Freitag, 27. Dezember 2024

»Wir haben weder die Treuepflicht noch den Schwur gebrochen« Flugschrift über die Staatsübernahme Syriens

 

»Wir werden so Allah will in der Umayyaden-Moschee in Damaskus unser Gebet ausführen«, versprach Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2012 ein baldiges Ende des Baʿth-Regimes. Es sollte bekanntlich noch Jahre dauern. Am 13. Dezember 2024 betete dann İbrahim Kalın, Direktor des türkischen Aufklärungsdienstes MİT, demonstrativ in der Umayyaden-Moschee. Kalın sprach als junger Mann von Ruhollah Khomeini noch als dem »Imam der revolutionären Muslime« und bewegte sich in einem ideologischen Milieu, das von der khomeinistischen Staatsübernahme 1979 inspiriert war, lange bevor er zu einem engen Vertrauten des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan wurde. Der Sohn des Staatspräsidenten, Bilal Erdoğan, ruft indessen für den 1. Januar unter dem imperialen Slogan »Gestern die Hagia Sophia, heute die Umayyaden-Moschee, morgen die al-Aqsa« zu einer Massenchoreografie in Istanbul auf.

 Einen Tag vor dem türkischen MİT-Direktor sprach der Geistliche Abdullah al-Muhaysini in der Damaszener Umayyaden-Moschee über den Märtyrertod und die paradiesischen Paläste der »syrischen Märtyrer«. Als Garde du Corps umgaben Männer der Hayʼat Tahrir al-Sham den Geistlichen. Das Paradies und seine Verheißungen zu rühmen, scheint eine Passion von al-Muhaysini zu sein. Im Jahr 2016 grinste er unweit der Front in ein Kameraobjektiv und pries den nahenden Märtyrertod eines Halbwüchsigen, dem er eine paradiesische Belohnung aus schwarzäugigen Jungfrauen versprach. Der Märtyrer mit dem puerilen Antlitz, der aus dem saudischen Buraidah an die syrische Front geschleust wurde, brachte wenig später in Aleppo seinen Leib zur Detonation. Das Grinsen des Geistlichen im Angesicht des suizidalen Kindstodes ist eine der verstörendsten Szenen der syrischen Katastrophen.

 In dem Milieu der Salafiyya-Geistlichen trat Abdullah al-Muhaysini mit einer Parteinahme für Erdoğan hervor, nachdem dieser von einer anderen salafistischen Autorität als »Heuchler« denunziert wurde, da Erdoğan Staatspräsident eines »säkularen Regimes« sei, in dem die Shariah keine Geltung habe. Al-Muhaysini entgegnete: Erdoğan sei »ein fleißiger Muslim, der für Allahs Religion glüht« und bemüht sei, die laizistische Republik nachhaltig zu verändern. Der Geistliche legitimierte zugleich die Kollaboration der Tahrir al-Sham mit jener blutroten Republik, deren Grenzen identisch sind mit der südöstlichsten Flanke des Nordatlantikpakts.

 Zu Beginn des Jahres 2014 bemühte sich der Einflüsterer des Todes noch als Mediator zwischen der al-Nusrah Front, der Ahrar al-Sham und dem treubrüchigen Islamischen Staat. Al-Muhaysini plädierte für ein überparteiliches Shariah-Gericht, welches die andauernden Uneinigkeiten zwischen den Rivalen hätte schlichten sollen. Doch der Versöhnungsprozess scheiterte bekanntlich. Ein halbes Jahr später ernannte sich Abu Bakr al-Baghdadi selbst zum Kalifen und desavouierte damit den Emir der al-Qaida, Ayman al-Zawahiri.

 Al-Muhaysini kam in jenen Tagen, als er grinsend den suizidalen Kindstod pries, eine herausragende Funktion bei der Etablierung der Jaysh al-Fatah zu. Die Jaysh al-Fatah war eine Koalition der al-Nusrah Front mit der Ahrar al-Sham, der Muslimbrüder-nahen Faylaq al-Sham sowie kleineren Salafiyya-Brigaden innerhalb des ideologischen Radius von al-Qaida. Al-Muhaysini ernannte Osama bin Laden und Mohammad Omar zu Idolen der syrischen Militanten, da es den beiden gelungen sei, die Supranationalität der al-Qaida mit den nationalen Anstrengungen der Taliban zu vereinen. Nach dem Tod von Mullah Omar pries die Ahrar al-Sham die Taliban und ihren Emir dafür, dass sie ihnen gelehrt hätten, »wie das Emirat in die Herzen gepflanzt wird«, bevor dieses zur territorialen Wirklichkeit werde. Ahrar al-Sham wurde mitbegründet vom Afghanistan-Veteranen Abu Khalid al-Suri, einem weiteren Emissär von al-Zawahiri in Syrien. Unter der Jaysh al-Fatah erfolgte im Jahr 2015 nach und nach die Übernahme des Gouvernements Idlib. Die Protagonisten der Koalition, die al-Nusrah Front (unter dem Re-Design: Fatah al-Sham) und Fraktionen der Ahrar al-Sham, gründeten mit kleineren Salafiyya-Brigaden am 28. Januar 2017 die Hayʼat Tahrir al-Sham.

 Nach jahrelangen Einkesselungen, getakteten Bombardements und apokalyptischen Grabenschlachten zwischen Betonschluchten mit hunderttausenden Toten und noch mehr Geflüchteten konnten im Dezember 2024 die Adepten der al-Qaida innerhalb weniger Tage und ohne lang andauernde Konfrontationen einen Großteil Syriens einnehmen. Die Armee des Baʿth-Regimes war kollabiert, die Hezbollah gelähmt, der russische Kreml und die khomeinistische Despotie zu zögerlich darin, weiterhin in das ruinöse Regime zu investieren. Noch zügiger, als der Tahrir al-Sham der Durchmarsch gelang, sind sich die Militanten einig geworden, jene provinzielle Administration, die Tahrir al-Sham im November 2017 im rural geprägten Idlib etabliert hat, als Staatsprovisorium für ganz Syrien zu übernehmen. Dieselben frommen Männer jenes De-facto-Emirats in Idlib haben nunmehr die Staatsministerien übernommen. Mohammad Abdul Rahman, der mit dem Ministerium für innere Affären und somit auch der Institutionalisierung einer Moralaufsicht vertraut wurde, führte 2015 die militärischen Operationen der Jaysh al-Fatah in Muhambal, einem Subdistrikt von Ariha im Gouvernement Idlib. Mohammad al-Omar, nunmehr Kommunikationsminister im Staat von al-Julani, war Public Relations Agent der Jaysh al-Fatah.

 Als einer der Gründungspersönlichkeiten der Hayʼat Tahrir al-Sham soll sich Abdullah al-Muhaysini in den vergangenen Jahren von ihr getrennt und aus Furcht, in den Rädchen der Rivalität zerquetscht zu werden, in der Türkei ausgeharrt haben. Al-Muhaysini fremdelte zudem mit so mancher etatistischen Anforderung des Staatssurrogats in Idlib, so etwa mit der Pandemiepolitik, die das Gedränge in den Moscheen zu reglementieren bemühte. Nun aber scheint es ganz so, dass sich al-Muhaysini mit al-Julani versöhnt habe. Er schmeichelt in diesen Tagen al-Julani für seine Demut und Frömmigkeit. Aus der befreiten Umayyaden-Moschee grüßt dieser Tage auch Musa Olgaç, ein türkischer Veteran der al-Qaida. Er betet für die Ausrottung der Juden, während eine türkische Salafiyya-Brigade in Hama unter dem Gebrüll »Khaybar, Khaybar, oh ihr Juden« verheißt, dass das Baʿth-Regime nur ein schwacher Feind gewesen sei und die Schlacht gegen den Hauptfeind nahe.

