Als Recep
Tayyip Erdoğan in der ersten Jahreshälfte eine Ansprache zur
COVID-19-Pandemie hielt, verlor der türkische Staatspräsident
natürlich auch einige Worte über „die terroristische
Organisation“, die beharrlich jenes Nordsyrien, das die türkische
Armee befriedet habe, zu infiltrieren drohe. Erdoğan sprach
selbstverständlich nicht vom staatenlosen Islamischen Staat.
Um die von
ihm gemeinte terroristische Organisation näher zu charakterisieren,
nahm Erdoğan eine eigenartige Umschreibung in den Mund: „das, was
das Schwert übrig ließ“ (auf Türkisch kurzum: kılıç artığı).
Die Metapher wird von türkischen Nationalchauvinisten gegen jene
gewendet, die dem Schwert entflohen sind, also jene anatolischen
Armenier, die die genozidalen Wogen zwischen 1894 und 1924 überlebt
haben. „Kılıç artıkları“ werden von manchem empathischen
Historiker auch jene genannt, die etwa als armenische Waisenkinder
von muslimischen Familien adoptiert und im Bewusstsein erzogen
wurden, dass sie Muslime von Geburt sind.
Aus der
Metapher spricht die ganze Perfidie der türkischen Ideologie. Der
Genozid wird nicht im Unwissen abgestritten. Die Leugnung selbst ist
das nationalchauvinistische Ritual, die Ermordeten wie Überlebenden
verächtlich zu machen, während im selben Atemzug mit Vollendung des
Vernichtungswerks gedroht wird. „Armenien wird unter seiner eigenen
Verschwörung begraben werden", drohte vor kurzem Hulusi Akar,
ein Bluthund in Ministerwürden, dem Staat der Überlebenden.
Erdoğan
sprach in seiner präsidialen Ansprache nicht von empirischen
Armeniern. Seine anti-armenische Umschreibung der „terroristischen
Organisation“ meint die Autonome Administration von Nord- und
Ostsyrien, die ihm als eine weitere Ausgeburt der ewigen Verschwörung
gegen den Staat der Türken gilt.
Es ist
inzwischen etwas mehr als ein Jahr her, als die syrische Kurdin
Hevrîn Xelef auf dem Weg nach Rakka von einer Straßensperre der
islamistischen Miliz Ahrar al-Sharqiyah überrascht wurde. Die
Milizionäre zerrten sie an den Haaren durch den Staub, schlugen auf
sie ein und richteten sie schlussendlich hin. Wenige Stunden später
besang die türkische Propaganda den bestialischen Mord als Triumph
über den Feind.
Hevrîn Xelef
war bis zu ihrem Tode Generalsekretärin einer syrischen Partei, die
im befreiten Rakka gegründet wurde, um die Idee eines säkularen und
nicht-ethnizistischen Syrien zu vertreten. Rakka – keine hundert
Kilometer entfernt von der türkischen Grenze – diente bis zu
seiner Befreiung am 17. Oktober 2017 als die apokalyptische Kulisse
der Pseudokapitale des Kalifats, in der etwa europäische Frauen
heimische Frauen auspeitschten, wenn diese auch nur im Geringsten
gegen den totalen Verhüllungszwang verstießen. Nach der Befreiung
wurde in Rakka mit Laila Mustafa eine unverschleierte Frau zur
Co-Vorsitzenden der Ziviladministration ernannt.
Aus den
Reihen von Ahrar al-Sharqiyah, integriert in die Erste Legion der von
der Türkei geführten „Syrischen Nationalen Armee“, war dagegen
in den Herbsttagen des vergangenen Jahres wieder der Slogan „baqiya“
zu hören, die Kurzform für „al-Dawla al-Islamiya baqiya“: „Der
Islamische Staat bleibt“. Der türkische Staatspräsident sprach
indes von seiner Militärkoalition als „Armee des Propheten
Muhammad“.
„Ich habe
nichts zu kritisieren“, äußerte Horst Seehofer nur wenige Tage
vor der Ermordung von Hevrîn Xelef neben seinem Amtskollegen
Süleyman Soylu in Ankara und bedankte sich für die türkische
„Solidarität“. Er sprach von der Türkei in ihrer Funktion als
Migrationspuffer. Zuvor schwor Erdoğan die „Vereinten Nationen“
ein, dass mit der Einverleibung Nordsyriens auch die Migrationskrise
enden werde. Ganz ähnlich ging auch der türkischen Aggression gegen
Afrin im Jahr zuvor ein schwülstiger Tee-Empfang von Mevlüt
Çavuşoğlu durch seinen deutschen Amtskollegen im niedersächsischen
Idyll voraus.
