufen. Der 2. Juli 1993 - einen Tag zuvor hatte Aziz
Nesin noch die Authentizität des Qur'an und die Autorität Muhammad
angezweifelt - fiel auf den Beginn des Wochenendes, den Tag der
Khutba, der dem Pflichtgebet vorangehenden Predigt. Nachdem die
Gläubigen auf die Knie gegangen waren, richteten sie sich zum Töten
wieder auf. Etwa15.000 Menschen rotteten sich zusammen und zogen
unter Rufen wie „Wir sind die Soldaten Mohammeds“, „Die
laizistische Republik erstand in Sivas, in Sivas wird sie gestürzt“
und „Wir wollen die Shariah“ dorthin, wo Aziz Nesin und andere
Festivalgäste Logis gefunden hatten. Temel Karamollaoğlu sprach
währenddessen zu dem Klientel seiner Partei und hetzte es weiter
auf. Die islamischen Kopfgeldjäger - Khomeini datierte den Tod
Salman Rushdies auf eine Million Dollar (9) - kesselten über acht
Stunden das Hotel Madimak ein bis einige der Pogromisten in das Hotel
eindrangen. Es dauerte nicht lange und schwarzer Qualm quälte sich
durch alle Ritzen. Jene, die ein Entkommen suchten, wurden mit
Hölzern und anderem wieder in die Todesbrunst geprügelt. Flüchtende
Frauen wurden mit einem „Verbrennt, ihr Huren“ begrüßt und
wieder in die Hölle abgedrängt, der sie zu entkommen flehten. 37
Menschen starben, unter den Toten die kulturelle Avantgarde der den
Muslimbrüdern verhassten Aleviten: Muhlis Akarsu und Hasret
Gültekin, Behçet Aysan und Metin Altıok, Asaf Koçak und Asım
Bezirci. Cafer Erçakmak, Funktionär der Refah-Partei in Sivas, rief
dem flüchtenden Aziz Nesin noch entgegen „Da ist der Satan, den
wir töten sollten“. Doch Nesin und einige andere entkamen dem Tod
- der Rachedurst der Frommen war auch so gestillt, das Gebrüll wich
dem Gejohle - „Müslüman Türkiye“ (muslimische Türkei) -
angesichts der um sich schlagenden Flammen.
Der Aufmarsch
der zum Mord Entschlossenen, das Stillhalten des anwesenden Militärs
und das alibihafte Schubsen einiger weniger durch die Polizei, wurden
Minute für Minute dokumentiert. Kaum einer der Pogromisten verhüllte
sein Antlitz – sie zweifelten nicht daran, Diener der Nation zu
sein. Die im Hotel Ausharrenden kontaktierten Ankara – doch nichts
geschah. Die Politik schwieg – und fühlte sich in die Ideologie
und den Blutdurst derer ein, die am hysterischsten brüllten.
Necmettin Erbakan zufolge sei es nur so weit gekommen, da nicht näher
genannte Elemente „unhöflich über den Glauben der Nation
gesprochen“ hätten. Staatsminister Mehmet Gazioğlu von der Doğru
Yol Partisi, die zweieinhalb Jahre nach dem Pogrom mit der Refah
koalieren sollte, hatte noch in der Nacht zum Samstag davon
gesprochen, Nesin hätte die Menschen in Sivas aufgebracht. Und der
über die Vorgänge aufgeklärte Staatspräsident Süleyman Demirel
soll noch während des Pogroms das Auseinanderprügeln der zum Mord
Entschlossenen von sich gewiesen haben. Er wolle doch nicht das Volk
gegen die Staatsapparate aufbringen. Trauernde Aleviten und Säkulare,
die sich nach dem Pogrom in Izmir und anderswo zusammenfanden,
prügelte die Polizei dagegen innerhalb weniger Minuten auseinander
(10). Auch das Militär schwieg – mit dem Kalkül, mit den Toten
einen Coup gegen die Refah legitimieren zu können, sobald diese
ihnen selbst bedrohlich werden könnte.
Einige
Pogromisten wurden dann doch noch inhaftiert und der Justiz
zugeführt. Vertreten wurden sie von niemand geringerem als Şevket
Kazan, ein Funktionär der Refah Partisi, der zweieinhalb Jahre nach
Sivas Justizminister werden sollte und noch heute in der Saadet
Partisi ausharrt. Sie hätten in „seelischer Aufwallung“
gehandelt, die Ermordeten hätten sie provoziert. Im Jahr 1997 waren
dann noch 21 Pogromisten inhaftiert, gegen andere wie Cafer Erçakmak
lagen Haftbefehle vor, die ohne Konsequenzen blieben. Erçakmak, der
Bluthund der Refah Partisi, verstarb im Juli 2011 – er verblieb bis
zu seinem Tod in Sivas. Neun weitere Pogromisten leben bis heute im
deutschen Exil. Mit dem knausrigen Kommentar „Für unsere Nation
soll es segenbringend sein“ versah Erdoğan im März 2012 die
Entscheidung des 11. Strafgerichtshofs in Ankara, die Morde seien nun
verjährt, die Haftbefehle gegen noch flüchtige Pogromisten
aufgehoben (11). Als der renommierte Komponist Fazıl Say ein Requiem
für Metin Altıok, einem in Sivas ermordeten Lyriker, inszenieren
wollte, grätschte das Kultusministerium dazwischen. „Wir wollen
nicht daran erinnert werden“ - folglich wurde Say gezwungen, das
Ende des Requiems, in welchem mit Bildmaterial von dem Pogrom an die
Ermordeten erinnern werden sollte, zu stutzen.
Nachdem Say
in einem Gespräch mit der SZ die Überlegung geäußert hat,
angesichts der mehr und mehr zu spürenden Islamisierung die Türkei
zu verlassen - „...wir (die Säkularen) sind 30 Prozent, die sind
70“ - trat Mehmet Fırat, AKP-Mann der ersten Stunde, nach: Say
solle ja nicht glauben, er sei so viel wert wie fünf andere Türken
(12). Exakt darin ruht das ideologische wie kalkulierte Moment des
Beharrens der Muslimbrüder auf die Demokratie, die Menschen sind
ihnen Zahlen, folglich ist ihnen alles eine Bedrohung, was nicht in
den 76 Millionen aufgeht. Fazıl Say, den die drohende Enge für sich
und seine Liebsten umtreibt, ist noch darin viel mehr
materialistischer Ideologiekritiker als die inzwischen in Taksim
zusammengekommenen Gralshüter der Volkssouveränität. Sie sprechen
vom Volk (halk) und rufen die Volksfront (halk cephesi) aus - als
hätte es in Sivas nie gebrannt. Volk ist nur ein anderer Name für
das abstrakt Allgemeine, in dessen Gottesdienst die konkreten
Menschen auf ihre Funktionalität heruntergebrochen werden. Wie
synthetisiert sich denn eine Sozietät, die auf den gegenseitigen
Ausschluss vom opferlosen Genuss der sinnlichen Dinge ruht? Wie ist
diese kapitalisierte Sozietät als Ganzes zu denken, wo doch ihre
Insassen nur durch den Zwang, ihr Begehren in die Wertform zu
transkribieren, aufeinander bezogen sind? Wie kommt diesen
zwangspsychiatrierten Insassen auch noch eine nationale Identität
zu, wo der Vereinzelte formell mit allen gleich ist und doch darin
durch alle anderen verüberflüssigt wird? Ihre nationale Identität
ist ein Abstraktum, das nur durch die Gewalt des Souveräns
konkretisiert werden kann – eben so wie der Wert einer Ware durchs
Geld, dem allgemeinen Äquivalent. Die Reduktion der Individuen auf
die Funktionalität fürs Kapital einerseits und die Identifizierung
als national identisches Exemplar andererseits sind die beiden Seiten
desselben Zwangsverhältnisses. Nur vor dem Souverän oder dem Tod
ist jeder gleich – und vor dem Geld, so weit man welches hat. Auch
wenn das türkische halk mehr dem französischen le peuple ähnelt
als dem deutschen Volk, also nicht durch und durch völkisch behaftet
ist, und es gegen das dezidiert völkisch-religiöse millet gewendet
wird - wer vom Volk spricht, dem muss ein Vereinzelter weniger wert
sein als fünf Türken oder Deutsche. Das Agitieren mit der
begriffslosen Worthülse Volk kann bei aller Konsequenz auf nichts
anderes hinauslaufen als auf die Frage: war das Volk nun innerhalb
oder außerhalb des Hotels Madimak?
