Die YSK
(Yüksek Seçim Kurulu) ist lt. Verfassung die höchste Institution
der Wahlaufsicht, sie besteht aus einigen jener opportunen Juristen,
die bei den systematischen Amtsenthebungen der vergangenen Jahre im
Justizapparat übergeblieben sind. Am Abend des 16. Aprils entschied
ihr Vorsitzender willkürlich und eindeutig gesetzeswidrig, die über
2,5 Millionen ungestempelten Wahlzettelumschläge in die knappen 51,4
Prozent für ein „Evet“ zum Ermächtigungsgesetz Erdoğans
einzurechnen. Wenig später traten der Staatspräsident in Istanbul
und der Ministerpräsident Binali Yıldırım in Ankara auf, um zu
ihrem „edlen Volk“ zu sprechen. Vorrang, so die beiden, habe vor
allem die „Einheit der Nation“ und die Wiedereinführung der
Todesstrafe. Auch der Vorsitzende der völkisch-panturkistischen
Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), Devlet Bahçeli, sprach zu
„unserem edlen Volk“. Ende des vergangenes Jahres hatte Bahçeli
den rivalisierenden Muslimbrüdern Erdoğans ein „Evet“ zum
Ermächtigungsgesetz versprochen - unter der Zusage einer
Wiedereinführung der Todesstrafe und der Hinrichtung jener Ausgeburt
des Vaterlandsverrates, Abdullah Öcalan. Allein im Tod sind sie sich
eins und sie drohen damit allen anderen.
Selbst mit
systematischer Manipulation verlor das „Evet“ in Istanbul, Ankara
und Izmir sowie in nahezu allen weiteren Großstädten wie im
südtürkischen Adana und Mersin. Gewonnen hat das „Evet“
unmissverständlich in der anatolischen Provinz, wo die
türkisch-sunnitische Synthese als Staatsideologie die ländliche
Idiotie beherrscht. Doch ist es hier weniger das Heilsversprechen
einer „Islamischen Republik“, das die Zusage zur
Verfassungsänderung in manchen Provinzen auf über 70 Prozent
drückte, als die Staatsgläubigkeit der Untertänigen. Wer in
Yozgat, Sivas und Elazığ ausharrt, der folgt jenem, der die Straße
in die nächste Provinzhauptstadt asphaltiert und die Paranoia nährt,
dass die „Zins-Lobby“, die „armenische Diaspora“, der
exilierte Imam in Pennsylvania und die „Zoroastrier“ in Kandil
keine Intrige scheuen, um zu sabotieren, dass die Prosperität, die
längst einzig noch ein Gerücht ist, auch ihnen zukomme. Der Glaube
an den Glanz einer imperialen Türkei ist dort am virulentesten, wo
das tägliche Leben am kümmerlichsten ist und die noch gnadenlos
direkten Zwänge – sei es in der Familie, der Kaserne oder Fabrik –
jedes Lebensglück zu ersticken drohen.
„Als
wir auf diesen Weg aufgebrochen sind“, so Recep
Tayyip Erdoğan unlängst, „haben wir das Leichentuch angelegt“.
Dieser Märtyrerkitisch ist die Propaganda, die gefällt – das
Sterben als Ehre überlässt Recep Tayyip, bescheiden wie er ist,
natürlich den Anderen. „Befehle es und wir töten, befehle es und
wir sterben“, so die notorische Unterwerfungsgeste von Erdoğans
Brüllvieh und die Drohung an jene, die den Staat missachten. Was
nicht heißen muss, dass aus der Türkei mehr Todessüchtige in die
syrische Hölle ausreisten als etwa aus Mönchengladbach oder
Dinslaken. Die Verherrlichung des Todes und der Rache ist der Eid auf
den Staat dieser kollektiven Bestie. Sie fungiert als kollektive
Triebunterdrückung und Drohung mit der Enthemmung. Gegner der
Muslimbrüder kontern diesen Todeskult – ganz anders als manches
Relikt maoistischer „Volksbefreiung“ oder die faschistischen
Märtyrerkommandos der „Freiheitsfalken Kurdistans“ - mit Rufen
wie „Wider den Hass es lebe das Leben“ (Nefrete inat yaşasın
hayat) oder – feministisch und zugleich auf kurdisch - „Frau –
Leben – Freiheit“ (Jin Jiyan Azadî). Zwischen
Lebensbejahung und Todeskult verläuft die Front der türkischen
Katastrophe. „Kampf - Jihad - Märtyrertod“ (Cenk - cihat
- şehadet), rief Erdoğans
Brüllvieh am späten Abend des 16. Aprils. Sie feierten den Tod.