Einen Tag
nachdem sich Erdoğan schnaubend erhoben hatte, Emmanuel Macron zu
pathologisieren, trampelten im syrischen Ras al-Ayn bärtige Männer
in Milizkluft auf dem Porträt des französischen Staatspräsidenten
und verbrannten die französische Nationalflagge. Macron hatte sich
nach der Ermordung von Samuel Paty für einen „Islam der
Aufklärung“ und gegen einen Islam, der sich von der Republik
scheidet, ausgesprochen. Er hob zudem hervor, dass für Karikaturen
keine religiösen Tabus gelten.
Seit nunmehr
einem Jahr ist Ras al-Ayn von der türkischen Armee und den mit ihr
verbrüderten Milizen der „Syrischen Nationalen Armee“ okkupiert.
Die Grenzstadt untersteht seither der Provinzialverwaltung der nahen
türkischen Provinz Şanlıurfa. Während die französische
Nationalflagge brannte, präsentierte die Männerrotte in Ras al-Ayn den
Banner des „Islamischen Staates“. Ein Massenprotest war es nicht.
Die Rotte bestand vor allem aus Männern der Ahrar al-Sharqiyah.
Im gleichwie
okkupierten Afrin, Jarabulus und Tell Abyad wiederholte sich indes
sich die Szenerie. In Idlib verbot die mit der syrischen al-Qaida
assoziierte „Heilsadministration“ die Einfuhr französischer
Produkte. Anders als die Pioniere in Afghanistan, die sich noch in
Höhlen tarnten, herrschen in Idlib die Söhne der al-Qaida über ein
weitflächiges Territorium entlang eines Teils der südöstlichen
Grenze des Nordatlantikpakts – in friedlicher Koexistenz mit der
türkischen Armee. Während das Auswärtige Amt wie der
NATO-Generalsekretär von den „legitimen Sicherheitsinteressen“
der Türkei fabulieren, droht Erdoğan damit, „das, was das Schwert
übrig ließ“, in Nord- und Ostsyrien zu vernichten. Seit Tagen
wird Ayn Issa, wo viele Geflüchtete ausharren, von türkischer
Artillerie terrorisiert.
Erdoğans
„Armee des Propheten“ etablierte im okkupierten Nordsyrien eine
Racketökonomie aus gegenseitigen Fehden, Plünderungen und
Menschenraub. In Ras al-Ayn etwa machte die islamistische Caritas der
İHH İnsani Yardım Vakfı aus dem Zuhause zwangsenteigneter Kurden
eine Medrese, die vom Gouverneur der türkischen Provinz Urfa
höchstpersönlich inauguriert wurde. War die İHH 1997 in der Türkei
noch mit Razzien konfrontiert, nachdem sie sich als Tarnorganisation
zur Rekrutierung und Finanzierung etwa für die kaukasischen
Emirat-Startups hervorgetan hat, etablierte sie sich unter der
Protektion der Muslimbrüder als Staatssurrogat. Erdoğan öffnete
der İHH und anderen islamistischen Graswurzelorganisationen selbst
noch den zuvor streng laizistischen Bildungsapparat. Auf sogenannten
„Gedenknächten für die Märtyrer“, auf denen islamisierte
Kulturindustrie gegen Kollekte geboten wird, wird offen
ausgesprochen, in welcher Tradition sich das humanitäre Racket
rühmt: etwa die des spirituellen Führers der Hamas, Ahmed Yasin,
und des Vordenkers von al-Qaida, Abdullah Azzam.
Nur wenige
Tage nach der türkischen Okkupation von Ras al-Ayn hielt dort der
Führer der berüchtigten Miliz Jaysh al-Islam, Essam al-Buwaydhani,
die wöchentliche Khutba-Predigt, in der er die Besitznahme als
„Befreiung von den Ungläubigen“ verstanden wissen wollte. In
ihrer früheren Bastion, dem östlichen Teil von Ghouta, war die
„Armee des Islams“ für erzwungenes Verschwinden säkularer
Regimekritiker wie der „Douma 4“, eine mafiotische
Schmuggelindustrie und bestialische Folter gefürchtet. Es ist
dieselbe „Armee des Islams“, die sich östlich von Ras al-Ayn an
der Seite der türkischen Armee in einem deutschen „Leopard 2A4“
in Positur brachte.