 Eine hell flackernde Flamme der Hoffnung erkennt indessen António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, in diesen Tagen in Syrien, während das US-amerikanische State Department von einer »historischen Chance« spricht. Woher diese Zuversicht? Al-Julani und seine Hayʼat Tahrir al-Sham verfolgen geduldig, aber beharrlich die Zentralisation der Souveränität. Nicht allein unter dem Baʿth-Regime verschwanden Tausende in Todesfabriken sadistischer Qualen. Auch die al-Nusrah Front und die Hayʼat Tahrir al-Sham unterhielten in ihren Territorien viele kleinere Varianten von Sednaya. Noch vor einem halben Jahr war die Tahrir al-Sham in Idlib mit Protesten konfrontiert. Sie wurde dafür kritisiert, das repressive Regime nachzuahmen. Auf den Protesten wurde unverhohlen eine Strafverfolgung von al-Julani gefordert. Unter ihrem Emir al-Julani etablierte die al-Nusrah Front die suizidale Rame an der syrischen Front. Einer der sich Opfernden war der US-Amerikaner Munir Mohammed Abu Salha alias Abu Hurayra al-Amriki. Er war mit Omar Mateen, dem Mörder von 49 Gästen des Pulse-Clubs in Orlando, bekannt, der in Florida in derselben Moschee betete. Mateen nannte die suizidale Kamikaze von Abu Salha eine Inspiration für das Massaker an Homosexuellen. In der Fronthymne der al-Nusrah Front besangen ihre Männer jahrelang den 11. September 2001. Abdoullakh Anzorov, der Mörder von Samuel Paty, rühmte Tahrir al-Sham, die infolge des bestialischen Mordes am 16. Oktober 2020 und Erdoğans Kampagne gegen Emmanuel Macron französische Produkte aus Idlib verbannte.

 Es ist kein Bruch in der jüngeren Biografie von Abu Mohammad al-Julani, dem Haupt der Tahrir al-Sham, zu erkennen. Anders als Abu Bakr al-Baghdadi und andere Veteranen aus dem ideologischen Radius von al-Qaida, die inzwischen tot sind, war al-Julani ausdauernd in seiner Bewegung in den Staat. Im Jahr 2011 wurde al-Julani vom Emir des Islamischen Staates im Irak, Abu-Bakr al-Baghdadi, und dem Generalkommando der al-Qaida nach Syrien entsandt. Dort gründete al-Julani mit weiteren Veteranen der al-Qaida die al-Nusrah Front, eine straffe Kaderorganisation. Nach dem Schisma zwischen dem Islamischen Staat und al-Qaida kritisierte die al-Nusrah Front die Ungeduld von al-Baghdadi bei der Einführung der Shariah und der Hudud-Strafen, die die Syrer entfremden würden. Die Implementierung des islamischen Rechts müsse, so die Differenz zum Islamischen Staat, zunächst durch Überzeugungskampagnen der Weg bereitet werden. Als die Soldaten des Kalifats im Januar 2015 eine des Ehebruchs beschuldigte Frau zu Tode steinigten, tötete die al-Nusrah Front Frauen für dasselbe Delikt mit gegossenem Blei.

 Im Unterschied zum Islamischen Staat verfolgte al-Julani von Beginn an eine Strategie, mit der die rivalisierenden Fraktionen der militanten Opposition von der al-Nusrah Front abhängig gemacht wurden. Wie in einem Zyklus forcierte al-Julani Koalitionen, mit denen Vorstöße möglich wurden, und konfrontierte sodann die Koalitionäre, wenn die Aussicht auf territoriale Alleingeltung bestand. Während im Herbst 2014 drohte, dass Kobanî an den Islamischen Unstaat fällt, verdrängte die al-Nusrah Front in Kooperation mit der Ahrar al-Sham und Jund al-Aqsa herausragende Fraktionen innerhalb der Freien Syrischen Armee aus den Gouvernements Idlib und Aleppo. Die Slogans der Jund al-Aqsa, eines weiteren Brandings der al-Qaida in ihrer Strategie der Diversifizierung, verkündeten: »Mädchen, kleidet euch mit dem Niqab oder wir schneiden eure Hälse durch«. Die Syrische Revolutionsfront und das Harakat Hazzm wurden nahezu völlig aufgerieben. Ihre US-amerikanische Rüstung fiel an die syrische al-Qaida. Die Hauptfraktionen der Harakat Hazzm desertierten zur al-Shamiyah Front. Die al-Nusrah Front schuf so eine ganz eigene Nahrungspyramide unter den Fraktionen der militanten Opposition.

  Zu Beginn des Jahres 2015 erfolgte durch den Emir der al-Qaida, Ayman al-Zawahiri, die Direktive an al-Julani, die al-Nusrah Front an die Anforderungen einer nationalen Revolution zu adaptieren und die Kooperation mit anderen islamischen Militanten zu intensivieren. Als al-Julani 2016 die al-Nusrah Front in Fatah al-Sham umbenannte, dankte er al-Zawahiri. Während der Verkündigung saß Abu Faraj al-Masri, ein Veteran des ägyptischen al-Jihad und Weggefährte von al-Zawahiri, neben ihm. Noch als Emir der al-Nusrah Front wusste al-Julani, dass Ungeduld und Übereifer keine Tugenden sind, mit denen man Staaten begründet. Und anders als der Islamische Staat waren al-Julani und seine Männer von Beginn an bemüht, die Sozialstruktur der Stämme und Clans zu infiltrieren.

 Der Abschied von al-Qaida, der mit der Etablierung von Hayʼat Tahrir al-Sham endgültig wurde, gründet nicht etwa in einer ideologischen Wandlung. Abd al-Rahim Atoun, der ranghöchste Geistliche in der Tahrir al-Sham und ein enger Vertrauter von al-Julani, spricht ausführlich über die Trennungsgründe: Der Emir der al-Qaida hätte zunächst eine Vereinigung der al-Nusrah Front mit der Islamischen Front um Ahrar al-Sham und der Muslimbrüder-nahen al-Tawhid Brigade favorisiert gehabt. Al-Zawahiri autorisierte sogleich Abu Khalid al-Suri, Emissär der al-Qaida innerhalb der Ahrar al-Sham, der Vereinigung den Weg zu bereiten. Die al-Nusrah Front dagegen sprach sich gegen das Vorhaben aus. Da eine solche Vereinigung einzig äußerlich wäre, aber die Fraktionen weiterhin getrennt sein würden. Atoun spricht unverhohlen über die Autoritätskrise innerhalb der al-Qaida. Die Abwägungen der al-Nusrah Front, des durch den Treueeid gebundenen syrischen Zweigs der al-Qaida, wären sträflich übergangen worden, während 2/3 des Entscheidungsgremiums in aller Ferne von der Front in einem feindlichen Staat ausgeharrt habe.

 Nach dem Ende des 1sten Emirats der Taliban im Jahr 2001 sind mehrere ranghohe Kader der al-Qaida in den Iran geflüchtet. Unter ihnen Saif al-Adel, der nach dem Tod von Ayman al-Zawahiri Emir der al-Qaida werden sollte. Es gibt naheliegende Gründe für al-Julani jenen Kadern der al-Qaida gegenüber skeptisch zu sein, die vom khomeinistischen Regime, dem Feind an der syrischen Front, beaufsichtigt werden. Abu Mariyah al-Qahtani, ein Veteran der irakischen al-Qaida und Mitbegründer der al-Nusrah Front, rief im Jahr 2023 zur Abrogation der al-Qaida auf, da es ein Paradoxon sein, dass ihre Organisation der Ahl as-Sunna vom häretischen Iran aus kommandiert werde. Saif al-Adel könne als Geisel des khomeinistischen Regimes unmöglich »Befehle erteilen, die den Interessen der Iraner schaden könnten«.