Doch
nicht die anatolische Provinz allein drückte das „Evet“ knapp
über die 50 Prozent. Die allermeisten der ungestempelten
Wahlzettelumschläge sind,
so die oppositionelle Gazette Evrensel, aus jenen Distrikten, in
denen die Opposition längst zum Freiwild gemacht worden ist und die
Kollaborateure des Staates die grobschlächtigsten Reaktionäre sind:
im kurdischen Südosten. In der Provinz Muş begleitet ein
Muhtar, ein ausgewiesener Parteigänger der Muslimbrüder, seine
Schäfchen in die Kabine, und posiert ein
Dorfschützer mit MP drohend vor dem Urnengrab. In Muş, wo die
oppositionelle Halkların Demokratik Partisi (HDP) am 7. Juni 2015
noch auf über 70 Prozent kam, gewinnt überraschend das „Evet“.
In der Provinz Diyarbakır, wo Tage zuvor systematisch Wahlbeobachter
der HDP in Polizeihaft genommen wurden, verhinderten auch Repression
und Manipulation keine 67,6 Prozent für ein unmissverständliches
„Hayır“.
Es
war das aggressive Niederdrücken dieser Oppositionspartei, das die
systematischen Manipulationen ermöglichte und schlussendlich das
Ermächtigungsgesetz erzwang. Allein in den vergangenen eineinhalb
Jahren sind über 10.000 Parteimitglieder in Polizeihaft genommen
worden, ein Drittel ist langfristig inhaftiert. Hinzu kommen
unzählige weitere inhaftierte Oppositionelle aus dem politischen
Dunstkreis der Partei. In den allermeisten Kommunen ist sie
inzwischen durch Zwangsverwaltungen aus allen Ämtern verdrängt
worden. In dem Distrikt Kayapınar, in der Provinz Diyarbakır
liegend, präsentierte der
Zwangsverwalter jüngst die in den mit der Partei assoziierten
Kulturzentren konfiszierte Literatur: „Unsere Kinder“, so der
Distrikt-Gouverneur, seien mit sexueller Aufklärung und
zoroastrischem und kommunistischem Unglauben vergiftet worden. Doch
auch die Denunziation der HDP als „unislamisch“ half in Kayapınar
dem „Evet“ nicht über die 30 Prozent. Und doch lässt sich
anderswo im Südosten an den steigenden Prozenten für die
Muslimbrüder erahnen, wer in das Vakuum der kriminalisierten
Opposition zu stoßen droht: die nackte Despotie eines mafiotischen
Staats-Rackets aus Konterguerilla und feudaler Klientel. Ganze
Distrikte im Osten und Südosten hängen am finanziellen Tropf des
Dorfschützersystems.