Den meisten
Protestierenden im Gezi Park und anderswo fehlt dieser instrumentelle
Blick des Agitators. Sie riskieren ihr Leben, widerstehen dem
Reizgasnebel, um der drohenden Grabesstille zu entkommen. Einer von
ihnen antwortete auf die Frage, in wie weit es bei den Protesten
allein um den Erhalt des Gezi-Parks in Taksim ginge,: “Was habe ich
von einem Park, von grün flankierten Pfaden, wenn ich auf diesen
nicht mehr frei sein kann.“ In solchen Äußerungen, als Individuen
noch leben zu wollen und nicht unter einer Zahl subsumiert zu werden,
schöpft sich auch eine Solidarität, die bei den Parteien des
türkischen ML doch wieder in die Asozialität der konkurrierenden
Rackets umzuschlagen droht. So manches dieser Rackets reproduziert
die repressiv erzwungene Grabesstille des Souveräns in ihren eigenen
perfiden Formen: die Volksfront der DHKP-C etwa rekrutiert nicht nur
Suicide Bomber, sie radikalisierte auch den Protest gegen den stillen
Tod in den Typ-F genannten Särgen, deren Zweck die absolute
Vereinzelung der Inhaftierten ist, zur Produktion von Märytrern. Mit
zynischem Blick aufs Prestige drang die DHKP-C ihre Genossen zum
Hungern bis in den Tod. Die Verhungerten waren alsdann nur noch
Zahlen, ihr Sterben wurde zum Spektakel, in welches sich die Partei
als Souverän über Leben und Tod inszenieren konnte. “Die 100.
Märtyrerin des Todesfastens”, so die triumphierende Notiz der
DHKP-C (13). Und auch die maoistische TKP-ML prügelte dem sinnlosen
Sterben Sinn ein: “Sie sind zur Unsterblichkeit gelangt”. Solche
Rackets installierten noch unter den Knüppeln des Souveräns ihren
eigenen Repressionsapparat: Inhaftierte, die etwa die Partei
kritisierten, wurden aus den Kommunen ausgeschlossen und von allen
anderen isoliert. Selbst das Küssen der Liebsten an den wenigen
Besuchstagen wurde sanktioniert. Während in vielen Graffitis der
Führerkult Erdoğans kritisiert wird, hatten die Nationalrevoluzzer
Taksim mit den Porträits ihrer Märtyrer aufgesucht: Deniz Gezmiş
(1947-1972) und Mahir Çayan (1945-1972), die beide im
souveränitätsfetischistischen Furor von einer “unabhängigen
Türkei” sprachen als wäre das Fundament dieser
zwangshomogenisierten Türkei nicht die Gräber der verscharrten
Armenier und Griechen. Nicht sehr viel sympathischer die lenistischen
Exilparteien: Sie präsentieren Agitation und Führerkult mit
Halay-Folklore während nicht wenige Protestierende in Istanbul
Komospoliten sind und tänzelnd den Tango frönen. Und wider der
Akkumulationsdespotie eines Mao Zedong kursiert unter einigen
Istanbuler Genossen auch Oscar Wilde ('Sosyalizm ve İnsan Ruhu'),
Paul Lafargue (Tembellik Hakkı) und Adorno & Horkheimer
(Aydınlanmanın Diyalektiği) – das kommunistische Gespenst trägt
nicht das Grabestuch eines Märtyrers.
Der Marsch
der Muslimbrüder durch die Institutionen
Ahmet
Davutoğlu, Staatsminister und geopolitischer Stratege der AKP,
erinnert sich bei dem verstorbenen Übervater der
türkisch-islamischen Erweckungsbewegung Milli Görüş, Necmettin
Erbakan, an seinen Verdienst um die „demokratische Transformation
der Türkei“ (14). Nicht dass Davutoğlu lügt – was Erbakans RP
zu Beginn der 1990er zu gelingen schien, war kein anti-demokratischer
Konter, es war viel mehr das Herauskitzeln des regressiven Potenzials
der in die Subjektform Entlassenen. Es war zunächst ein Riegel
frommer Provinzen Zentralanatoliens wie Çorum, Yozgat, Tokat, Sivas,
Kayseri, Kahramanmaraş und natürlich Konya, den die Refah Partisi
an sich nahm bevor sie 1995 zur stärksten Partei in der Türkei
wurde und in ganz Zentral- und Ostanatolien mit Ausnahme der
alevitischen Provinz Tunceli gewann. In Istanbul ist die
Refah-Partei, unter Tayyip Erdoğan, bereits ein Jahr zuvor die
stärkste Partei geworden. Mit seiner nunmehr dritten Partei schien
Erbakan die Konkurrenz, die Milliyetçi Hareket Partisi der Grauen
Wölfe, verdrängt zu haben. Die beiden Jahrzehnte zuvor war er immer
wieder gescheitert: an der Konkurrenz und dem Militär. Erdoğan war
von Beginn an dabei. Zunächst bei den Akıncılar Derneği, benannt
nach djihadistischen Kavalleristen im Dienst der osmanischen
Despotie. Die Racketökonomie der historischen Akıncı bestand aus
der Versklavung Überfallender und dem Knabenzins, die Akıncılar
Erbakans dagegen waren vor allem eine Reaktion auf die Grauen Wölfe,
der ärgsten Konkurrenz in den 1970ern. Die MHP von Alparslan Türkeş
verachtete die Innerlichkeit der Muslimbrüder. Sie beschuldigte die
islamische Konkurrenz, sich vorrangig dem inneren Djihad zu widmen
und nicht dem Djihad gegen die reale Bedrohung, ausgehend von
kommunistischer und atheistischer Subversion. Im islamischen
Moralterror waren sie Erbakans Millî Selamet Partisi, die Partei des
nationalen Heils, kaum unterlegen. Staatsbeamtinnen, die mit zu viel
Haut zu provozieren wagten, wurden von Grauen Wölfen überfallen
und, um zu viel Sinnlichkeit zu ahnden, ausgezogen. Restaurants
wurden gezwungen, an Silvesterabend zu schließen, da dieser Tag nur
von Ungläubigen begangen werde und so weiter. Während Erbakans MSP
zunächst eine Islamisierung der Aleviten verfolgte, identifizierten
die Grauen Wölfe diese als Kommunisten und beide als Agenten der
Verwestlichung. Alsdann kam es in Erzincan und Iğdır zu
anti-alevitischer Gewalt, die im Jahr 1978 eskalierte: Zunächst in
Malatya und Sivas und dann in Kahramanmaraş, wo der Pogrom sich über
Tage hinzog. Häusertüren, hinter denen Aleviten vermutet wurden,
wurden präventiv rot markiert, während Imame das Paradies für jene
ausschrieben, die einen Aleviten töten. Als dann noch das Gerücht
zu kursieren begann, kommunistische Aleviten würden die 'Große
Moschee' schänden, bedurfte es kaum noch Agitation. Mindestens 200
Menschen wurden ermordet, viele von ihnen aus ihren Häusern gezerrt
und auf der Straße hingerichtet. Im Juni 1980 folgte noch ein
weiteres Pogrom in Çorum. Vorausgegangen war das lancierte Gerücht
eines Moscheebrandes. Erdoğan sollte also wissen, was es in
blutigster Konsequenz heißen könnte, das Gerücht über die
Schändung einer Moschee zu lancieren.
