Die Skala an
Meinungen über die syrische Katastrophe ist so breit nicht. Die
Denkform, die Antiimperialisten Syrien überstülpen, lässt sich auf
folgendes herunterbrechen: die Erhebung gegen einen Präsidenten, der
Israel für seinen einzigen Feind hält, kann nur eine Intrige von
ganz anderswoher sein. Womit sie – seien es nun die
Alois-Brunner-Gedenkkorps in Damaskus oder die türkische
Vaterlandspartei – drohen, ist bei allen dasselbe: nationale
Souveränität. Und wer die Abstrakta Souveränität und Volk
konkretisiert ist ihnen unstrittig: Bashar al-Assad, ein „stiller,
nachdenklicher Mann“ (Jürgen Todenhöfer). Ausgerissene
Fingernägel sind ihnen ein ständiges Plebiszit.
Die
ideologiekritischen Denunzianten der „syrischen Revolution“
halten es nicht mit Bashar und noch weniger mit dem Volk. Sie
mißtrauen von Grund auf der Erhebung der arabischen Pauperisierten.
Doch die Konsequenz aus diesem Mißtrauen, die zu ziehen wäre, sich
mit den allein gelassenen Säkularen zu assoziieren, ihnen mit dem
Gröbsten beizustehen, bleibt gänzlich aus. Ideologiekritik ist
heruntergebrochen auf die Retirade in die Geborgenheit des eigenen
theologischen Seminars. Den Freunden der „syrischen Revolution“
dagegen ist die Jihadisierung der Zufallsguerilla vor allem Folge
ihrer Verlassenheit. Dabei war diese nie allein gelassen – ganz
anders als nichtmilitärische Oppositionelle. Die Emissäre
türkischer und katarischer Muslimbrüder sowie der saudischen
Despotie haben die Guerilla akribisch im Geiste der eigenen
Staatsideologien organisiert. So beschriften panturkistische
Brigaden, flankiert von der institutionellen türkischen
Guerillaorganisation MİT, ihre Artilleriegeschosse mit den Namen
ihrer ideologischen Ahnen: Enver Paşa, jungtürkischer
Mitorganisator des Genozids an den anatolischen Armeniern, etwa oder
Muhsin Yazıcıoğlu, Gründer der „Partei der Großen Einheit“
und Hauptinitiator des antialevitischen Pogroms von Maraş im Jahr
1978. Jeder kann wissen, wer Idlib erobert oder sich im östlichen
Aleppo eingegraben hat, sie haben Namen, Embleme, Twitter, Public
Relations. Ihre Drohung an die mit dem Regime identifizierten
Minoritäten ist nicht weniger konkret als die Bashar al-Assads an
die Abtrünnigen der Republik der Angst: Entweder seid ihr mit uns
und oder ihr werdet zermalmt.
Über die
ländliche Peripherie sind die sunnitischen Militanten ab Ende Juli
2012 nach Aleppo eingesickert, die logistische Flanke erfolgte aus
der Türkei. Unter ihnen von Beginn an überzeugte Feinde eines
säkularen Syriens wie Harakat Nour al-Din al-Zenki, deren Militanten
es als Publicité verstanden, als sie einem feindlichen
Kindersoldaten lachend die Kehle durchschnitten, oder die saudisch
inspirierte Asala wa-al-Tanmiya in der Tradition des salafistischen
Obskurantisten Rabi al-Madchali. Militärische Solidarität mit
diesen Warlords – und sie sind es, die übergeblieben sind – kann
nichts anderes heißen als die Verewigung des Schlachtens. Es ist
eine Mär von der alleingelassenen Guerilla. Sie konnte jahrelang auf
die Generosität und imperialen Ambitionen allen voran der Türkei
und Qatar vertrauen.