Zur bleiernen
Rivalität islamistischer Warlords und einer florierenden
Entführungsindustrie gesellt sich eine absurde Türkifizierung. In
diesen Tagen muss sich etwa die syrische Kurdin Dozgin Temo vor einem
türkischen Strafgericht verantworten, sich gegen die „Einheit und
Integrität des Staates“ verschworen zu haben. Ihr droht
lebenslange Haft. Dozgin Temo geriet vor etwa einem Jahr unweit von
Ayn Issa in die Hände einer Miliz der Dritten Legion der „Nationalen
Armee“. Ihr Kommandeur Yasser Abdul Rahim fotografierte sich
lächelnd vor der verängstigten Frau, während es aus der
Männerrotte in Milizkluft röhrte: „Schlachtet sie“. Die Männer
gossen ihr Blei in den Fuß der Frau, später wurde sie schwer
verkrüppelt der türkischen Armee ausgehändigt.
Im
theologischen Seminar ist die türkische Ideologie nicht zu
ergründen. In der Identifizierung des Feindes sind sich der „Soldat
Mustafa Kemals“, der den Rakı liebt und den Frommen misstraut, und
der Muslimbruder, der sich über seine Verachtung für die
laizistische Republik nie ausschwieg, in einem eins. Sie teilen die
Feindseligkeit gegenüber Armeniern, weil ihr Staat auf dem Genozid
an den kleinasiatischen Christen gründet. Ihre Schuld äußert sich
in der Paranoia, die Ermordeten und Verleugneten könnten aus ihren
Gräbern aufstehen und als armenische Diaspora, in der Person des
„getarnten“ Armeniers Abdullah Öcalan oder als „Kreuzritter“
Rache nehmen.
Erdoğans
Agitation mit dem Islam ist kein revolutionäres Fanal wie noch im
Jahr 1979. Es ist viel mehr, wie es der israelische Analyst Jonathan
Spyer nennt, die Dekoration eines Staates, der vor der eskalierenden
Krise in die imperialistische Entgrenzung des terroristischen
Apparates flüchtet. Das chronische Beleidigtsein ist projizierte
Aggression. Die nationale Kulturindustrie mit ihrer Telenovela sowie
die touristischen Destinationen an der säkularen Westküste sind
relativ stabile Industrien innerhalb der türkischen Krisenökonomie.
Sie täuschen darüber, dass es mit Erdoğan der Staatspräsident
einer formal-laizistischen Republik ist, der als Wortführer in einem
globalisierten Milieu auftritt, aus dem heraus die
islamofaschistische Konterrevolution in Conflans-Sainte-Honorine und
Nizza etwa zur Tat schreitet.
Erdoğans
Ideal ist die „fromme Generation“. Diese frömmelt nicht nur: sie
ist militant organisiert, ultramilitaristisch, chronisch narzisstisch
gekränkt angesichts der klaffenden Lücke zwischen der nationalen
Glückseligkeit und der gnadenlosen Realität, selbstverschuldet
unmündig und darin noch umtriebiger im Hass auf jene, die mit dem
nationalen Kollektiv nicht identisch sind. Erdoğan, der seine eigene
Biografie als von der laizistischen Bourgeoisie verächtlich
gemachter Junge frommer Eltern zum „Freund des Volkes“, nach
dessen Leben die „Zins Lobby“ und andere halluzinierte
Intriganten trachten, zum Wesenskern seiner Agitation macht,
verfleischlicht wie kein anderer dieses Gemeinwesen der verfolgenden
Unschuld.
Am 28.
Oktober brach die „fromme Generation“ aus Franko-Türken in die
Lyoneser Vorstadt Décines-Charpieu ein. Das Banlieue wird auch
„petite Arménie“, Klein-Armenien, genannt. Die ersten Armenier,
Überlebende des Genozids von 1915, immigrierten noch in den 1920er
Jahren aus dem griechischen Thessaloniki nach Décines, wo heute auch
das Centre national de la mémoire arménienne liegt. Mit blutroter
Beflaggung und dem Gebrüll „Allahu ekber“, „Armenier, wo seid
ihr?“ und „Hier ist die Türkei“ zogen die Grünen Wölfe durch
die Straßen. Am nächsten Tag – und wenige Stunden nach den
barbarischen Morden in Nizza – wiederholte sich die Szenerie in
Dijon.