Über 5.000
Menschen, viele von ihnen Aleviten und Kommunisten, wurden zwischen
den bleiernen Jahre 1975 bis 1980 von den Todesschwadronen der Grauen
Wölfe ermordet. Nicht nur darin schienen sie in den 1970ern der
islamischen Konkurrenz immer einen Stechschritt voraus. Nach
Konflikten innerhalb der MSP, vor allem zwischen den Brüdern der
radikalisierten Orden (tarikat) Nakşbendiyye und Nurculuk kam es im
Jahr 1977 zu Übertritten zur MHP. Auch das Tarikat der
Süleymanlılık, dessen Imame aggressiv antisemitisch auftraten, war
der MHP mehr zugetan als Erbakans MSP. Beide, die Nurculuk und
Süleymanlılık, hatten zudem eine Nähe zur Adalet Partisi, die
Gerechtigkeitspartei von Süleyman Demirel, die in den 1960ern alles
überragende Partei, die auch still hielt als Koranschüler der
Süleymanlılık zunehmend aggressiv gegen kemalistische Pädagogen
auftraten. Als hätte die MSP die Konkurrenz in Radikalität
überbieten müssen, um wieder zu ihr aufzuschließen, marschierte
sie am 7. September 1980 in Konya auf und simulierte mit grüner
Beflaggung und Rufen nach der Shariah den Djihad gegen die
laizistische Republik. Im selben Jahr war auch der antikommunistische
und antilaizistische Terror in der türkischen Diaspora eskaliert. Am
5. Januar 1980 wurde in Berlin-Kreuzberg, unweit der Milli
Görüş-Moschee in der Skalitzer Straße, der Kommunist Celalettin
Kesim ermordet. Ein spontanes Rollkommando hatte Kesim und einige
seiner Genossen, die an jenem Tag den Interessierten eine Flugschrift
gegen die drohende Militärdiktatur in der Türkei aushändigten,
unter „Allahu Akbar“ Rufen attackiert. Ein Schnitt traf die
Schlagader im Oberschenkel. Die deutsche Justiz interessierte sich
nur wenig für den Mord. Einzig Abdul Satıcıoğlu, ein umtriebiger
Agitator aus der nahen Milli Görüş-Moschee, wurde schuldig
gesprochen, die Beteiligten aufgehetzt und angewiesen zu haben. Doch
auch ihm kam die Mildtätigkeit des deutschen Souveräns zu:
Satıcıoğlu habe „seiner ganzen Ideenwelt“ entsprechend
geglaubt, das Richtige zu tun (15). Auch darin zeigt sich, dass der
herrschende Kulturrelativismus den Alleingelassenen und Gehetzten als
eisige Kälte entgegenschlagen muss. Die Milli Görüş-Moschee in
der Skalitzer Straße existiert bis heute, sie ist organisiert in der
Islamischen Föderation Berlin, die vom deutschen Souverän die
Verantwortung für den Islam-Unterricht zugetragen bekam.Von Kesim
dagegen blieb nur eine Gedenkschrift mit den Worten Nazım Hikmets:
„Sie sind die Feinde der Hoffnung, Geliebte.“ Als es im April
1980 in Berlin zu einem Konflikt zwischen einer Lehrerin und einer
Türban tragenden Schülerin gekommen war, scannten die
Moralterroristen aus der nahen Milli Görüş-Moschee in den
folgenden Tagen die Unterrichtsklassen ab und machten sich zur Notiz,
welche türkischen Mädchen ihr Haar nicht verhüllt trugen. In einer
Flugschrift gegen die „Nachahmung“ der Ungläubigen war zu lesen:
„Schwester, deine Bedeckung ist Befehl unseres Gottes … deine
Bedeckung ist unsere Fahne ...“ (16).
Am 12.
September 1980 erfolgte in der Türkei ein Coup des Militärs – was
einkehrte war die von Kesim und anderen befürchtete Stille eines
Grabes. Das Militär übernahm eine sanfte Islamisierung in
Eigenregie. Unter seinem regulierenden Blick wurde der Etat des
Islampräsidiums Diyanet in die Höhe geschraubt und noch jedes
alevitische Dorf mit einer Moschee okkupiert. Die Kader der gebannten
MSP und MHP stauten sich in der Anavatan Partisi auf, die Partei des
Mutterlandes, und trugen ihre Konflikte in die neue Partei herein,
die als einzige neben zwei Satelliten des Militärs noch existieren
durfte. Ministerpräsident wurde Turgut Özal aus dem Tarikat der
Nakşbendiyye, der 1977 noch für die MSP kandiert hatte und auf den
sich heute auch Erdoğan beruft. Özal brach die Löhne noch weiter
herunter und frisierte die unter der Kreditkrise darbende türkische
Ökonomie für den Export. Mit den engen Kontakten seines Bruders
Korkut zu den Shariah-Regimen am arabischen Golf etablierte sich ein
eigener islamischer Finanzmarkt, der es vermochte so manches Geld
türkischer Migranten für ein anatolisches Kapital zu akquirieren.
Aus den hiermit finanzierten Unternehmungen gingen ab Ende der 1980er
die berüchtigten islamischen Holdings hervor.
„Zins-Lobby“
und Islam Holding
Erdoğans
Blick auf eine sich gegen ihn verschwörende „Zins-Lobby“ ist
nicht zufällig. Er befindet sich damit geradezu in Tradition seines
politischen Ziehvaters Erbakan, der in seinem namensgebenden Traktat
„Milli Görüş“ aus dem Jahr 1975 sich fragte, wie denn das
türkische Vaterland, als Nabel des gewaltigen Osmanlı
İmparatorluğu, so verkümmern konnte. Erbakan fand die Antwort
einerseits in der Verwestlichung, in der Entfremdung der muslimischen
Türken von Moral und Werten des Islam, und andererseits in der
perfiden Nachahmung arabischer Techniken der Naturbeherrschung durch
den Westen. Der zentrale Ruf seiner Partei war folglich: „Wieder
eine große Türkei“. Im Zweischritt sollte sich der Erbauung der
entfremdeten Muslime gewidmet werden und die Industrialisierung
forciert werden. Erbakan promovierte 1953 an einer deutschen
Technischen Universität und war in der Folge als Ingenieur bei der
Deutz AG tätigt, wo er in der Konstruktion des Leopard 1 involviert
war. Noch wenige Monate vor seinem Tod schmeichelte er der
technischen Detailverliebtheit der Deutschen, der „Ernsthaftigkeit
und Organisiertheit“, mit denen sie sich an den Dienst machen
würden (17). Erbakan blieb bis zu seinem Tod ein deutscher Ideologe
– in einer spezifisch islamischen Variante. Daran, dass die
Zweckrationalität des Kapitals sich auf keinen menschlichen Zweck,
die Stillung des Hungers, bezieht, viel mehr einzig und allein auf
den abstrakten Selbstzweck des Kapitals: der Akkumulation toter, d.h.
ausgezehrter Arbeitskraft als Kapital, stieß sich Erbakan nirgends.