Doch das ist
allerhöchstens die halbe Wahrheit: Wer in diesen Tagen die Ruinen
des östlichen Aleppos nach Abtrünnigen durchkämmt, bringt die
höchste Expertise im blinden Rächen mit. Wo Badr Corps, Kata'ib
Hezbollah, und Asa'ib Ahl al-Haq, die der klerikalfaschistische Iran
in die syrische Hölle abkommandiert hat, herrschen, werden nicht nur
die verbliebenen Sunniten als Sühneopfer für die erlebte Hölle
unter Saddam Hussein und seiner Auferstehung im „Islamischen Staat“
verfolgt. Wo sich ihr Zugriff auf das Leben konsolidiert, werden
unnachgiebig alle als lebende Beleidigung des verborgenen Imams
identifiziert, die an ein fernes Leben außerhalb der Männerrotte,
die in irakischen Slums längst zum entscheidenden ökonomischen
Faktor geworden ist, erinnern: vermeintliche Homosexuelle,
unverschleierte Frauen, junge Liebespärchen.
Während die
sunnitische Auswanderung nach Syrien mit Hunderten von Blutrünstigen
mit Namen wie al-Almani, „der Deutsche“, und al-Belgiki, „der
Belgier“, ihren Schatten auf Europa wirft, ergänzen inzwischen
ganze Milizen aus dem proklamierten schiitischen Halbmond die Front
Bashar al-Assads, wie die afghanische Hezbollah, die pakistanische
Liwa Zaynabiyun und die jemenitische Ansar Allah. Wie ihre
sunnitischen Komplementäre bestehen sie nicht ausschließlich aus
ideologisch durch und durch stramme Kader. Viele der zwischen 10.000
und 12.000 afghanischen Milizionäre in Syrien lebten zuvor als
Geflüchtete im Iran unter einem Regime, das wahrlich als Apartheid
zu denunzieren wäre. Der Iran drängt sie mit dem Versprechen einer
Legalisierung ihrer kümmerlichen Existenz in die tarnfarbende Kluft.
Es erinnert an die Ein-Kind-Politik des viel beschworenen
Stabilitätsgaranten in den 1980er Jahren. Tausende Kinder wurden
ihren Familien abgepresst und gezwungen, eingegrabene explosive
Metallkörper an der irakisch-iranischen Front zu neutralisieren.
Versprochen war den Kindern das Paradies, den Familien die Güte des
revolutionären Staates. Inzwischen droht der Iran, ein „Anker der
Stabilität“ (Hassan Rouhani, aber nur die wenigsten europäischen
Staatsmänner würden ihm widersprechen), siegestrunken an, auch im
Jemen und Bahrain eine Entscheidung in der blutigen Rivalität mit
Saudi-Arabien zu erzwingen.
Wer
zwischen diesen Feinden des Lebens ausharrt, ist wahrlich
alleingelassen. Doch das Interesse von ihnen zu erfahren, ihnen, wenn
auch mit weniger als dem Gröbsten, beizustehen, existiert nur bei
den Wenigsten. Razan Zaitouneh etwa ist eine der Begründerinnen des
Violations Documentation Center, mit dem die Geiseln und Toten der
politischen Ökonomie der Haft, die das Regime und seine militanten
Feinde installierten, dokumentiert werden. Um den Schergen Assads zu
entkommen, übernachtete Razan nahezu täglich woanders. In Ghouta,
östlich von Damaskus, wurde sie am 21. August 2013 Zeugin des
Erstickungstodes und empörte sich über die zynische Resolution der
„Vereinten Nationen“, die den Verbleib Assads als syrischen
Präsidenten legitimierte. Kein halbes Jahr später wurden sie und
ihre Freunde Samira al-Khalil und Nazem Hammadi sowie ihr Mann Wael
Hamada verschleppt. Doch nicht durch das Regime, ihre Familie
beschuldigt die Jaysh al-Islam, den mächtigsten Warlord in Douma,
finanziert durch die Saudis. Razan und ihre Freunde, die „Douma 4“,
sind bis heute verschwunden – und keiner fragt inzwischen mehr nach
ihnen. Über 200.000 Menschen wurden in den vergangenen
Jahren verschleppt und
ihre Angehörigen erpresst, mehr als 11.000 Menschen sind in den
Fängen ihrer Peiniger, in der Mehrheit regimeloyale Banden,
gestorben. Wiam Simav Bedirxan erzähltin
der bedrückenden Filmdokumentation über die Ruine Homs „Silvered
Water, Syria Self-Portrait“ von dieser beidseitigen Bedrohung durch
das Regime und islamistische Banden.