Wochen zuvor
äußerte sich Erdoğan in einer weiteren präsidialen Ansprache,
dass die Türkei entschlossen sei, zu vollenden, „was ihre Ahnen im
Kaukasus begonnen haben“. Die Äußerung wurde von vielen Armeniern
als die unverhohlene Drohung verstanden, die sie zweifelsohne ist.
Erdoğans panturkistische Ahnen, der Jungtürke Enver Paşa mit
seiner „Kaukasischen Armee des Islam“, marschierten im September
1918 in Baku ein, wo sie den Tod über Massen an Armeniern brachte.
Doch Enver
Paşa scheiterte daran, Bergkarabach, die Armenier rufen die Region
Artsakh, einzunehmen – mit Ausnahme von Shusha, wo im März 1920
ein weiteres tagelanges Massaker über die Armenier hereinbrach. Der
Jungtürke Enver Paşa personifizierte wie kein anderer den Wandel
des jungtürkischen Modernisierungsregimes hin zur genozidalen
Despotie. Ursprünglich als konspirativer Zirkel in Opposition zum
Blutsultan Abdülhamid II., eines der Idole Erdoğans, gegründet,
trafen sich unter dem Namen verschiedene nationalliberale und
modernistische Ideen, den implodierenden (Un-)Staat zu reformieren.
Unter ihren Mitbegründern und frühen Vordenkern findet sich etwa
der osmanische Kurde Abdullah Cevdet, der auch als Adüvvullah Cevdet
(„Feind Allahs“) denunziert und wiederholt der Blasphemie
beschuldigt wurde. Er war Parteigänger des Osmanlıcılık, einer
Staatsidee, die in der Gleichberechtigung aller Bürger - Muslime wie
Nicht-Muslime - bestand.
Doch
spätestens 1913 durchstierte der panturkistische als auch
prodeutsche Flügel der Jungtürken. Enver Paşa selbst war von 1909
bis 1911 Militärattaché in der osmanischen Repräsentanz in Berlin.
Sein Verdienst war es auch, dass deutsche Offiziere höchste
Funktionen in der osmanischen Armee einnahmen. Die Orientalistik im
Deutschen Reich beförderte den panturkistischen Wahn, den sich Enver
Paşa hingab, solange die strategischen Interessen korrelierten. Der
deutsche Marineattaché und „Milchbruder“ von Enver Paşa, Hans
Humann, schrieb später, dass die Ausrottung der anatolischen
Armenier „nützlich“ gewesen sei.
Wie ein
dunkler Schatten lag der Genozid im osmanischen Rumpfreich über den
Südkaukasus. Hunderttausende Überlebende flüchteten in die Region,
die dem Reich nicht zugehörig war und auch die Militanz armenischer
Nationalisten schritt mehr und mehr voran. Die Armenische
Revolutionäre Föderation spekulierte noch 1909 auf die Jungtürken
– gegen den Schlächter Abdülhamid II., unter dessen Despotie
zwischen 1894 und 1896 Massen an Armeniern massakriert wurden. Noch
im Juli 1914 rief die Föderation auf, dass die Armenier loyal zu dem
Staat sein sollten, in dem sie leben, um nicht zwischen dem
russischen und osmanischen Reich aufgerieben zu werden.
Im Mai 1918
überschritt die osmanische Armee nach dem Friedensvertrag von
Brest-Litowsk die Grenze zum armenischen Teil der zuvor ausgerufenen
Transkaukasischen Föderation. Am 26. Mai 1918 konnte der Vormarsch
der osmanischen Armee bei Sardarapat aufgehalten werden, doch das
Gouvernement Yerevan blieb zunächst weitflächig okkupiert. Die
Transkaukasische Föderation scheiterte wenig später. Angesichts der
Bedrohung durch die osmanische Armee ersuchte Georgien das Deutsche
Reich um militärische Protektion, das dafür ökonomische
Privilegien erhielt. Georgien trat in der Folge aus der Föderation
aus. In Baku und Peripherie kollaborierten indessen armenische
Nationalisten mit den Bolschewisten. Widerstände aserbaidschanischer
Nationalisten, wie die der Müsavat Partei, wurden gnadenlos
zerschlagen. Morde an aserbaidschanischen Muslimen, die die
Bolschewisten als Klassenkampf des Bakuer Proletariats gegen die
aserbaidschanische Bourgeoisie und den reaktionären Adel verklärten,
drängten diese schlussendlich in die Arme der vorstoßenden
Jungtürken.