Denn nach Erbakan liege die Krise natürlich nicht darin, dass die
Produktivkräfte andauernd revolutioniert werden, aber darin nie dem
„Gröbste(n): dass keiner mehr hungern soll“ (Adorno), näher
gekommen wird, viel mehr Maschinenpark um Maschinenpark,
Investitionsruine um Investitionsruine um ihrer selbst angehäuft
werden und darin die nächste Krise struktureller Überakkumulation
sich potenziert. Die Krise ist Erbakan zufolge dem Kapital nur
künstlich eingepflanzt. Es sei der Zins, der sie in die Produktion
hineintrüge. Der Zins sei nicht nur der schwächste Punkt des
Kapitals, in dem die Krise einzufallen drohe, er sei auch
Einfallschleuse kommunistischer Subversion. Es war Erbakans Mission
und darin ist er der deutschen Ideologie so sehr verhaftet, die
Akkumulation des Kapitals mit einer völkischen und antisemitischen
Ideologie zu exekutieren. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre
rief Erbakan eine „Offensive der Schwerindustrie“ aus. Er zog
durchs feudale Anatolien und legte, hier wie dort, den ersten Stein
einer industriellen Anlage, die dann doch nie realisiert worden ist –
zum Ende gebracht wurde dagegen der Djihad gegen eine
„pornographische Statue“ 1976 in Istanbul, „der Stadt Sultan
Fatihs“ (Erbakan).
Von jeher war
Erbakan das kemalistische Establishment in der Westtürkei verhasst,
das er als freimaurerisch verschrie, ein Hass, der rationalisiert
werden konnte durch die reale Konzentration der Kreditmaschinerie auf
einige wenige westtürkische Monopolisten. Er propagierte den Marsch
in die Institutionen, die Übernahme etwa der Industriekammern im
Interesse einer initialen Akkumulation eines grünen Kapitals im
stehengebliebenen Anatolien. Als Prototyp dieses ideologisierten
Akkumulationsregimes fungiert das sog. Konya-Modell, eine
shariah-konforme Holding, an dem die Gläubigen Anteile erwerben und
somit am weiteren Unternehmensschicksal teilhaben können. Vor allem
auch deutsche Moscheen von Milli Görüş verwandelten sich in Muslim
Märkte, wo die Imame Rendite predigten (18). Das Eigentliche an dem
Konya-Modell sei das 'Wir-Gefühl', ein- und dasselbe Schicksal zu
teilen: die profitable Holding als Ummah. Eine Karriere in einer
solchen Holding verlangt nicht nur nach technischer Qualifikation,
viel mehr auch nach Parteiloyalität und Frömmigkeit. Nicht wenige
die von der Politik in das Management einer solchen Holding
wechselten und dann wieder in die Politik. In der Ideologie des
berüchtigten Imams Fethullah Gülen sind Karriere wie
Verhaftetbleiben im Elend Erscheinungsformen desselben göttlichen
Willens (19). Ein positiver Jahresabschluss ist folglich so etwas wie
die Quittung für die Auserwähltheit durch Gott und für Bienenfleiß
und Selbstdisziplinierung im Gebet und in der Hetze ums Geld. Diese
türkische Variante des politischen Islam propagiert eine
calvinistisch anmutende Arbeitsethik (20), die einhergeht mit der
antisemitischen Lüftung des Geldrätsels, der starrende Blick ist
auf die geldwerte Unternehmung gerichtet, die flankiert wird durch
den sozial-repressiven Zugriff auf die zu kurz Gekommenen.
Mildtätigkeit, wie es im Jargon der Muslimbrüder heißt, ist die
Gnade des Souveräns – bei andauernder Drohung, dem Objekt Gewalt
anzutun.
Wer hier nur
von einem neoliberalen Regime spricht, begreift wenig. Die von der
AKP forcierte Privatisierung sozialer Dienste geschieht neben einem
ökonomischen Kalkül auch immer im Interesse der Racketisierung der
Apparate. Exemplarisch sei hier die von der AKP aufgewertete Green
Card genannt, mit der Bedürftige einen Basis-Wartungsbedarf ihrer
geschundenen Körper (Zahnprothese u.ä.) geltend machen können. Auf
eine solche Green Card existiert kein Rechtsanspruch. Es unterliegt
der lokalen Autorität, die subjektiven Kriterien der Bedürftigkeit
zu scannen. Diese Autorität kann die Gendarmarie sein, ein Muhtar
oder auch ein Imam. Über die Green Card hat die AKP Zugriff auf die
Elendigen. Da ist es auch nicht zufällig, dass die Muslimbrüder
eine ihrer Basen bei den Frauen aus pauperistischen Familien hat,
sind sie es doch, über die vorrangig der Zutritt zum Sozialregime
gewährt wird. Vor allem im Südosten ist dokumentiert, dass
politische Dissidenten und deren Verwandte immer wieder von der Green
Card ausgesperrt werden und mit der Drohung des Entzugs, Menschen zum
Gang an das Urnengrab erpresst werden. In der Türkei sind nur etwa
40 Prozent der zum Verkauf ihrer Arbeitskraft Gezwungenen
sozialversichert. Allen anderen tritt ein islamisiertes Sozialregime
entgegen, das die feudale Despotie, das Ausgeliefertsein des
Einzelnen gegenüber der Blutsbande, in seinen eigenen Formen
reproduziert. Die sozialen Dienste werden an die Kommunen
ausgelagert, die mehr und mehr mit einer privat finanzierten Fürsorge
verzahnt sind. Islamische Orden wie der der Fethullahçılık treten
hier als islamische Karitas auf, die den Zutritt an Loyalität und
Frömmigkeit knüpfen. Eine gratis Speisung im Monat Ramazan zwingt
natürlich dazu, sich dem religiösen Diktat des Hungers zu fügen.
Die Opposition gegen die Islamisierung ist nicht allein eine der sog.
weißen gegen die schwarzen Türken, gebildet gegen ungebildet, urban
gegen provinziell. In einigen der subproletarisierten Vierteln
Istanbuls - Gazi Mahallesi, Maltepe-Gülsuyu und Sarıgazi etwa, wo
viele alevitische Immigranten aus dem Südosten sich aufgestaut haben
- waren die Proteste mit am stärksten (zu schweigen von der
alevitischen Provinz Tunceli im östlichen Anatolien, die nach
Fethullah Gülen von Armeniern und Assyrern bevölkert sei). Es ist
also auch eine Revolte jener, die zu spüren bekommen, dass ihnen der
repressive Sozialapparat und das islamisierte Akkumulationsregime den
Atem abschnüren werden.
Genauso
unbegriffen muss die Verzahnung von Ökonomie und Islamisierung
bleiben, wenn nur von Gentrifizierung der Städte gesprochen wird. In
dem kalkulierten Dahinrottenlassen Alt-Istanbuls mit seinen Spuren
armenischen, griechischen und jüdischen Lebens, dem Kahlschlag
ganzer Viertel und den Milliardenprojekten des Regimes, die das BIP
weiter am köcheln halten sollen, sind Profitinteresse und
Islamisierung miteinander verschraubt. Zu zeigen wäre es etwa an dem
Projekt der dritten Überbrückung der Bospurus-Enge, die den Namen
des Alevitenschlächters Yavuz Sultan Selim tragen wird. Abgesehen
von solchen Prestigeprojekten verwebt das Regime über seinen
direkten Zugriff auf einen monströsen Apparat fürs Public Housing
namens TOKİ (21) Milliardenprofite für die Seinigen mit dem Konter
auf das kosmopolitische Istanbul, das in Beyoğlu und anderswo noch
nicht ausgetrieben ist: Satelittenstädte, deren Funktionen allein im
Interesse des muslimischen Calivinismus zu liegen scheinen, d.h. die
Reproduktion der Arbeitskraft, die moralische Erbauung in einer der
Moscheen, mit denen dieses Neu-Istanbul alle gefühlte 50 Meter
abgesteckt ist, und – natürlich: “mindestens drei Kinder” –
die Stimulation der Gebärmaschinerie.