Neben
dem ländlichen Anatolien, grober Gewalt und systematischer
Manipulationen im Südosten verhalf auch die türkische Diaspora
Erdoğan noch zum knappen Sieg, den er selbst als einen in der
Tradition von Pyrrhus stehenden fürchten wird. Unabhängig davon,
dass auch hier Manipulationen naheliegend sind (ein Duisburger
Parteifunktionär Erdoğans etwa posierte mit
dem Wahlzettel noch bevor diese von der YSK herausgegeben worden
sind) - ganz offensichtlich wirkt der Führerkult, die aggressive
Denunziation von Kritik als „terroristisch“ und die
nationalchauvinistische Inszenierung als imperiale Großmacht
ungleich faszinierender auf deutsche oder österreichische
Türkeistämmige als auf die Menschen in der Türkei selbst. Diese
nationalchauvinistische Vormacht in der Diaspora wäre zuerst nicht
als eine Reaktion auf einen Mangel an Identität zu denunzieren, viel
mehr als das, was sie ganz konkret ist: die Verweigerung von Empathie
mit den Bedrängten in der Türkei und die aggressive Identifikation
mit deren Verfolgern. Selbst die Gegebenheit, dass im von allen
geliebten Istanbul das „Evet“ verlor, provozierte bei vielen
nicht ein kurzes Innehalten, einen Hauch von kritischer Reflexion des
fatalistischen Führerkults. Mit dumpfen Gehupe und Fahnengeschwenke
feierten in Berlin und anderswo die Freunde der faschistischen
Diktatur das durch Manipulation erzwungene „Evet“, während in
Istanbul und Ankara die Menschen, trotz der ständigen Drohung
gröbster Repression, gegen das Ermächtigungsgesetz Erdoğans
protestierten. Die Existenzlüge der laizistischen Republik, dass der
Feind außerhalb der Staatsgrenzen lauere, wendet sich mit Blick auf
die eigene Diaspora ein wenig mehr der Wahrheit zu: Erdoğans Imame
von DİTİB, die Karrieristen der UETD sowie die Grauen Wölfe der
Türk Federasyon sind das ideologische Hinterland der Faschisierung
der Türkei. Sie gilt es aus Solidarität mit den Bedrängten in der
Türkei zu bekämpfen.
Alles andere
hätte irritiert, wenn nicht auch diese Katastrophe unter den Launen
deutscher Befindlichkeiten abgehandelt werden würde. Sind sich
Stolzdeutsche und türkische Nationalchauvinisten noch einig bei der
Inhaftierung Deniz Yücels (auf Twitter und anderswo wünschen sich
beide, der „Deutschenhasser“ vulgo der „getarnte Terrorist“
Yücel solle in Haft verrotten), reizt das „Evet“ Erstere zu
Phantasien über Bevölkerungsverschiebungen. Auch den Genossen,
denen es zu mühselig erscheint, anders mit der Opposition
solidarisch zu sein als mit der absurden Empfehlung, „Wer kann,
solle die Türkei verlassen“, sei gesagt: Die Anerkennungsquote
Geflüchteter aus der Türkei liegt im Moment bei 7,6 Prozent und
vielen Oppositionellen wird die Ausreise so oder so verweigert. Ganz
abgesehen davon, dass die türkischen Säkularen in manchen Teilen
von Istanbul, Ankara und in Izmir sowieso weniger von Erdoğans
Brüllvieh behelligt werden als etwa in Remscheid, wo mehr als
hundert Freunde der faschistischen Diktatur sich drohend vor der
alevitischen Gemeinde anrotteten und „Glücklich, derjenige, der
sich Türke nennt“ (Ne mutlu Türküm diyene) brüllten. Die
Vielzahl an „Antifaschistischen Aktionen“ in der Umgebung bleiben
dabei genauso borniert und autistisch auf sich selbst bezogen wie
ihre deutsch-nationalen Gegner. Wie bei der Hetzjagd von Freunden des
Kalifats auf Eziden in Herford im Jahr 2014 bleiben sich auf sicherer
Distanz, wenn türkische Faschisten türkischen Oppositionellen mit
Pogrom drohen.
Wer
die Bedrohung durch die Muslimbrüder dadurch relativiert, dass sie
wenigstens noch Referenden abhalten und eine solche für eine
Diktatur unrühmliche Knappheit zulassen, hat wenig von ihnen
verstanden. Genauso wie die khomeinistische Despotie im Iran oder das
syrische Regime der Hizb al-Ba‘ath drohen die Muslimbrüder mit der
Vernichtung von Kritikern als Abtrünnige: „Der Staat (…) hat sie
wie Ratten, die aus der Kanalisation gekrochen kommen, am Genick
gepackt“, prahlt Nihat
Zeybekçi, Muslimbruder in Ministerwürden, über die Verhaftungen
der Co-Vorsitzenden der Halkların Demokratik Partisi, Figen
Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş. Während der Rudelführer der
Grauen Wölfe, Devlet Bahçeli, den inhaftierten Abgeordneten droht:
„Entweder sie beugen ihre Köpfe oder ihre Köpfe werden zermalmt“.