 Die Umbenennung der al-Nusrah Front in Fatah al-Sham gründete, so Abd al-Rahim Atoun, in denselben Überlegungen, wie sie sich zuvor al-Zawahiri gemacht habe. Was fälschlich als Bruch mit al-Qaida verstanden wurde, sollte vielmehr das initiale Moment einer Vereinigung ihres syrischen Zweiges mit den anderen relevanten islamischen Fraktionen sein. Eine unausgesprochene Loyalität zur al-Qaida, so Atoun, hätte weiterhin Bestand gehabt. Al-Julani habe gegenüber dem Gremium der al-Qaida geäußert: »…wenn Sie einverstanden sind, machen wir weiter, und wenn Sie nicht einverstanden sind, beenden wir es«. Abu al-Khayr al-Masri, ein treuer Leutnant von al-Zawahiri, und Abu al-Qassam, der 2015 vom Iran nach Syrien aufgebrochen war, waren einverstanden. Doch die iranische Fraktion der al-Qaida um Saif al-Adel widersprach vehement, sodass auch Abu al-Qassam widerrief. Abu al-Khayr al-Masri indes habe al-Julani darin aufgefordert, sein Vorhaben weiterhin zu verfolgen. Vor dem Fall von Aleppo im Jahr 2016 hätten noch nahezu alle Fraktionen der Koalition Jaysh al-Fatah einer Vereinigung beigepflichtet. Unter ihnen Ahrar al-Sham und Harakat Nour al-Din al-Zenki. Doch die Bemühungen sollten zunächst noch an Partikularinteressen scheitern.

 Zu Beginn des Januar 2017 intensivierte die US-amerikanische Airforce ihre Kampagne gegen die Fatah al-Sham, dem Re-Design der al-Nusrah Front. Die Fatah al-Sham beschuldigte rivalisierende Militante, für die US-Amerikaner Aufklärungsdienste zu übernehmen. Am 20. Januar begann Fatah al-Sham in Idlib mit Vorstößen gegen Ahrar al-Sham und die al-Shamiyah Front. Auch die Faylaq al-Sham und weitere Fraktionen der Jaysh al-Fatah, mit der zuvor noch die Einnahme von Idlib gelungen war, wurden schwer konfrontiert. Ganze Fraktionen der Ahrar al-Sham desertierten und etablierten am 28. Januar mit der Fatah al-Sham und kleineren Salafiyya-Brigaden die heutige Hayʼat Tahrir al-Sham. Abd al-Rahim Atoun, der ranghöchste Geistliche der Tahrir al-Sham, sieht in der Vereinigung eine Verwirklichung der Forderung von al-Zawahiri nach einem islamischen Mega Merger: »Wir haben weder die Treuepflicht noch den Schwur gebrochen«. Zugleich hieß es nunmehr vom Generalkommando der Tahrir al-Sham: »Wir wollten nicht den Islam der Höhlen«. Gezwungen in Höhlen auszuharren, war al-Qaida in ihren vergangenen Tagen in Afghanistan. Die Tahrir al-Sham wollte nunmehr den ganzen Staat. Mit überwältigenden Erfolg: Die syrischen Ministerien wurden ihnen jüngst in Gänze überhändigt.

 Dass dieser Staat ein islamischer sein wird, ist nicht zu bezweifeln, genauso wenig fraglich ist es, dass in einem freien Syrien al-Julani und seinen Männern Strafverfolgung zu erwarten hätte und kein revolutionärer Ruhm. Angesichts der Arglosigkeit, wie in diesen Tagen mit al-Julani ein Veteran der al-Qaida zum umsichtigen Pragmatiker erklärt wird, ist es in der Retrospektive kaum noch erstaunlich, dass 1978-79 im Iran eine Bestie wie Ruhollah Khomeini zum Spiritus rector des revolutionären Staates und zur Inkarnation »politischer Spiritualität« gemacht werden konnte. Auch Khomeini bemühte während seines französischen Exils in Neauphle-le-Château nicht die eigene Schriftensammlung über den »Islamischen Staat«, die den Abgrund in die Barbarei aufmacht. Genauso wenig prahlte Khomeini mit seiner Protegierung der Fadâ'iân-e Eslâm, jener Märtyrerschwadrone, die seit den 1940er Jahre den Iran terrorisiert hatte.

 Während »historische Chance« gewittert werden, reorganisiert die Tahrir al-Sham den Staatsapparat unter ihresgleichen. Al-Julani lädt die Kommandeure salafistischer Rackets wie die Suqour al-Sham Brigaden und Ahrar al-Sham zu sich, um ihnen als prospektive Nationale Armee Legitimität und Immunität zuzusprechen. Die Gouverneursämter werden ebenso an Warlords vergeben (wir bleiben also bei den noms de guerre): Abu Obeida (Ahrar al-Sham) wird Gouverneur von Rif Dimashq, Abu Issa (Suqour al-Sham Brigaden) von Idlib, Abu al-Baraa (Ahrar al-Sham) von Latakia und so weiter. Präsidierender des Generalsicherheitsdienstes ist nunmehr Anas Khattab. Wie al-Julani ist er ein Veteran der irakischen al-Qaida und schwor 2012 der al-Nusrah Front die Treue. In Idlib unterstand ihm bislang die Staatssicherheit. Minister für auswärtige Affären ist mit Hassan al-Shaybani ein weiterer enger Vertrauter von al-Julani seit den frühesten Tagen der al-Nusrah Front. Der syrische Journalist Hassan Ibrahim sprach bereits vor einem Jahr davon, dass al-Julani ein treues Triumvirat an seiner Seite hat: Al-Shaybani als sein internationaler Kavalier, der ausgiebig die Türkei und Katar bereist. Anas Khattab als Schattenmann für die Identifizierung und Eliminierung potenzieller Rivalen. Und Abd al-Rahim Atoun als Geistlicher, der den Geltungsdrang von al-Julani in eine religiöse Aura hüllt.

 Hassan al-Shaybani soll ab dem Jahr 2020 diskrete Gespräche mit US-amerikanischen und französischen Sicherheitsagenturen geführt haben. In jenen Tagen arretierte die Tahrir al-Sham etwa Omar Diaby, der jahrelang als Hauptrekrutierer französischer Salafiyya-Militanten galt. Die francosalafistischen Auswanderer beteiligten sich auf Seiten der Jaysh al-Fatah etwa bei der Einnahme von Jisr al-Shughour. Wenngleich Diaby der al-Nusrah Front und nicht dem rivalisierenden Islamischen Staat nahestand, erzwang die Tahrir al-Sham von ihm die Zusicherung, die Rekrutierungsbemühungen französischer Militanten zu beenden. Omar Diaby ist nur ein Exempel für eine drastische Veränderung in der Strategie der Hayʼat Tahrir al-Sham. Die Anerkennung US-amerikanischer und europäischer Sicherheitsinteressen überrascht wenig, wenn man die Handschrift auf den Strategiewandel der Tahrir al-Sham entziffert. Jahrelang haben US-Amerikaner und Europäer die Protegierung von Taliban und Hamas durch das Emirat Katar geduldet, wenn nicht begrüßt. Man beschwor, wie das Auswärtige Amt, die »Gesprächskanäle« und die Selbsttäuschung, mit der katarischen Gastung von Taliban und Hamas könne man diese Bestien domestizieren. Eine Illusion, die auch mit dem Pogrom am 7. Oktober 2023 nicht endete. Auch die Hamas hat zuvor terroristische Kommandoaktionen rivalisierender Rackets abgewendet, wenn es ihrem Kalkül entsprach. Perfektioniert hat die Strategie der Täuschung das khomeinistische Regime im Iran, jahrelang assistiert durch deutsche Sprechautomaten wie H. Maas, die davon raunten, dass ein Ende des Regimes mit noch mehr Destabilisierung drohe. Gleichwie differenzierte man die Despotie in Pragmatiker und unversöhnliche Fundamentalisten.