Im vielen
dahinrottenden Teilen Alt-Istanbuls finden Geflüchtete aus Syrien,
Irak, Iran, Afghanistan und dem Südosten der Türkei prekären
Unterschlupf. In Küçükpazar-Fatih sind es aktuell vor allem
kurdische Familien, die aus der syrischen Hölle in Aleppo und
Damaskus geflüchtet sind und in Istanbul von den dortigen
Slum-Hoteliers für ein Leben in halb zerfallenen Ruinen ausgepresst
werden.
Da auf den
Straßen Istanbuls die Konkurrenz unter den der Verwertung ihrer
Arbeitskraft hinterherfliehenden Männern nur zu groß ist, sind es
die Kinder, die durch tägliches Betteln oder mit dem Anbieten von
Dosenschießen und ähnlichem noch ein wenig Geld einzubringen
vermögen.
Frühere
Mahalle der Armenier wie Gedikpaşa oder Dolapdere sind dem Verfall
überlassen. In den Kirchen trifft man inzwischen vor allem auch
geflüchtete Christen aus dem Irak, Eritrea oder Nigeria an.
Hat Erbakans
RP noch die Gecekondular, jene Slums der “über die Nacht
Gekommenen”, mit Brosamen und religiösem Pfeffer zur Basis ihres
Brüllviehs gemacht, verspricht Erdoğan den Elendigsten einen nahen
Blick auf ein prosperierendes Leben – soweit sie fromm und
bienenfleißig seien. Darin liegt auch die Bedrohung für alle, die
als Saboteure dieses entstellten Glückes identifiziert werden. Die
Identifikation mit Erdoğan erfolgt nicht allein über Islam und
Nation; beide sind verknotet mit dem Versprechen, bei einer
ausdauernden Aufreibung als Arbeitskraftdrohne und im Gebet doch noch
zu Geld und Prestige zu kommen. Einige fromme Muslime, die bereits
dort angekommen sind, wo noch andere hin wollen, inserierten am 14.
Juni eine ganzseitige Solidaritätsadresse an ihren Başbakan, Tayyip
Erdoğan. Die Anatolischen Löwen (Anadolu Aslanları İşadamları
Derneği, kurz: ASKON), eine Pressure Group gläubiger Kapitalisten,
brachten auf dieser einen Seite nahezu alle kursierenden
Verschwörungstheorien unter: Der Protest könne nur eine
Verschwörung sein, da er doch in jenem Moment aufkam, wo der “Tyrann
Israel” sich die Nase reibe und Assad ein Ende drohe, wo die Türkei
bald den letzten Zins abgezahlt und sie den “unterdrückten Völker”
den Pfad vorgetrampelt hätte (22).
Antisemitismus
als der Wahn, dem Abstrakten des Kapitals ein Antlitz aufzuzwingen
Auf den
sanften Coup des Militärs gegen Erbakans Refah Partisi und deren
Bann am 16. Januar 1998 folgte nur ein anderer Name: die Fazilet
Partisi, die Partei der Tugend, die dann im Juni 2001 von den
Verfassungsrichtern kassiert worden ist. Erdoğan und weitere
Ziehsöhne Erbakans zogen daraus ihre Konsequenzen. Sie riefen am 14.
August desselben Jahres die Adalet ve Kalkınma Partisi aus. Die AKP
rekrutierte sich vor allem aus den als Reformer verschrieenen Kadern
der Fazilet Partisi, wie der heutige Staatspräsident Abdullah Gül
oder Staatsminister Hayati Yazıcı, der als Jurist einige der
Pogromisten von Sivas vertrat. Hinzu kamen Übertritte aus der
aufgeriebenen ANAP und DP sowie im Jahr 2007 Vereinzelte aus der
Cumhuriyet Halk Partisi, Mustafa Kemals Republikanischer Volkspartei.
Selbst einige Aleviten nahm man ins Portfolio auf. Erbakan dagegen
blieb nur die Konkursmasse der Fazilet. Seine Saadet Partisi, die
Partei der Glückseligkeit, liegt inzwischen bei unter zwei Prozent.
Gegen Ende des Jahres 2010 rebellierte auch noch der Vorsitzende der
SP, Numan Kurtulmuş, und rief mit einigen anderen Abtrünnigen die
Halkın Sesi Partisi aus, die alsbald in der AKP aufging. Erbakan
blieb nur noch sein Wahn. Bis zu seinem Tode am 27. Februar 2011
halluzinierte er, dass das Volk sich noch zu ihm bekennen werde.
Seine Ziehsöhne Erdoğan und Gül waren ihm nur noch Abtrünnige,
Kassierer der Zionisten (23).
Der
kapitalisierten Sozietät, die sich ihrer selbst nicht bewusst ist
und innerhalb des selbstzweckhaften Autismus der Verwertung des
Wertes rotiert, ist die Idee einer „Magie des Geldes“ und ihrer
Personifizierung inhärent. Sie produziert aus sich heraus jenes
Anti-Subjekt, welches sie bedarf, um ihre eigene Negativität auf ein
Objekt zu bannen und folglich zu exorzieren. Die Selbsterhaltung der
Subjekte fällt mit der Selbstverwertung des Wertes in eins: Wer sein
Begehren nicht in die Wertform presst, vegetiert dahin. Weil die zur
Subjektform gedrängten Menschen den irren Selbstläufer der
Verwertung des Wertes aber nicht als Fleisch vom Fleische
wiedererkennen, sie vor sich selbst zu Tode erschrecken würden,
können sie den herrschenden Irrationalismus des Kapitals selber nur
irrational reflektieren und in der Konsequenz reproduzieren. Der
soziale Nexus tritt ihnen doppelt entgegen: einerseits konkret, als
Gebrauchswerte in ihrer Nützlichkeit, andererseits abstrakt, wobei
dieses Abstrakte sich wieder konkretisiert, als Geld, d.h. die
abstrakte Seite der Ware drückt sich an einer anderen Ware, dem
Geld, aus. Zum einen ist ihnen das Geld nur das Medium für einen
außer ihm existierenden Zweck: einer Begierde, der durch den Kauf
eines nützlichen Dings nachgekommen wird. Zum anderen – und noch
im selbem Moment - ist das Geld sich selbst alleiniger Zweck. Geld
heißt, mit Marx gesagt, seinen eigenen sozialen Nexus im Säckel mit
sich zu tragen.
Durch die
„Verdinglichung der Tauschabstraktion im gemünzten Geld“ (A.
Sohn-Rethel) dringt diese Abstraktion in das Bewusstsein, aber in
unbewusster Form: als Geldfetisch, eben als „Magie des Geldes“
(Marx). Die Figur des 'Juden' muss als Personifikation des Geldes,
die die materielle Repräsentanz der Abstraktion ist, auch den
fetischisierten Charakter des Geldes inkarnieren: universale Geltung
und dämonische Magie. Als halluzinierter Magier der
Zirkulationssphäre ist die Figur des 'Juden' immer auch beides: ein
das Volk aufhetzender Kommunist und die Produktion aussaugender
Spekulant, ein Rassist von Gottes Gnaden und ein mit dem Dolchstoß
drohender, vaterlandsloser Kosmopolit. Die Realabstraktion des
Kapitalverhältnisses wird heruntergebrochen auf eine durchtriebene
Tarnung, eine mit polizeilicher Akribie zu personifizierende
Camouflage. Unter türkischen Antisemiten heißt diese Tarnung
„Dönme“: Konvertiten, die ihren Übertritt zum Islam nur
fingieren, um diesen, in der Tarnung, zu judaisieren. Es existiert
inzwischen eine eigene Industrie, die „Sabbataisten“, sog.