Die Wiedereinführung der Todesstrafe ist auch eine ganz konkrete
Drohung an alle Oppositionellen. Und um als „Terrorist“ zu
gelten, bedarf es keiner Militanz mehr, es kann jeden Kritiker
treffen.
Proteste in
Istanbul, 19.04.2017 (Haydar Taştan, NarPhotos)
Der
Unterschied zu Syrien und dem Iran ist der, dass in der Türkei noch
eine organisierte Opposition existiert, die noch nicht auf
klandestine Organisierung heruntergebracht wurde oder gänzlich
exiliert ist. Vor allem die Cumhuriyet Halk Partisi – als Partei
Mustafa Kemals noch mit einem durchaus staatstragenden Charakter –
ermöglicht es jungen Laizisten, sich zu organisieren – auch ohne
ihren parteiprogrammatischen Nationalstolz teilen zu müssen. Und
auch die Halkların Demokratik Partisi ist noch nicht gänzlich
zerschlagen, auch wenn die Verhaftungswellen nicht abebben. Die
Parteiführung der CHP hatte noch ihr „Ja“ zur
Immunitätsaufhebung der Abgeordneten gegeben, um in einer von
Erdoğan angedrohten Volksbefragung nicht als „antinational“
denunziert zu werden.
Haydar
Taştan, NarPhotos
In
den Wochen vor dem Referendum schien bei einigen die Resignation
durchbrochen zu sein. Nach eineinhalb Jahren zwangsverordneter
Grabesruhe eroberten am
8. März Tausende von Frauen die Istanbuler İstiklâl Caddesi nahe
Taksim. Die häufigsten Slogans waren „Frau – Leben – Freiheit“
und „Frauen sagen Nein“. Die Resignation und Desillusionierung
sind nach dem 16. April noch nicht ganz wieder einkehrt. Noch am
späten Abend des 16. Aprils kamen vor allem junge Menschen
inIstanbul, Ankara,
Izmir und anderswo auf die Straße. Nunmehr den fünften Abend in
Folge protestieren sie nicht allein gegen die systematischen
Manipulationen, viel mehr gegen das ganze Regime der Muslimbrüder.
Ihre Rufe erinnern an die rebellischen Tage des Jahres 2013: Boyun
eğme, „Beugt euch nicht“. Am stärksten sind die Proteste in
Istanbul-Beşiktaş,
wo über 80 Prozent sich dem Ermächtigungsgesetz Erdoğans mit einem
„Hayır“ verweigert haben. Was augenfällig ist, sind die nicht
ganz so vielen türkischen
Nationalflaggen und das Ausbleiben nationalistischer Rufe wie „Wir
sind die Soldaten Mustafa Kemals“. Diese Laizität aus der Kaserne
haben bereits die Protestierenden von Gezi Park mit „Wir sind die
Soldaten von niemanden“ oder „Wir sind die Soldaten von Freddie
Mercury“ gekontert.
Haydar
Taştan, NarPhotos
Es
hängt nun auch an uns, dass aus Europa noch etwas anderes kommt als
Prozente für das Ermächtigungsgesetz Erdoğans, die Einfühlung in
die Diktatur und die Verächtlichmachung der Bedrängten. Yeni Şafak,
eine der Propagandaschleudern der Muslimbrüder, droht indessen, dass
vom Staat die Proteste, die denen um den Gezi Park im Jahr 2013
ähneln, wie der gescheiterte Militärcoup am 15. Juli als Intrige
von außen verstanden werden. Mit einer ähnlichen Begründung
wurden soeben die
ersten Protestierenden der vergangenen Tage in Polizeihaft genommen.
Sie sind wahrlich alleingelassen. Belassen wir es nicht dabei.
Hayır
bitmedi, yeni başlıyor - „NEIN ist nicht zu Ende, es ist erst der
Beginn“