Am 102.
Jahrestag des Einmarsches nach Baku hielt Erdoğan eine historische
Ansprache über die Gründung der kaukasischen „Islamischen Armee“
und der Befreiung von Baku. Innerhalb der „Syrischen Nationalen
Armee“ werben türkische Rekrutierer eine neue „Islamische Armee“
für den Südkaukasus an. Syrian Observatory for Human Rights spricht
von 293 bis zum 15. November in Bergkarabach gefallenen Syrern. Dabei
fällt es den türkischen Anwerbern schwer, die Syrer zu überzeugen.
Denn das „Brudervolk“ der Aserbaidschaner ist mehrheitlich
schiitisch, also verhasste „Ablehner“ des „ursprünglichen“
Islams – und das auch noch augenfällig säkular*. Die türkischen
Anwerber vertrauen vor allem auf syrische Turkmenen, die durch
panturkistische Propaganda und finanzielle Anreize als Frontvieh
gewonnen werden.
Der
Propagandaapparat des Nachfolgestaates jenes genozidalen
Jungtürken-Regimes von 1915 fordert heute, wie jüngst İbrahim
Karagül in der Yeni Şafak, die Okkupation des südlichen Armeniens,
um die Bruderstaaten zu vereinigen. Die stärkere
Hinwendung Erdoğans zur panturkistischen Solidarität hat auch ihre
Gründe im Scheitern in Syrien. Im September 2012 – die Katastrophe
brach wenige Wochen gnadenlos über Aleppo herein – kündete
Erdoğan davon, dass er alsbald das Gebet in der Damaszener
Umayyaden-Moschee ausführen wird. Zuvor wurde in Ägypten der
Muslimbruder Muhammed Mursi als Staatspräsident vereidigt. Eine
türkisch-arabische Staatsachse der Muslimbrüder schien näher als
je zuvor.
Doch der
Marsch der ägyptischen Muslimbrüder in den Staatsapparat nahm früh
ein abruptes Ende. Und in Syrien ist das türkifizierte Ras al-Ayn
weit von der Damaszener Umayyaden-Moschee entfernt. Dafür hat sich
das türkische Regime Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinigten
Arabischen Emirate zu Feinden gemacht. Die Rivalität zwischen der
Türkei und diesen Staaten bläht auch das Krisenpotenzial der
türkischen Ökonomie weiter auf. In Saudi-Arabien, ein relevanter
Markt für türkische Waren, wurde vor einigen Tagen eine noch
inoffizielle „Kampagne des Volkes für den Boykott türkischer
Produkte“ initiiert.
In den
arabischen Staaten sind es vor allem Imame und Agitatoren aus dem
Milieu der Muslimbrüder, die für Erdoğan das anti-französische
Boykottspektakel inszenieren. Waren die Muslimbrüder zunächst noch
als Sieger aus der ägyptischen Revolution des 25. Januar 2011
hervorgegangen, sind sie, wie auch rivalisierende Fraktionen des
politischen Islams, bei den jüngeren revolutionären Umwälzungen
und Massenprotesten kaum noch relevant. Etwa im Sudan, wo unter den
Revolutionären die Kritik an der panarabischen Lüge sowie der
misogynen Justiz omnipräsent war, oder im Libanon, wo ein säkularer
Staat eingefordert wird, der nicht Beute konfessioneller Rackets ist.
Der in diesen
Tagen einzige Massenprotest in einem arabischen Staat wird in Europa
indes tot geschwiegen und von den faschistischen Staatsbestien in
Ankara und Teheran gefürchtet. Seit nunmehr einem Jahr protestiert
die irakische Jugend in Baghdad und dem Südirak. Während sich am
25. Oktober in Ras al-Ayn und anderswo im okkupierten Nordsyrien das
Brüllvieh Erdoğans gegen Macron empörte, forderten die irakischen
Sozialrevolutionäre in Baghdad und anderswo ein Ende des Milizwesens
sowie eine Änderung der Verfassung, die die Despotie der Rackets –
vor allem der politischen Shia – institutionalisiert hat. Junge
unverschleierte Frauen, die ein herausragender Teil der Proteste
sind, erzählen, dass sie sich im Irak nie zuvor so frei und
geschützt fühlten wie auf dem revolutionären Midan at-Tahrir in
Baghdad.