„Krypto-Juden“ (Gizli Yahudiler), auffindet. Es scheint, dass die
Kemalisten es nur noch hier mit den Muslimbrüdern aufnehmen können.
Yalçın Küçük, Kolumnist für Aydınlık, etwa spürt „schwarzen
Hebräern“ und anderen klandestinen Juden nach und findet sie in
der Prominenz der AKP. Abdullah Gül etwa, so Küçük, sei ein
Sabbataist, was dieser augenblicklich von sich wies (24).
Aydınlık
ist das Organ der İşçi Partisi des aggressiven Leugners der
Ausrottung der türkischen Armenier, Doğu Perinçek. Die IP ist mit
der von ihr initiierten Jugendorganisation Türkiye Gençlik Birliği,
die Türkische Jugendunion, eine der bestorganisiertesten Parteien,
die unter dem Ruf „Wir sind die Soldaten Atatürks“
aufmarschieren. Von Protestierenden im Gezi Park wird diese
Kasernen-Mentalität immer wieder gekontert: „Wir sind die Soldaten
von niemandem“ oder – in der LGBT-Variante - „Wir sind die
Soldaten von Freddie Mercury“. Präsent ist die IP inzwischen vor
allem über die TGB, die in Erdoğan einen anti-türkischen, d.h.
zweiten US-amerikanischen Präsidenten ausgemacht haben will. Ein
authentischer Souverän ist ihr dagegen der syrische Schlächter
Assad. Wo in Syrien tagtäglich gestorben wird, die Säkularen
zerrieben werden zwischen Ba'ath-Regime, Hezbollah und dem
khomeinistischen Regime Iran einerseits und djihadistischen Rackets
inklusive ihrer türkischen, arabischen, europäischen und
US-amerikanischen Gönnern andererseits, ruft ihr kemalistisches
Brüllvieh auf Märschen in Ankara und anderswo: „Das syrische Volk
ist vereint“ und „Das syrische Volk ist seinem Staat treu“
(25). Der reformistischen Türkiye Komünist Partisi fällt auch
nicht viel anderes ein als an dem Regime der Muslimbrüder zu
kritisieren, dass dieses nicht authentisch türkisch sei. Den Aufruf
„Frömmelnder, Geldbesessener, Amerikanist. Du bist nicht die
Türkei!“ (Yobazsın, paracısın, Amerikancısın. SEN TÜRKİYE
DEĞİLSİN!) bebildert sie mit einer islamischen Gebetskette, die
mit dem Symbol des Dollars endet. Noch in der säkularen
Konfrontation mit dem Regime der türkischen Muslimbrüder
rekurrieren sie auf die nationale Projektion nach außen.
Im
nationalistischen Milieu der Türkiye Gençlik Birliği gärt ein
Antisemitismus, der eins zu eins eine Durchschrift der Protokolle
ist. Zu nennen wäre etwa Soner Yalçın, Initiator des populären
Oda TV, oder Erdal Sarızeybek, der anempfiehlt sich der TGB
anzuschließen („Türkiye Gençlik Birliği'ni izleyin“).
Sarızeybeks Pseudo-Traktate (wie Son Harekat - Kod Adı: Yahuda)
findet man auf den ersten oder zweiten Blick auf jeden Istanbuler
Büchermarkt. Auch die oppositionellen Sozialdemokraten der CHP
scheinen zu wissen, dass für sie in manchen Provinzen wenig zu holen
ist, wenn sie einen Zweifel daran lassen, dass auch sie Antizionisten
sind. Als Kemal Kılıçdaroğlu, Erdoğans Herausforderer, im Juni
2011 in Kayseri sprach, wies er empörend von sich, ein Freund
Israels zu sein: Er beschuldigte Erdoğan, Abgeordnete der AKP
abgebracht zu haben, an dem Ship-to-Gaza-Konvoi teilzunehmen, während
Furkan Doğan, ein in Kayseri geborener US-Amerikaner, als Märtyrer
gestorben sei. „Hast du oder hast du nicht? Die Söhne des
Vaterlands sind auf die Mavi Marmara gegangen, sie wurden
angegriffen, sie fielen als Märtyrer, aber du hast deinen
Abgeordneten … gesagt, nicht zu gehen.“ (26) Auf der Mavi
Marmara, die den Konvoi voranging, lief nahezu alles zusammen. Sie
war ein Joint Venture von Milli Görüş, d.h. ihrer Benefiz-Sparte
IHH, und den Genossenmördern und Alevitenschlächtern der Büyük
Birlik Partisi, in der sich im Jahr 1992 abtrünnige Veteranen der
MHP unter dem Kommando von Muhsin Yazıcıoğlu, zusammentaten. Der
inzwischen verstorbene aber nach wie vor wie ein Rudelführer
verehrte Yazıcıoğlu wurde u.a. verdächtigt, verantwortlich für
das Bahçelievler-Massaker am 9. Oktober 1978 in Ankara zu sein, bei
dem sieben Genossen der Türkiye İşçi Partisi ermordet worden
sind. Dementsprechend würdigte Fethullah Gülen den Killer
Yazıcıoğlu nach dessem Tod: “...er war ein tapferer und
aufrichtiger anatolischer Mann” (27). Ein weiterer tapferer
anatolischer Mann und Mitbegründer der BBP, Ökkeş Şendiller, war
einer der Initiatoren des anti-alevitischen Pogroms von Maraş. Auf
der Mavi Marama befanden sich ranghoge Funktionäre der BBP und ihrer
Jugendorganisation Alperen Ocakları (28) und der Nachfolgepartei der
Pogromisten von Sivas, Erbakans Saadet Partisi, in der bis heute auch
Temel Karamollaoğlu – man möge sich erinnern – ausharrt und nun
gegen Israel hetzt. Neben Korrespondenten der islamistischen Vakit,
ein Organ von Milli Görüş, dem die Shoah “zionistisches
Geschwätz” ist (29), waren auch deutsche Antiimperialisten auf der
Mavi Marmara. Für Norman Paech aber war das alles kein
Miniaturmuseum des türkischen Schlachthauses, viel mehr ein
interkulturelles Spektakel: “...für mich war das wie ein Basar.”
Auf die
Grauen Wölfe der BBP scheint Verlass zu sein. Ihr Hass auf Säkulare
ist um einiges größer als der Neid auf die alles überragende
Konkurrenz, den “großen Bruder” AKP. Mustafa Destici, Nachfolger
Yazıcıoğlus, zufolge hätten die Protestierenden, die aus
Bierflaschen ein T.C. (Türkiye Cumhuriyeti) formten, die Märtyrer,
die in Çanakkale ihr Leben opferten, beleidigt (30). Es waren auch
die Jugendkader der Alperen Ocakların, die als erstes – und aus
Eigeninitiative - Regimekritiker attackiert haben. Die Mutterpartei
der Grauen Wölfen, die MHP, dagegen ist in den anatolischen
Provinzen noch zu stark, um sich dem Regime zu fügen. Ihr
Rudelführer Devlet Bahçeli griff – nachdem er einige Tage schwieg
– frontal an: Erdoğan hätte die Nation mehr gespalten als es
Abdullah Öcalan, das “Böse von İmralı”, in 29 Jahren getan
hätte (31). Auch innerhalb der AKP sind Risse wahrzunehmen, nicht
entlang der Adjektive “moderat” und “fundamentalistisch”, es
sind wieder die Tarikats, die um Geltung und Strategie konkurrieren.
So soll es vor allem zwischen Erdoğan, assoziiert mit den
Nakşbendiyye, und Gül, der den Fethullahçılık zugerechnet wird,
rumoren.