 Als zu Beginn des Jahres 2019 Tahrir al-Sham die Türkei-nahe Koalition der Nationalen Befreiungsfront aus Harakat Nour al-Din al-Zenki, Ahrar al-Sham, Faylaq al-Sham und den Suqour al-Sham Brigaden schwer konfrontierte, harrte die türkische Staatsfront aus. Die Militanten der Nationalen Befreiungsfront, die bis dahin noch eine relevante territoriale Geltung in Idlib genossen, waren nunmehr zur Kapitulation gezwungen. Wenig später drang Tahrir al-Sham infolge von Fraktionsfehden zwischen Ahrar al Sham und al-Shamiyah Front in den Süden von Afrin ein. Spätestens dann müssen die türkischen Analysten in den Männern von al-Julani jenes prospektive Staatssurrogat erkannt haben, das nahezu allein über die Hierarchien in der paramilitärischen Nahrungspyramide entscheidet. Die Jahre zuvor hatte die türkische Staatsfront noch andere Warlords präferiert. Vor allem die Islamische Front, die 2013/14 aus der militanten Opposition herausragte, genoss die türkische Generosität. Doch infolge starker Fraktionierung zerfiel die Front alsbald wieder. Die Türkei protegierte zugleich turkmenische und panturkistische Milizen als Frontvieh ihrer Großraumpolitik.

 Doch jede Koalition, in der die Türkei investiert, ist geprägt durch massive Fraktionierung, mafiotische Strukturen sowie zermürbende Fehden um Beute und territoriale Geltung. Im Oktober 2022 brachen schwere Konfrontationen innerhalb der Türkei-assoziierten Syrischen Nationalarmee (SNA) aus. Tahrir al-Sham schritt auf Seiten der panturkistischen Hamza Division und der Suleiman Shah Brigade ein und drängte die al-Shamiyah Front aus Afrin hinaus. Zugleich befehdeten sich mit Ahrar al-Sham und Jaysh al-Islam weitere herausragende Fraktionen innerhalb der SNA. Gerüchten zufolge wollte die türkische Staatsfront die al-Shamiyah Front dafür abstrafen, dass sie anders als etwa die Hamza Division sich der Abkommandierung in das armenische Bergkarabach und nach Libyen verweigert hatte. Der Kommandeur der Suleiman Shah Brigade, Abu Amsha, indessen gilt mit seinem Milizionär-Verleih als jung-dynamischer Entrepreneur unter den Warlords.

 Die Hayʼat Tahrir al-Sham dagegen wusste von Beginn an wie sie in der syrischen Katastrophe andere von sich abhängig macht. Salafiyya-Internationalisten wie die Ansar al-Tawhid (ein Re-Design der berüchtigten Jund al-Aqsa) und die tschetschenische Ajnad al-Kavkaz hatten als Frontkommandos einen herausragenden militärischen Anteil am Durchmarsch nach Homs. Tahrir al-Sham profitierte militärisch von ihrer Verwegenheit und al-Julani profitiert noch in diesen Tagen von ihrer markanten Präsenz in Syrien. Den Salafiyya-Internationalisten gegenüber behaupten sich al-Julani und seine Tahrir al-Sham als islamischer Souverän, der als einziger die Übereifrigen brüderlich-autoritär zur Räson bringen kann. Das Talent zur Wendehalsigkeit macht die Tahrir al-Sham dennoch nicht pragmatischer, es macht sie bedrohlicher.

 Während Analysten in diesen Tagen bemüht sind, die heilige Wandlung eines Veteranen der al-Qaida zum Übervater der Nation zu bezeugen, wie anderswo fromme Katholiken die Erscheinung der Gottesmutter, scheint man über das Ende eines anderen Syrien bereits entschieden zu haben. In der demokratischen Föderation Nordsyriens wurden Polygamie, die Kinderehe, Zwangsheirat und andere tagtägliche Verbrechen der rural-islamischen Despotie gebannt. Assyrische Christen und die Nachkommen jener Armenier, die den Genozid 1915/16 überlebt hatten, sind nicht prekär geduldet, sie haben selbstbewusst an den Institutionen des Gemeinwesens teil. Doch dieses andere Syrien provoziert allein durch seine Existenz die türkische Staatsfront.

 Ganz ähnlich wie die ideologischen Fraktionen der blutroten Republik im Hass auf die Abtrünnigen fraternisieren, überdauert auch in Syrien die nationalchauvinistische Hybris. In der Baʿth-Propaganda der 1960er Jahren erschienen die Kurden als malignes Geschwür im arabischen Volksleib. In der Arabischen Republik wurden sie mit der Existenz Israels als tödlicher Embolus im Blutzyklus des organischen Staates verglichen. Um eine weitere Auswucherung im Volkskörper zu hemmen, wurde in den 1970er Jahren eine Schneise mit »reinrassigen« Wehrdörfern in das Gouvernement al-Hasakah entlang der türkisch-syrischen Grenze geschlagen. Für die Etablierung eines solchen »arabischen Gürtels« entsandte die Deutsche Demokratische Republik unter anderem Agrartechniker nach Syrien. Manche dieser Stämme des »arabischen Gürtels« schworen zwischen 2013 und 2015 dem Islamischen Staat die Treue.

 

Die Verteidiger der demokratischen Föderation Nordsyriens an der Tishrin-Front, Dez. 2024

 Am 12. März 2004 trat der Sportclub al-Fotuwa aus Deir ez-Zor im nordsyrischen Qamishli an. Das ostsyrische Deir ez-Zor ist berüchtigt für die Verbundenheit mit dem Baʿth-Regime. Natürlich nicht mit dem syrischen Regime, einen guten Ruf genießen vielmehr Saddam Hussein und sein irakischer Baʿth-Staat. Noch in den frühen 1990er Jahren begrüßte man in Deir ez-Zor den Einmarsch nach Kuwait; nach dem erzwungenen Ende des irakischen Baʿth-Regimes 2003 infiltrierten die Parteigänger des irakischen Widerstandes Ostsyrien. Am 12. März 2004 provozierte dann die nationalchauvinistische Rotte aus Deir ez-Zor mit Schlachtgesängen wie »Lang lebe Saddam Hussein« und Verhöhnungsrufen der Toten des Halabja-Massakers die Kurden in Qamishli, die mit »Georg W. Bush« Rufen konterten. Es kam zu schweren Konfrontationen, bei denen die Schergen aus dem Repressionsapparat des Regimes mit den nationalistischen Provokateuren fraternisierten. Auf mehr als 30 Toten folgten Masseninhaftierungen. Aus der Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD), die in jenen Tagen am schwersten mit der Repression konfrontiert war, hieß es später, dass man nach dem 12. März zur Entscheidung gekommen sei, Einheiten zur militanten Selbstverteidigung zu gründen: die spätere Yekîneyên Parastina Gel (YPG). Möge sie in diesen Tagen dem türkischen Aggressor und der islamischen Konterrevolution Stand halten.