Seit dem
Massaker in der Redaktion von Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 wurden
in Frankreich 259 Menschen durch Rachekommandos des Propheten
ermordet. Und der Staatspräsident eines Mitgliedsstaates des
Nordatlantikpaktes ruft in Reaktion auf die jüngsten barbarischen
Morde in Conflans-Sainte-Honorine und Nizza zum Boykott französischer
Produkte auf, während seine Claqueure auf Porträts des
französischen Staatspräsidenten trampeln. Die Frage wäre also
nicht so sehr eine nach dem Einzeltäter oder der Verantwortung des
„Islamischen Staates“ für die jüngsten Morde. Es ist mit
Erdoğan – neben Pakistans Imran Khan – der Präsident eines
Staates, von dessen legitimen Sicherheitsinteressen in Berlin,
Brüssel und Washington D.C. ständig geraunt wird, der die
„jihadistische Atmosphäre“ (Gilles Kepel) mehr anreizt als noch
jeder YouTube-Imam. Eine unmissverständliche Solidaritätserklärung
mit den Franzosen kam indessen von Mazlum „Kobanê“ Abdi,
Oberkommandierender des Verteidigungsheeres der Autonomen
Administration von Nord- und Ostsyrien.
Es ist nicht
allein der Ehrenrettung des Propheten geschuldet, dass Erdoğan die
türkisch-französische Krise ausreizt. Macron verfolgt in
Nordostsyrien, Libyen und der Ägäis divergierende Interessen und
kritisierte mit Blick auf den Südkaukasus die Aggressivität, mit
der Ankara seine Interessen verfolgt. Erdoğans Stimulation des Zorns
der Ummah ist ein Instrument, Kumpanen und Rivalen einzuschüchtern
und zu erpressen. Die anderen Europäer, allen voran die Deutschen,
haben in der jüngeren Vergangenheit hinlänglich veranschaulicht,
dass die türkischen Dreistigkeiten von Erfolg beschieden sind. Für
einige hunderttausend weniger Geflüchtete und ihren ökonomischen
Interessen haben sie bei der Islamisierung von Afrin und der
Wiederkehr des „Islamischen Staates“ nach Ras al-Ayn
allerhöchstens geraunt und bei Bergkarabach sich dann nur noch
ausgeschwiegen.
Wie zuvor in
Afrin hat Vladimir Putin auch über Artsakh seine schützende Hand
allein entfaltet, um dieses wenig später an die Wölfe zu
verfüttern. Shusha, von wo aus die Artillerie das tiefer gelegene
Stepanakert, Hauptstadt der Republik Artsakh, bedroht, sowie weite
Teile im Süden werden Aserbaidschan zugeschlagen. Darüber
hinaus muss Armenien den Puffer zwischen sich und Bergkarabach
abtreten. Die Isolation der verbliebenen Rumpfrepublik Artsakh wird
allein noch über den Lachin-Korridor, der nunmehr an das russische
Militär abgetreten wird, unterbrochen. Somit ist das Überleben der
Republik Artsakh – oder das, was von ihr verblieben ist –
vollends vom russischen Kalkül abhängig. Armenien ist unterdessen
verpflichtet, im Süden eine Transitroute zwischen der Türkei, der
aserbaidschanischen Exklave Nakhchivan und Aserbaidschan aufzumachen.
Auch diese wird von den Russen überwacht werden.
Während
Putin in Bergkarabach den Konfliktparteien demonstriert, dass einzig
er als Friedensrichter legitimiert ist, kitzeln die Parteien des
Ancien Régime den Volkszorn über den „nationalen Verrat“. Die
Partei des Oligarchen Gagik Tsarukyan, „Blühendes Armenien“,
hatte jüngst eine Mehr-Parteien-Erklärung initiiert, in der die
Amtsabtretung von Nikol Pashinyan gefordert wird. Schuld an der
Katastrophe in Artsakh, so das Manifest der russophilen Reaktionäre,
sei die „Entfremdung“ Armeniens vom russischen Schutzherr.