Die
Parteigänger Öcalans harren weiter aus um ihre Bewegung in den
Staat nicht zu gefährden. Eine Versöhnung, die nur erpresst - oder
zynisch einkalkuliert - sein kann, wenn man an die seit dem Jahr 2009
über 8000 Inhaftierten mit Nähe zur Barış ve Demokrasi Partisi,
der Partei für Frieden und Demokratie, denkt. Waren es vor allem
auch Vereinzelte aus der BDP, wie etwa Sırrı Süreyya Önder, die
sich mit als erstes im Gezi Park einfanden, blieb es im Südosten
weitgehend still. So still, dass das Regime Militärpolizei aus dem
Südosten nach Ankara abziehen konnte (32). In seiner diesjährigen
Nevroz-Ansprache hatte Öcalan vom „tausendjährigen Zusammenleben
mit den Türken unter der Flagge des Islam“, von dem solidarischen
Sterben dieser beiden Brüder in Çanakkale, jener zum nationalen
Mythos gewordenen Menschenschlachtung im Jahr 1915 gegen die Entente,
gesprochen (33). Es spricht aus Öcalans Worten – auch ohne dass es
ihm bewusst ist - die Lebenslüge der türkischen Republik. Es war
die durch Mord erzwungene Homogenisierung Anatoliens in den
dahinschwindenden Jahren des osmanischen Rumpfstaates, die
Reduzierung der Christen auf eine Zahl nahezu hinter dem Komma, die
zur stillen Prämisse der türkischen Republik geworden ist. Nur
durch die Teilhabe an Vertreibung, Ausplünderung und Ermordung der
anatolischen Christen wurden die alsdann mit der
Säkularisierungspolitik Mustafa Kemals konfrontierten frommen
Feudalclans präventiv befriedigt. Jene Koalition, die Mustafa Kemal
um sich scharte, war einzig geeint durch die Furcht davor, dass die
Islamisierung des armenischen und griechischen Besitzes keinen
Bestand haben könnte, sobald die Kumpanei zwischen Bürokrat,
Militär, Ağa und Şeyh ein Ende hat. In den folgenden Jahrzehnten
kapitulierten die Republikaner vor den Großagrariern und stundeten
eine zunächst propagierte Bodenreform. Allein die Flucht in die
Städte erschien als das Versprechen, dem feudalen Elend zu
entkommen. Und so kam es auch in der Türkei zu einer rasanten
Binnenmigration, die durch die blutige Fehde zwischen 'den beiden
Brüdern' im Südosten, einer Hölle aus Konterguerilla und
verbrannter Erde, noch weiter eskalierte. In Istanbul und Ankara,
Izmir und Adana, Diyarbakır und Batman stauten sich die sprunghaft
entbäuerlichten Massen auf. Verkauften sie dort auch ihre
Arbeitskraft, lavierten sie doch zwischen der nackten Reproduktion
ihrer physischen Existenz und dem Ausgeliefertsein gegenüber dem
mitgeschleppten feudalen Klientelismus, der die Frau an den Mann
bringt, aber immer zu wenig Geld in das Säckel. Hier hinein
grätschten die Muslimbrüder, sie markierten glaubwürdiger als alle
anderen das Elend der Davongezogenen wie Dagebliebenen als eine
Konspiration der Ungläubigen, die inzwischen in neun von zehn
Predigen als Zionisten identifiziert werden. Die Muslimbrüder
prügelten dem Elend Sinn ein, einen unmenschlichen, aufhetzenden
Sinn. Inzwischen aber koppeln nicht wenige nicht nur ihre Identität,
viel mehr auch ihre Karriere und Pfründe an die AKP – in dieser
Kombination aus Identität und Interesse mag die gröbste Bedrohung
liegen.
Es sieht so
aus als würde das Regime mit dem seit längerem durchislamisierten
Polizeiapparat demonstrieren wollen, wie es mit einer säkularen
Opposition noch zu widerfahren gedenkt. Dass bei dem Überrollen des
Gezi Parks der gegen die Protestierenden gerichtete Wasserstrahl mit
stark ätzenden Chemikalien kontaminiert worden ist, ist ja keinem
polizeilichen Zweck geschuldet. Auch ohne schwere Verbrennungen bei
den Protestierenden wäre der Gezi Park abgeräumt worden. Es scheint
viel mehr so, als würde man die ausharrende Opposition gegen die
Islamisierung brandmarken wollen, als müsste ihnen eingebrannt
werden, dass sie konspirative Elemente sind. Inzwischen bringt das
Regime den Terrorismusverdacht gegen einzelne Protestierende in
Anschlag, was in der Konsequenz unbegrenzte Untersuchungshaft für
die Betroffenen heißen könnte (34). Das Islampräsidium Diyanet
indes bewertet die Zerschlagung der Proteste augenfällig als
„religiöse Angelegenheit“. Vor einigen Tagen gab es eine Fatwā
heraus, in der der systematische Gebrauch von Reizgas als rechtmäßig
und den Umständen entsprechend befunden wird (35).
(1) Siehe die
Übersetzung der Rede von Murat Yörük.
(2) Those
against whom we said ‘one minute’ are now delighted, says PM over
Gezi Park protests, in: Hürriyet Daily News, 12.06.2013.
(3) Zur Rede
in Konya siehe Radikal, 07.12.2012. Die Zahl 1071 bezieht sich auf
jenes Jahr, in dem das erste islamische Heer Anatolien betrat und die
Byzantiner verheerend schlug. Zur Gebärpolitik Erdoğans, die
einhergeht mit einer angedrohten Kriminalisierung von
Schnittentbindungen, siehe des Weiteren: Turkish PM pushes for ‘three
children incentive’ , in: Hürriyet Daily News, 10.02.2013.
(4) Turkish
PM Erdoğan retires mall project, vows mosque in Taksim, in: Hürriyet
Daily News, 02.06.2013.
(5) Siehe
Erdoğans Rede in Ankara am 9. Juni. Übersetzung v. Murat Yörük.
(6) Als
Konter auf die vermeintlichen Verschwörungen namens „Ergenekon“
und „Balyoz“ wurden dutzende pensionierte Generäle und
amtierende Offiziere verhaftet.
(7) Army may
step in to stop protests if need be: Deputy PM Arınç, in: Hürriyet
Daily News, 17.06.2013.
(8) Siehe
Erdoğans Rede in Ankara am 9. Juni. In der Dolmabahçe-Moschee, Teil
der einstigen Residenz des Sultans, fanden Protestierende Zuflucht
vor den Reizgasschwaden und dem Geknüppel der Polizei. Sie
funktionierten die Moschee in ein Lazarett um. Auf Facebook und
anderswo kursieren nun Fotografien von Protestierenden, die in der
Moschee Alkohol getrunken, sich geküsst und ähnlich sündhaftes
getan hätten.
(9) Khomeinis
Fatwā, der Aufruf zum Töten, betrifft jeden, der sich an der
Publikation der Satanischen Verse beteiligte. Im vergangenen Jahr
erhöhte der iranische Hojatoleslam Hassan Sane'i das Kopfgeld auf
Rushdie um weitere 500.000 auf nunmehr 3,3 Millionen Dollar.
(10) Siehe
die Erinnerungen von Ali Ertan Toprak, in: SZ, 17.05.2010.
(11) Sivas
davası zamanaşımında yanacak, in: Radikal, 06.03.2012; Sivas'ta
son dava düştü, in: Radikal, 14.03.2012; Erdoğan'dan çok
tartışılacak Sivas davası yorumu, in: Milliyet, 13.03.2012.
(12) Siehe
Spiegel Special, 30.09.2008.
(13) Endloses
Sterben, in: Jungle World, 24.12.2002.
(14)
Davutoğlu im Gespräch mit Die Welt, 06.03.2011.