Dienstag, 10. Dezember 2024

Flugschrift: »When we've freed Kobanî, we'll be off to Iran. It's their turn next!« Eine Erinnerung an ein revolutionäres Versprechen

 

Die Topografie Nordostsyriens ist geprägt durch das Stigma genozidaler Narben. Nach Ras al-Ayn im Norden des späteren Gouvernements al-Hasakah führten die Todesmärsche der anatolischen Armenier. Tausende wurden hier im Jahr 1916 massakriert, Hunderttausende zu weiteren Todesmärschen nach Deir ez-Zor gezwungen. Wessen ausgezehrter Leib nicht vom Säbel durchdrungen wurde, den erwartete der Tod durch Verhungern oder Typhus. Viele der Ermordeten entstammten dem zentralanatolischen Sebasteia, der heutigen türkischen Provinz Sivas, nunmehr unumstrittenes Territorium des faschistischen Wolfsrudels. Die Kirche in Deir ez-Zor, die dem Gedenken an dem Genozid gewidmet wurde, mit einer Skulptur, an deren Sockel die Gebeine von Ermordeten begraben waren, wurde am 21. September 2014 vom Islamischen Staat gesprengt.

 Überlebende der Todesmärsche gründeten in Nordostsyrien armenische Gemeinden. Entlang des Flusses Khabur, ein Zweig des Euphrats, erstanden zudem Dörfer assyrischer Christen. Sie waren vor ihren Verfolgern aus der Bergregion Hakkâri zunächst in den Nordirak geflüchtet. Infolge des Konstitutionsprozesses des irakischen Staates – das britische Mandat endete 1932 – traf die Assyrer auch im Irak eine Nachwelle der genozidalen Wogen. Das Massaker von Sêmêl zwang sie zur Flucht in das französische Protektorat Syriens.

 Am 23. Februar 2015 drang der genozidale Islamische Staat in die assyrischen Gemeinden am Khabur ein, wenige Tage später lebte kein einziger Christ mehr dort. Sie waren geflüchtet, ermordet oder als Geiseln anderswohin verbracht worden. Auch nach der Befreiung blieben die Dörfer – bis auf Tell Tamer – verwaist und die vom Islamischen Staat gesprengten Kirchen Ruinen. Keine hundert Kilometer weiter östlich im Gouvernement al-Hasakah, nah am Irak, erhebt sich in der sandigen Öde ein monströser Kontrast zur Ausgestorbenheit der assyrischen Dörfer am Khabur. Al-Hawl gleicht dabei einer Dystopie. Tausende von Familienangehörigen der Soldaten des gescheiterten Kalifats sind hier interniert. Am 23. März 2019 endete im ruralen al-Baghuz Fawqani die territoriale Existenz des Islamischen Staates in Syrien. Meter für Meter und mit dem Leben vieler Frauen und Männer wurde die Region befreit durch die Brigaden der Partiya Yekîtiya Demokrat, die sich für einen demokratischen Konföderalismus ausspricht, und ihrer Militärkoalition Hêzên Sûriya Demokratîk, in der auch Brigaden christlicher Assyrer und Armenier sowie Fraktionen der Freien Syrischen Armee inkludiert sind. Doch in al-Hawl scheint sich der Unstaat als ein Miniatur-Emirat erhalten zu haben. Die Hisbah, eine Todesschwadron hochideologisierter Frauen, straft in al-Hawl gnadenlos jene ab, die dem Islamischen Staat abtrünnig sind oder der Kollaboration mit dem Feind beschuldigt werden. Die sogenannten Immigranten gelten als die bedrohlichsten in al-Hawl. Unter ihnen mehr als 120 Kinder und 68 Frauen deutscher Staatsangehörigkeit, von denen nur einige wenige repatriiert wurden. Leonora M. war eine von ihnen, im Kalifat war sie mit Martin L., der Karriere in der islamischen Staatssicherheit machte, verheiratet, der Deutsche hielt sich eine yezidische Sklavin. Vor einem deutschen Gericht kam Leonora M. mit einer Bewährungsstrafe davon. Seit langem fordern die demokratischen Föderalisten in Nordostsyrien die Repatriierung der europäischen Immigranten. Auch Forderungen nach Ad-hoc-Strafgerichten in Syrien und einer Institutionalisierung ausdauernder Re-Education unter internationaler Beteiligung verhallen. In al-Hawl sollen auch noch yezidische Sklavinnen leben. Sie wurden von ihren Peinigern gezwungen, während der Registrierung über ihre Identität zu täuschen. Europa scheint dabei wenig bis kein Interesse an der Strafverfolgung der genozidalen Parteigänger des Kalifats zu haben. Und vor allem ist es nicht gewillt, die Autonome Administration in Nordostsyrien anzuerkennen. Währenddessen macht das Auswärtige Amt aus dem türkischen Aggressor einen »Schlüsselakteur« bei der Krisenbewältigung in Syrien.

Aleppo im Dezember 2016

Am 19. Dezember 2016 richtete der junge türkische Polizist Mevlüt Mert A. unter dem Ruf »Für Halab« und dem Todesfluch »Allahu ekber« den russischen Gesandten in Ankara hin. In den Tagen zuvor war die Fatah Halab, eine Koalition von Milizen der ahl as-sunna, unter den getakteten russischen Bombardements zum withdrawal aus Aleppo gezwungen worden. Zwischen den Trümmern marschierten nun die Hezbollah, die Proxy-Armeen von Qasem Soleimani wie die aus Afghanen (zwangs-)rekrutierte Fatemiyoun Brigade und die pakistanische Zainebiyoun Division, sowie tschetschenische Legionäre des Bluthundes Ramzan Kadyrov. Mohammad Ali Jafari, Kommandeur der Wächterarmee, erhob Halab zur Front der permanenten »Islamischen Revolution«, die 1979 zur khomeinistischen Übernahme des Irans geführt hat.

 Doch die Rache des türkischen Polizisten eskalierte nicht in einer weiteren Konfrontation mit dem Kreml. Sie war vielmehr die Katastase einer Opferinszenierung jener verfolgenden Unschuld, die darüber täuschte, dass es die türkische Syrienpolitik selbst war, die die Reihen der Fatah Halab nach und nach ausgedünnt hatte. Die Leichenstarre des russischen Gesandten war noch nicht eingetreten, da traf sich der türkische Minister für auswärtige Affären, Mevlüt Çavuşoğlu, mit Sergej Lawrow und Mohammad Javad Zarif. Als wäre Halab einzig geschlachtet geworden, um gleichwie den Irrsinn der syrischen Katastrophe als auch die Teilnahmslosigkeit der Europäer vorzuführen, einigten sie sich hastig auf einschneidende Frontverschiebungen. Es war das türkische Kalkül, mit der Kapitulation in Halab die Militanten für die Prioritätenänderung in der eigenen Großraumpolitik zu vereinnahmen. Die panturkistische Sultan Murad Division, die Muslimbrüder-nahe Faylaq al-Sham sowie Fraktionen innerhalb der Ahrar al-Sham waren Monate zuvor aus den Ruinen von Halab aufgebrochen, um an der türkischen Militärkampagne Fırat Kalkanı Harekâtı, dem »Euphratschild«, teilzuhaben.