In Wahrheit
bestraft Putin Armenien für die „samtene Revolution“, mit der im
Jahr 2018 die mafiotischen, zu ihm loyalen Parteien aus dem
Staatsapparat gedrängt wurden. Inzwischen kann sich Armenien für
keinen anderen Schutzherrn mehr entscheiden. Dabei hatte sich Donald
Trump noch Ende Oktober um das Vertrauen der armenischen Diaspora
bemüht: „We’re working with Armenia.We have a very good
relationship with Armenia – they’re very good people, they’re
so dedicated, they’re incredible people, and we’ll see what
happens.“
Die Situation
ähnelt der in Nordsyrien, wo der Autonomen Administration von Nord-
und Ostsyrien Alliierte zugeschrieben wurden, die sie nie hatte. Die
Islamische Republik Iran in der Person Ali Khamenei erklärte noch
vor wenigen Tagen die Rechtmäßigkeit der Befreiung
aserbaidschanischen Territoriums. Die khomeinistische Despotie
fürchtet die Azeri im Nordwesten Irans, bei denen die
panturkistische Propaganda längst angekommen ist. Khamenei blieb
nichts anderes übrig, als der revanchistischen Atmosphäre unter den
iranischen Aserbaidschanern rhetorisch zu entsprechen.
Das
Staatsvolk der Republik Aserbaidschan ist selbst mehrheitlich
schiitisch, aber augenfällig säkular – in Baku sind Frauen, die
ihr Haar verhüllen, eine Minderheit – und hat wenig Begeisterung
für die panislamisch-antizionistische Ideologie der Khomeinisten. Es
ist alles andere als zufällig, dass es Aserbaidschan ist, wo Israel
sich als loyaler Partner eines muslimischen Staates anempfehlen
konnte – natürlich auch aus ökonomischen Interessen viel mehr
aber als Absicherung gegenüber der khomeinistischen Despotie.
Bislang war Aserbaidschan so flexibel, die antiisraelische Wendung
des türkischen Bruderstaates nicht mitzumachen.
Es scheint
nicht zufällig zu sein, dass es vor allem Pakistan mit dem
frömmelnden Nationalhelden im Cricket als Premierminister war, das
sich an Erdoğans anti-französischer Kampagne beteiligt hat.
Islamistische Parteien wie die Tehreek-e-Labbaik fungieren in
Pakistan als Todesschwadron der pakistanischen Blasphemiegesetze.
Angesichts des Mangels an arabischen Staatskumpanen – mit Ausnahme
von Katar und Kuwait – forciert das türkische Regime eine strategische
Allianz mit Pakistan – übrigens der einzige Staat, der Armenien
nicht anerkannt hat.
Und so kam es
in Baku nach der Kapitulationserklärung der Republik Artsakh zu
eigenartigen Szenen, wo neben der türkischen und pakistanischen
vereinzelt auch die israelische Nationalflagge geschwenkt wurde.
Bislang war der Clan um Ilham Aliyev, der das Präsidentenamt vom
Vater Heydar Aliyev erbte, vor allem nach Anerkennung von Europäern
und US-Amerikanern bestrebt. Die Heydar-Aliyev-Stiftung mit der
Präsidentengattin Mehriban Aliyev als Vorsitzende beteiligte sich in
jüngerer Vergangenheit demonstrativ etwa an der Finanzierung der
Restaurierung des Pariser Louvre und der Sixtinischen Kapelle im
Vatikan.
Ilham Aliyev
konnte sein mafiotisches Klientelregime mit dem Vorstoß nach
Bergkarabach zumindest vorerst stabilisieren. Die revanchistische
Aggressivität bändigt auch einen nicht geringen Teil der
Regimekritiker. Einer der Kritiker der nationalchauvinistischen
Atmosphäre dagegen ist der aserbaidschanische Literat Akram Aylisli.
In dessen Erzählung „Steinträume“ aus dem Jahr 2012 wird mit
den anti-armenischen Pogromisten von Baku 1990 sowie der „Islamischen
Armee“ in Nakhchivan 1918 zu Gericht gegangen. Der nationalistische
Boulevard begann in der Folge mit einer bösartigen
Verleumdungskampagne gegen den Literaten. Auf behördlich
organisierten Protesten wurden die inkriminierten Schriften
verbrannt. Der Vorsitzende der Nationalversammlung, Ogtay Asadov,
schnaubte: „Jeder, der auf der Seite von Aylisli ist, hat etwas
Verdächtiges im Blut.“ Für Aylisli selbst forderten Abgeordnete
der Nationalversammlung eine genetische Analyse. Es kursierten
Parteiaufrufe zur Verstümmelung des Literaten. Ilham Aliyev, der
Herr im Irrenhaus, erkannte ihm schlussendlich die Pension ab.