(15) Siehe
Aus Liebe zu Allah, in: Jungle World, 02.01.2002; sowie Islam und
Politik in der Türkei (Hrsg. v. Jochen Blaschke/ Martin van
Bruinessen), S. 333 f.
(16) Zitiert
nach Islam und Politik in der Türkei, S. 336 f.
(17) Erbakan
im Gespräch mit Die Welt, 08.11.2010.
(18)
Näheres dazu bei Claudia Dantschke. Etwa hier.
(19) Siehe
dazu auch Anne Steckner in der Iz3W, Mai/Juni 2013, S. 22. Nach
Fethullah Gülen ist das Tarikat der Fethullahçılık benannt, das
als tiefer Staat verrufen und vor allem in den Polizeiapparat und die
Justiz eingesickert ist.
(20) Es liegt
aber noch ein Unterschied ums Ganze zwischen dem Arbeitsethos des
muslimischen Calvinismus und dem Produktivwahn der deutschen
Ideologie. Letztere steigerte die Selbstzweckhaftigkeit der
abstrakten Arbeit zu ihrer äußersten Konsequenz. Hatte bereits der
deutsche Imam Martin Luther Arbeit als „Knechtschaft aus
Überzeugung“, als Berufung und Dienst an Gott ausgerufen,
radikalisierte die nationalsozialistische Ideologie die Reduktion der
Menschen auf einen blinden Mechanismus zur Heroisierung des
Arbeiterkraftvehikels als Soldat in zivil, als Märtyrer fürs große
Ganze. Dem nationalsozialistischen Publizisten Franz Schauwecker
wurde es angesichts des Menschenschlachtens in den Frontgräben nur
zu deutlich, “daß 'Arbeit' etwas sehr Hohes und sehr Tiefes war,
etwas, das jede Tat in sich schloß. Und Tat war etwas, das zugleich
immer auch ein Opfer bedeutete ... Was nachher kam: Verwundung,
Hunger, Ermattung, Tod – das konnte nur noch eine Bestätigung
sein. Es war alles Arbeit, Dienst am Werk, Amt innerhalb einer großen
Ordnung.” In einer Unterredung Schauweckers mit einem Kameraden,
ausharrend in einem Granattrichter, wurde es “beiden unverbrüchlich
gewiß, daß 'Arbeit', wenn sie richtig begriffen wird, jegliches
Werk, jegliche Leistung ist, die für die Nation geschieht. Gebet,
Schuß, Motorbedienung, Dichtung, Befehl, Buchdruck – all dies war
und ist Arbeit. Mochte es nun Über- oder Unterordnung sein – immer
war es Einordnung in eine große Einheit Deutschlands”
(Arbeitertum, 01.05.1934, S. 24). In den hemmungslosen
Blutbesäufnissen gewannen die deutschen Ideologen die Einsicht in
die authentische Erscheinungsform von Arbeit. Die dröhnende
Artillerie war ihnen wie eine gewaltige Schmiede, die nie ruhte. Dem
Arbeitsethos der muslimischen Calvinisten dagegen haftet der Makel
des Instrumentellen an, die Erinnerung, dass Arbeit vor allem ein
Zwang ist, ist hier noch nicht ganz ausgetrieben. Arbeit verliert
sich bei ihnen nicht in der “Voraussetzungslosigkeit dieses
schlichten Dienstes” (Wilhelm Decker: Der deutsche Weg. Ein
Leitfaden zur staatspolitischen Erziehung der deutschen Jugend im
Arbeitsdienst, 1933, S. 20), sie ist ihnen viel mehr ein Medium, ein
shariah-konformes Kapital zu initialisieren und in der Konkurrenz
aufzuschließen, d.h. auch ein wesentliches Moment des Djihads gegen
die Ungläubigen in der Sphäre des Kapitals. Arbeit ist ihnen kein
Gott, kein Wert an sich, in der Fabrik wird gehetzt aber nicht
gebetet. An einen Arbeitsdienst der auf dem Markt Überflüssigen, an
denen der selbstzweckhafte Charakter der Arbeit demonstriert wird,
wie unter dem sanften Diktat von ALG II oder etwa im schlanken
Faschismus des ungarischen Fidesz-Regimes, ist in der Türkei nicht
zu denken. Die Elendigen sind hier Objekte repressiver Mildtätigkeit,
die ihre Funktion – wenn überhaupt - als Brüllvieh finden.
(21) Zu TOKİ
siehe auch das Gespräch mit Ayse Çavdar in analyse & kritik,
18.01.2013.
(22) Gezi
masumiyetini yitirmiştir, ASKON Inserat, 14.06.2013.
(23) Siehe
Erbakans Gespräch mit Die Welt.
(24)Yalçın
Küçük konuşmanın devamında, kaleme aldığı Tekeliyet-2 isimli
kitabında Gül'ün 'Sabetayist' olduğu yönündeki yazısını
hatırlatıyor. Gül'ün yazı üzerine kendisine gönderdiği ve
kitapta yer alan iddiaların doğru olmadığını anlatan mektubunun
da kullanılmasını istiyor. Aynı konuşmada Küçük'ün, "Ondan
sonra bende başka bilgiler var. Bir de çok kategorik olarak
söyleyeceğim. Türkiye'de kökeninde Ermeni olan hiç kimse Çankaya
Köşkü'ne veya Başvekâlete çıkamaz. Bir de Soner (Yalçın) ile
konuşun" diyor. In: Aktik Haber, 16.03.2011.
(25) Siehe
den youtube-Channel des TGB. Wer in der syrischen Menschenschlacht
nie etwas anderes als eine Konspiration gegen die nationale
Souveränität ersehen will, dem muss unbegriffen bleiben, dass in
Syrien neben einem blutig ausgetragenen Stellvertreterkonflikt
zwischen der khomeinistischen Despotie Iran und den
Shariah-Golfstaaten vor allem auch die Krise der arabischen Regime
durchschlägt. In Tunesien etwa besteht die florierendste Ökonomie
in der Rekrutierung der überflüssigen Jugend in den Moscheen für
den Djihad in Syrien.
(26) Z.n.
Tapferer Recep, tapferer Kemal, in: Der Standard, 06.06.2011.
(27) Siehe
Gülen: Yazıcıoğlu kazasını kurcalayın, in: Radikal,
01.04.2009; das Zitat (“Cesur ve dürüst bir Anadolu yiğidi”)
findet sich auf Herkul.org (einer Webseite der Fethullahçılık).
(28) Die
Namen der Passagiere findet man in der Vakit: Etwa Eyüp Gökhan
Özekin (BBP Genel Başkan Başmüşaviri), Muhittin Açıcı (BBP
İstanbul İl Başkan Yardımcısı) und Halis Akıncı (Denizli
Alperen Ocakları Başkanı).
(29)
Siehe den Beitrag der
Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus.
(30) BBP
Lideri'nden, Gezi Parkı açıklaması, in: IHA, 02.06.2013.
(31) Başbakan
Erdoğan Türk milletini ayırmaktadır. İmralı canisinin 29 yılda
yapamadığı kötülüğü hayata geçirmek için mücadele
vermektedir. Bahçeli in seiner Rede auf der Fraktionssitzung der MHP
am 18. Juni 2013.
(32) Die Ruhe
scheint nun auch im Südosten wieder ein Ende zu haben. Am 28. Juni
eskalierten Proteste gegen die Erweiterung eines Militärstützpunktes
in Lice, unweit von Diyarbakır. Ein junger Mann starb.
(33)
Transkript der Ansprache hier.
(34) Siehe
Erdoğans zweite Rache, in: Die Zeit, 27.06.2013.
(35)
Diyanet'in Alo Fetva hattı 'biber gazı caiz' dedi, in: Radikal,
24.06.2013.