 Die türkische Staatsfront fürchtete nicht allein den Durchbruch der demokratischen Föderalisten nach Afrin, um dessen Totalisolation zu beenden. Sie fürchtet bis heute in der demokratischen Föderation Nordostsyriens ein Gemeinwesen, das die fatalen Mechanismen der syrischen Katastrophe nicht reproduziert. Während anderswo Imame, salafistische Wanderprediger, Emissäre der al-Qaida und desertierte Militärs in der ruralen Peripherie rekrutierten und als ambitiöse Start-ups und Franchise-Warlords vor allem in Qatar und Türkei um Finanzierung warben, gelang es den demokratischen Föderalisten die assyrischen Christen, die Nachkommen jener Armenier, die die Todesmärsche überlebten, aber auch arabische Stämme von einem solidarischen Bund zu überzeugen. Die Befreiung der Frauen und ein angstfreies Leben für Christen sind unumstößliche Säulen der demokratischen Föderation. Dort aber, wo die türkische Staatsfront ausgiebig investiert hat, waltet die Despotie rivalisierender Warlords und eine misogyne Apartheid zwischen Frau und Mann. Das Nordsyrien der demokratischen Föderalisten hindert die türkische Staatsfront in ihrer aggressiven Großraumpolitik – und sie provoziert mit ihren Erfolgen Neid und Rachegelüste.

 Als am 18. März 2018 die türkische Einverleibung von Afrin erfolgte, verlasen die Staatsimame – auch in den deutschen Moscheen der DİTİB – die 48. Sure »Fetih«, die sogenannte Siegessure. Im nordtürkischen Giresun zählte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan triumphal die in Afrin getöteten »Terroristen« nach. Während seines rhetorischen Innehaltens brüllte die Parteijugend in Milizkluft »Ungläubige« und drohte mit dem Vers 3:12: »Bald werdet ihr geschlagen sein und euch in der Hölle scharren«. Während bis zur türkischen Einnahme die schwarze Ganzkörperverschleierung mit dünnem Sehschlitz in Afrin ein Kuriosum war, das Verdacht provozierte, prägen nun die schwarz Verschleierten an der Seite bärtiger Milizionäre, die um die Beute rivalisieren, die Szenerie. Der Generalsekretär des Nordatlantikpaktes schmeichelte indessen den türkischen Okkupanten mit dem begrenzten Vokabular eines europäischen Sprechautomaten: die Türkei garantiere „die Stabilität an der Südgrenze“ der NATO, also dort, wo unter türkischer Patronage islamistische Mordbrenner – einschließlich der jüngsten Generation von al-Qaida – territoriale Geltung erlangten.

 Im darauffolgenden Jahr marschierte die türkische Armee und ihr Frontvieh auch in Tell Abyad und Ras al-Ayn ein – auf Kurmancî: Girê Sipî und Serê Kaniyê. Panisch flüchteten die Nachkommen jener, die 1916 die Todesmärsche überlebten. Auch in Girê Sipî und Serê Kaniyê leben nunmehr keine Christen mehr. Nach der Einnahme von Serê Kaniyê hielt Essam al-Buwaydhani von der Jaysh al-Islam, die Khutba-Predigt in einer der Moscheen, in der er die theologische Legitimität der Raubbeute pries. Die Hêzên Sûriya Demokratîk, der Militärverband der demokratischen Föderation Nordostsyriens, hatte in den Wochen vor dem Einmarsch ihre Verteidigungspositionen in der Grenzregion geschliffen, um das von den US-Amerikaner protegierte »Security Mechanism Framework« auszuführen, das eine Kooperation bei den Grenzpatrouillen zwischen türkischer und US-amerikanischer Armee vorsah. Doch der unter Donald Trump angeordnete withdrawal des US-amerikanischen Militärs kam einer Absolution für jene Staatsbestie gleich, die am hysterischsten heult. Mitch McConnell, Parteiführer des Senats, kritisierte die Entscheidung als einen »strategischen Alptraum«. Selbst das Pentagon schien mit der Entscheidung überrumpelt worden zu sein. Trump twitterte indes über ein Gespräch mit Erdoğan: »…and he is a man who can do it plus, Turkey is right next door«.

 Als sich die Türkei wahrlich noch »next door« zum Islamischen Staat befand, schienen beide mit der Grenzsituation versöhnt zu sein. Auch und vor allem als der Islamische Staat Girê Sipî einnahm und von den Minaretten der Moscheen ein Ultimatum an die Kurden aussprach: Flucht oder Tod. Die Partisanen des Kalifats, die die suizidalen Massaker an Oppositionellen in Diyarbakır, Suruç und Ankara ausführten, bewegten sich in jenen Tagen ungehindert zwischen der Türkei und dem Islamischen Staat.

 Wie zuvor im okkupierten Afrin kursierte auch 2019 wieder die ewiggleiche Snuff-Propaganda, die den Feind – eine »ungläubige, gottlose terroristische Organisation ohne heilige Schrift« (R.T. Erdoğan) demütigen soll. Nicht von ungefähr ähnelt die Selbstinszenierung in ihrer Enthemmtheit und ihrem misogynen Hass jener des Pogroms am 7. Oktober im Süden Israels: »Die Leichen der Schweine sind unter unseren Füßen«, höhnen die Milizionäre, während sie über den leblosen Körper einer weiblichen Föderalistin trampeln. »Dies ist eine der Huren, die du uns (als Beute) gebracht hast«, worauf ein penetrantes »Allahu Akbar« folgt. Der frühere Kommandeur der Fatah Halab, Yasser Abdul Rahim (in jenen Tagen bei der Muslimbrüder-nahen Miliz Faylaq al-Sham), fotografierte sich grinsend vor einer weiteren überwältigten Föderalistin, während die Männerrotte »Schlachtet sie« brüllte. Als am 12. Oktober 2019 Hevrîn Xelef in eine Razzia der Ahrar al-Sharqiya geriet, zerrten die Milizionäre sie an den Haaren durch den Staub, schlugen auf sie ein und richteten sie schlussendlich hin. Die türkische Propaganda pries diesen bestialischen Mord als Triumph über den Feind. Hevrîn Xelef war bis zu ihrem Tode Generalsekretärin der Partiya Sûriya Pêşerojê, die im befreiten Rakka gegründet wurde, um das Ideal der syrischen Revolution gegen das Baʿth-Regime mit der Idee eines säkularen und nicht-ethnizistischen Syriens zu verwirklichen.

 

 
 Hevrîn Xelef, ermordet am 12.10.2019, die türkische Gazete Yeni Akit jubelte: »Terör örgütüne büyük şok! Kritik isim öldürüldü«

 Am Ende desselben Monats, in dem Hevrîn Xelef ermordet wurde und die Christen aus Girê Sipî und Serê Kaniyê geflüchtet waren, wurde in der ruralen Peripherie des Gouvernements Idlib – nicht mehr als 5 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt – der selbsternannte Kalif des Islamischen Staates Abu-Bakr al-Baghdadi in einer US-amerikanischen Kommandoaktion getötet. In Idlib ist die türkische Armee präsent, doch die Identifizierung und Tötung des Schlächters geschah in direkter Koordination zwischen US-amerikanischem Militär und der Hêzên Sûriya Demokratîk. Stunden später und in derselben Konstellation wurde auch Abul-Hasan al-Muhajir, die rechte Hand des Kalifen, im türkisch okkupierten Jarabulus getötet. Beide Kommandoaktionen geschahen im Terrain türkischer Protektorate, aber ohne türkische Beteiligung. Das US-amerikanische Militär weiß – anders als Donald Trump – ganz genau, wem sie bei der Eliminierung des Islamischen Unstaates trauen kann und wem eben nicht. Als am 20. Januar 2022 in al-Hasakah die Sleeper Cells des Unstaates begannen, mit Nadelstichen die Befreiung ihrer inhaftierten Glaubensbrüder zu erzwingen, wurde die Hêzên Sûriya Demokratîk, die darüber hinaus mit einer Revolte der Inhaftierten konfrontiert war, von türkischer Artillerie und Bayraktar-Drohnen terrorisiert.