Im selben
Jahr wurde Ramil Seferov in Aserbaidschan als Nationalheld empfangen.
Der aserbaidschanische Leutnant hatte 2004 in Ungarn einen
schlafenden armenischen Soldaten mit einer Axt bestialisch ermordet.
Die Soldaten waren Teilnehmer an der NATO-Initiative „Partnership
for Peace“. Als Seferov nach Verbüßung eines Teils seiner
Haftstrafe von Ungarn nach Aserbaidschan überführt wurde,
begnadigte Aliyev den Mörder. Er wurde alsdann zum Major befördert.
Solch
rassischen Irrsinn findet sich zweifelsohne auch bei armenischen
Nationalisten. Doch während sich diese auf die Verteidigung
Ostarmeniens konzentrieren – im historischen Westarmenien
existieren keine Armenier mehr –, ist der panturkistische Wahn
völlig entgrenzt und fungiert als Legitimationsideologie eines
aggressiv-imperialistischen Regimes, das sich panislamisch als Rächer
der „entehrten“ Muslime und zugleich als panturkistischer
Schutzherr der „bedrängten“ Turkvölker geriert. Eine Ausnahme
macht Erdoğan für die Uiguren in der chinesischen Krisenregion
Xinjiang. Diese würden, so wird der türkische Staatspräsident in China zitiert, aufgrund
der ökonomischen Prosperität Chinas glücklich leben.
„Ich sage
zu meinen aserbaidschanischen Geschwistern: Möge Euer Ghazwa
gesegnet sein“, so Erdoğan, nachdem wenige Tage zuvor die
Militärkampagne gegen die Republik Artsakh begonnen hatte. „Gazanız
mübarek olsun“, so im Türkischen, sprach früher der Sultan zur
Armee, wenn ein nächster Eroberungsfeldzug anstand. Ghazwa,
„Beutezug“, hat seinen Ursprung in den vorislamischen
beduinischen Gemeinwesen Arabiens. Die Schriftführer des frühen
Islams haben das Wort übernommen. „Möge Euer Ghazwa gesegnet
sein“, sprach auch der Muslimbruder Temel Karamollaoğlu am 2. Juli
1993 zur Pogromrotte im zentralanatolischen Sivas, die sich durch die
Anwesenheit von Aziz Nesin, der „Die satanischen Verse“ ins
Türkische übertrug, provoziert fühlte. Wenig später verbrannten
37 Menschen – unter ihnen etwa der Karikaturist Asaf Koçak.
Vor dem 27.
September, als der aserbaischanische Vorstoß auf Bergkarabach
begann, lebten in der Republik Artsakh um die 150.000 Armenier.
Inzwischen sind mehr als 90.000 Armenier geflüchtet. Aus dem
syrisch-kurdischen Afrin flüchteten im Jahr 2018 bis zu 250.000
Menschen als „mit Allahs Bewilligung“ die türkische Armee „die
Terroristen im Feuer“ verbrannte (so etwa İsmet Büyükataman,
Generalsekretär der Partei der Grauen Wölfe, der Milliyetçi
Hareket Partisi). Im vergangenen Jahr flüchteten über 300.000
Menschen während der türkischen Aggression gegen Nordsyrien.
Während das deutsche Auswärtige Amt sich für „Solidarität mit
der Türkei“ nicht nur als Migrationspuffer entschieden hat, ist
die demografische Umwälzung Nordsyriens und in diesen Tagen in
Bergkarabach eine der Instrumentarien des faschistischen Regimes.
* Nach der
„Islamischen Revolution“ 1979 im Iran bemühten sich
khomeinistische Imame in der Peripherie vom Nakhchivan, das unweit
zum Iran liegt, sowie zwischen Baku und Lankaran um die Agitation der
aserbaidschanischen Schiiten. Doch der Erfolg war bescheiden. 1995
verbot das Aliyev-Regime die Islamische Partei, die für eine
Annäherung an den Iran warb, die Propaganda von der „Islamischen
Revolution“ wurde kriminalisiert.