Aleppo im Dezember 2024

 In den vergangenen Tagen rühmte Devlet Bahçeli, Adjutant Erdoğans in der türkischen Staatsfront, dass Tell Rifat, nördlich von Halab, von »Ungeziefer« befreit wurde. Bis zur Okkupation durch die türkische Proxy-Armee harrten in Tell Rifat über hunderttausend Geflüchtete aus Afrin aus. Nun flüchten sie wieder. Der Rudelführer der faschistischen Grauen Wölfe erhoffe sich indes, das Manbij, das am 13. August 2016 durch die demokratischen Föderalisten vom Islamischen Staat befreit wurde, als Nächstes falle und droht auch der oppositionellen DEM-Partei mit noch mehr Repression. Es ist äußerst vielsagend, dass im Vergleich zur türkischen Proxy-Armee mit dem absurden Namen Syrische Nationalarmee die al-Qaida-Abspaltung Hayʼat Tahrir al-Sham als diszipliniertes und diversitätssensibles Staatssurrogat erscheint. Ihr Haupt Abu Mohammad al-Julani wurde im Jahr 2011 auf Befehl von Abu-Bakr al-Baghdadi nach Syrien entsandt und wurde dort Emir der al-Nusrah Front. Spätestens im Jahr 2017 soll es dann zur Trennung zwischen Tahrir al-Sham und al-Qaida gekommen sein. Als al-Julani im Jahr 2011 nach Syrien aufgebrochen war, empfing ihn mit Abu Mariyah al-Qahtani ein weiterer Emissär der al-Qaida. Al-Qahtani soll im Jahr 2016 an der Gründung von Ahrar al-Sharqiya beteiligt gewesen sein, jener Miliz, die Hevrîn Xelef ermordet hat und Teil der türkischen Proxy-Armee ist. Al-Julani wurde nunmehr zum viel porträtierten Antlitz der dramatischen Umschwünge Syriens in den vergangenen Tagen. Nach Charles Lister vom Middle East Institut habe sich sein Shariah-Racket von salafistisch-globalistisch in nationalrevolutionär gewandelt. Dasselbe Raunen aus den Denkautomaten kennt man noch aus jenen Tagen des Jahres 2021 als die gewandelten, nunmehr nationalrevolutionären Taliban Afghanistan übernahmen.

 Als im September 2014 drohte, dass das nordsyrische Kobanî an das al-Baghdadi-Kalifat fällt, befand sich Zanyar Omrani, ein Dokumentarist aus dem kurdischen Iran, an der Widerstandsfront. Seine Reportage bezeugt die rege Teilnahme von Frauen und Männern aus Rojhilatê Kurdistanê, dem iranischen Teil Kurdistans, an der Front in Kobanî. Viele jener, die in der Reportage zu sehen sind, werden diesen Widerstand nicht überlebt haben. »Wenn wir Kobanî befreit haben, ist es als nächstes der Iran«, verspricht lächelnd eine der Frauen. Im Jahr 2022 hallte der Ruf »Frau, Leben, Freiheit«, der in den Jahren zuvor in Nordsyrien zu Popularität kam, durch die Straßen Irans. Noch während der Beerdigung von Mahsa Amini, die von ihrer Familie mit ihrem kurdischen Namen Jina gerufen wurde, rissen sich anwesende Frauen den Zwangsschleier vom Haar. Der Protest gegen den misogynen Mord erfasste mit einer solchen Wucht nahezu alle Provinzen und selbst Kleinstädte in der ruralen Peripherie. Im Qom, die heilige Kapitale der Geistlichkeit, wurden Brandflaschen gegen das Islamische Seminar geschleudert; in Kerman, woher mit Qasem Soleimani einer der Architekten der syrischen Katastrophe stammt, seine überdimensionalen Porträts verbrannt. Das Regime konterte mit Hinrichtungen und gnadenloser Abstrafung.

 Während der türkischen Aggression gegen die demokratische Föderation Nordostsyriens täuschte das Auswärtige Amt jahrelang über die »legitimen Sicherheitsinteressen« der Türkei und verkroch sich bei jeder Eskalation hinter dem eigenen Unwissen angesichts der »fluiden Lage«. Ganz ähnlich wie ein solches Geraune einer Absolution für die türkische Staatsbestie gleichkommt, ist die europäische Verzögerungstaktik gegenüber der verzweifelten Forderung iranischer Revolutionäre, die Wächterarmee als terroristische Organisation zu kriminalisieren, eine Carte blanche für den Islamischen Staat im Geiste Ruhollah Khomeinis. Eine Carte blanche auch für das Pogrom am 7. Oktober 2023 und für die Hinrichtung des deutschen Staatsangehörigen Jamshid Sharmahd.

 In diesen Stunden fällt das Baʿth-Regime. Einzig die omnipräsenten Monumente der Dynastie al-Assad täuschten noch darüber, dass es vielmehr die Schattendespotie des khomeinistischen Regimes und seiner Hezbollah war, als dessen nationale Fassade sich der Baʿth-Staat in den vergangenen Jahren überhaupt noch restaurieren konnte. Der Fall des Regimes wurde möglich, weil das militärische Mehrfrontenpotenzial der Hezbollah inzwischen drastisch geschrumpft ist und das khomeinistische Regime zögerte, auch noch seine irakischen Shia-Milizen zu opfern. Nach jahrelangen Einkesselungen, getakteten Bombardements und den modernen Grabenschlachten zwischen Betonschluchten mit hunderttausenden Toten konnten Hayʼat Tahrir al-Sham und weitere militante Oppositionsfraktionen innerhalb weniger Tage ohne schwere Konfrontationen halb Syrien einnehmen. Der Durchmarsch sagt viel über die ruinöse Aushöhlung des Regimes aus, aber wenig über das militärische Potenzial der Männer von al-Julani.

 Während US-amerikanische und europäische Analysten noch über das Wandlungspotenzial der militanten Parteigänger eines islamischen Staates rätseln, scheint sich die Koryphäe der Rackets, der russische Kreml, nolens volens mit der Afghanistan-Variante arrangiert zu haben. Als nach der Übernahme Afghanistans durch die Taliban im August 2021 noch hektisch weibliche Antlitze auf Reklame unkenntlich gemacht wurden, um nicht den Zorn der Tugendterroristen zu provozieren, und viele Afghanen verängstigt ausharrten, schwärmte der russische Gesandte Dmitrij Zhirnov davon, dass die Tage nach dem Einmarsch der Taliban »die friedlichsten« gewesen wären, die er »in Kabul erlebt habe«. Während am Kabuler Flughafen panisch Flüchtende zu Tode getrampelt wurden und die russische Propaganda gegen die Geflüchteten hetzte, schwadronierte Zhirnov von »Touristen«, die alsbald nach Afghanistan kommen könnten: »Afghanistan erinnert mich an die Krim, nur das Meer fehlt«. Al-Julani, so wird kolportiert, habe sich bereits an die Russen gewendet und ihnen Sicherheitsgarantien für die russische Militärpräsenz in Tartus und anderswo ausgesprochen. Hinlänglich bekannt ist die russische Protegierung von Ahmad al-Awda aus dem südlichen Daraa, einer der wendischen Warlords, die am 8. Dezember Damaskus einnahmen.

 Es ist vielsagend, dass es die Nachkommen der al-Qaida, kaukasische Jihadreisende und panturkistische Chauvinisten unter türkischem Protektorat im Norden Syriens zu territorialer Geltung gebracht haben, ganz so wie zuvor der Islamische Staat. Nahezu ignoriert wurden indes die jüngsten Massenproteste, die seit mehr als einem Jahr im südlichen Gouvernement Suwayda anhielten, und bei denen ein Ende des Baʿth-Regimes und der Präsenz des khomeinistischen Regimes in Syrien gefordert wurde. In Suwayda leben vor allem Drusen. Ihre religiösen Traditionen, wie der Glaube an Reinkarnation, haben eine stark synkretistische Ausprägung, folglich gelten sie der islamischen Orthodoxie als Häretiker.  In den Protestslogans wurde das Regime als Captagon-Mafia denunziert. Die Proteste schlossen alsbald auch das angrenzende Gouvernement Daraa ein sowie Tartus und Latakia, dort also wo vor allem die ebenso in der islamischen Orthodoxie als häretisch geltenden Alawiten leben und wo auch die Dynastie der al-Assad herstammt. Diese ausdauernden Proteste von jenen, die das Regime zuvor kaum fürchten musste, waren wie das Prodrom des Regimekollapses in diesen Tagen.

  In der deutschen Wahrnehmung erscheint das Ende des Baʿth-Regime indes vor allem als Husarenritt von al-Julani, dem »Mann der Stunde« (Tagesschau). Dass es andere waren, die als Erstes in Damaskus eintrafen, Fraktionen der Freien Syrischen Armee sowie Brigaden der Drusen, wird kaum noch von Interesse sein. Es scheint so als hätten sich nahezu alle nach wenigen Tagen mit al-Julani und seiner Hayʼat Tahrir al-Sham arrangiert: Und so plaudert, um die ordentliche Nachfolge zu besprechen, der scheidende Justizminister des Ancien Régime mit dem Justizminister jenes Heilsregimes, das Hayʼat Tahrir al-Sham im Jahr 2017 im rural geprägten Gouvernement Idlib etabliert hat. Das Staatssurrogat in Idlib war von Beginn an mit Protesten konfrontiert, die in der ersten Hälfte dieses Jahres für die Männer um al-Julani bedrohlich wurden. In Jisr al-Shughour, Binnish und anderswo in dem Gouvernement wurde Hayʼat Tahrir al-Sham dafür kritisiert, das repressive Regime nachzuahmen, und unverhohlen das Haupt von al-Julani gefordert. Die Einvernehmlichkeit darüber, dass al-Julani und die frommen Technokraten seines kriselnden Staatsprovisoriums in Idlib, welches jüngst selbst noch mit Protesten konfrontiert war, nun innerhalb weniger Tage zu den Protagonisten eines neuen Syriens wurden, irritiert. Noch 2019 bedrohte eine Militärkampagne des Baʿth-Regimes den Süden von Idlib. Wenn Tahrir al-Sham in den vergangenen Jahren selbst seine territoriale Geltung erweitern konnte, dann nur in den Rayons der türkischen Proxy-Milizen. Auffällig ist in diesen Tagen die Wendehalsigkeit von Fraktionen innerhalb des Ancien Régime sowie vor allem, und auch das erinnert an die Übernahme Afghanistans durch die Taliban, die diskrete Parteinahme Katars für al-Julani. Es war nicht allein das khomeinistische Regime, das die Hamas in ihrer Entscheidung für den 7. Oktober 2023, die in nächster Konsequenz auch eine Entscheidung für den Tod Tausender in Gaza war, bestärkte. Es waren auch die Türkei und vor allem Katar. Hayʼat Tahrir al-Sham ist die katarische Investition in die syrische Katastrophe, so wie das Emirat in die Hamas investiert hat. Israel wird gute Gründe haben, dass es in diesen Stunden die militärische Infrastruktur Syriens pulverisiert.

 In vielen al-Julani-Porträts dieser Tage fehlt vor allem ein biografisches Detail. Al-Julani war einer jener Männer, die nach dem Ende des irakischen Baʿth-Regimes im Jahr 2003 von Syrien aus den befreiten Irak infiltrierten, um diesen in eine suizidale Hölle zu verwandeln. Das Pentagon dokumentierte im Jahr 2007, dass monatlich zwischen 50 und 80 Männer von Syrien in den Irak geschleust werden, um dort ihre suizidalen Kamikazekommandos auszuführen, die allein zwischen Januar und September um die 5.500 Menschen mit in den Tod rissen. Das syrische Baʿth-Regime duldete nicht nur die Transitrouten der al-Qaida, es schien sie darüber hinaus zu fördern. Das Ende dieses mafiotischen Regimes, das durchdrungen war durch die Agenturen des khomeinistischen Regimes, ist Grund zur Freude. Die Hoffnung gründet indessen nicht in der heiligen Wandlung von al-Julani zu einem gütigen Übervater der Nation. Syrien wird ein Krisenstaat bleiben.

 Doch die immense Schwächung der Hezbollah und somit der Katastrophenarchitektur des khomeinistischen Regimes erweitert die Aussicht auf ein Ende jener Despotie, die sich 1979 dem Iran einverleibt hat. Die globalen Reaktionen auf das Pogrom am 7. Oktober erhellten die ideologischen Konstellationen. Während Osama Bin Laden post mortem zum TikTok-Influencer emporgestiegen ist und die Parteinahme für das Pogrom an US-amerikanischen und europäischen Universitäten als fashionable gilt, ähneln die vom Regime agitierten Anrottungen in Teheran oder anderswo im Iran einer trostlosen wie verachteten Begegnung der noch verbliebenen Greise der Islamischen Revolution. Als eine direkte militärische Konfrontation zwischen Israel und dem khomeinistischen Regime drohte, fanden sich in Teheran Graffitislogans wie »Israel, der erste Schlag (gegen das Regime) ist eurer, wir beenden es auf der Straße« und »Israelis und Iraner vereinigt euch«. Der ranghohe Mullah Mohammad Abolghassem Doulabi bedauerte unlängst, dass im Iran um die 50.000 Moscheen aus Unrentabilität und Desinteresse am Gebet geschlossen bleiben. Er sprach unverhüllt über das Paradoxon einer vom Islam entfremdeten Nation eines Staates, der auf den Doktrinen eines fundamentalistischen Islams gründet. War eine Mehrheit innerhalb der Opposition Ende der 1970er bereit, unter dem drohenden Gebrüll »Allahu Akbar« zu marschieren, schleudert die heutige Jugend im Iran den Mullahs Slogans wie »Wir hassen deine Religion, verflucht sei deine Moral« entgegen. Sie wollen kein Regime aggressiv antiisraelischer und projektiver Krisenexorzierung. Sie wollen kein militaristisch-okkultes Regime aus Klerus und der Armee der Wächter der Islamischen Revolution. Und sie wollen kein Regime, in dem die Unterwerfung der Frauen eine heilige Säule des Gemeinwesens ist.

 Nicht allein in der Massenbeteiligung Iranisch-Kurdistans an den Protesten gegen das khomeinistische Regime gründet das Band der Solidarität mit der demokratischen Föderation Nordostsyriens. Ein freier Iran und eine demokratische Föderation in Nordsyrien, die der türkischen Aggression standhält, wären die Antipoden einer permanenten Konterrevolution.

Die Forderungen der Stunde wären

Solidarität mit dem Widerstand in Kobanî

Anerkennung der demokratischen Föderation Nordostsyriens und Sanktionierung der türkischen Aggression

Kriminalisierung der Wächterarmee der Islamischen Revolution und ihrer Proxys als terroristische Organisationen, kein Dialog, keine Legitimierung mehr mit der khomeinistischen Despotie