Damit,
dass die Freunde der syrischen Opposition so abstrakt von „den
Rebellen“ daherreden, helfen sie den realen Oppositionellen nicht.
Es gibt sie noch, die säkularen Streiter eines Syriens für alle.
Manche sind gezwungen, sich mit der vorherrschenden Bande zu
arrangieren, um die beidseitige Bedrohung standzuhalten. Hin und
wieder werden sie auch porträtiert –
mit der Ungewissheit wie lange sie noch leben. Auf Gnade des Regimes
können sie als letztes hoffen. Mit der Einnahme des östlichen
Aleppos geht ein weiteres perfides Detail der syrischen Katastrophe
einher. Vladimir Putin, militärischer Patron Assads, und Recep
Tayyip Erdoğan, oberster Warlord der sunnitischen Militanten,
feilschen um die Garantie dafür, dass den Militanten der Abzug aus
Ostaleppo nach Idlib gewährt wird. Über ein Gespräch mit Putin
hatte Erdoğan noch im November gesagt,
dass er „unsere Freunde“ darin instruiert habe, die Jabhat Fatah
al-Sham zum Verlassen Aleppos zu bringen. Mit „unseren Freunden“
meint Recep Tayyip nicht die syrische al-Qaida selbst, wie man denken
könnte, viel mehr die Staatsbediensteten an der Front, etwa des MİT.
Von Idlib aus, so droht es, könnten die Militanten in die „Operation
Euphrates Shield“ gegen ein föderales und säkulares Nordsyrien
integriert werden. Aus Rache für Aleppo terrorisieren sie
währenddessen noch die schiitischen Exklaven al-Fu'ah und Kafriya in
Idlib.
Die syrischen
Taliban der Ahrar al-Sham* sind inzwischen zum wesentlichen
Koalitionär der türkischen Militärkampagne in Nordsyrien geworden.
Sie bewegen sich auf al-Bab zu, Aleppo dient ihn allein noch zur
Propaganda eines neuen Srebrenica. Die Mobilisierung gegen die
konfessionellen Feinde der ahl as-sunna, des „Volkes der
Tradition“, erfolgt in der Türkei über die islamistische Charité
İHH, die berüchtigte Ensar Vakfı, die Parteijugend von Millî
Görüş: Anadolu Gençlik, und auch über das Diyanet selbst, der
höchsten islamischen Autorität in der Türkei. Die Mobilisierung
etwa vor das iranische Konsulat in Istanbul dient nicht der
wirklichen Konfrontation mit dem Iran, viel mehr der staatstragenden
Inszenierung als sunnitisches Opferkollektiv. In der Konsequenz ist
die Teilnahme der nationaljihadistischen Banden – bislang noch mit
Ausnahme der syrischen al-Qaida – an dem türkischen
Militäreinmarsch auch eine indirekte Entscheidung im Interesse des
„Regimes der Rafida“. Sie kamen ihren Glaubensbrüdern nicht in
der Schlacht um Aleppo bei, viel mehr instruierte sie der türkische
MİT in der Einnahme von Cerablus und dem Einschlagen eines
sunnitischen Keils inmitten eines föderalen Nordsyriens.
In
den ganzen Jahren der syrischen Katastrophe haben die Freunde des
„Vereins freier Menschen“ (Marx) keine syrischen Mitstreiter
gefunden. Nicht, weil es diese nicht gibt: weil sie nicht nach ihnen
geschaut haben. Seit dem 11. September 2001 ist die orientalische
Despotie mit ihren antisemitischen Implikationen zentraler Gegenstand
ideologiekritischer Indignation, doch bis heute haben ihre
Protagonisten, mit wenigen Ausnahmen, keine syrischen Genossinnen und
Genossen. Der großartige exilierte Kritiker des kulturellen
Relativismus, Sadiq Jalal al-Azm, lebte die vergangenen Jahre in
Berlin, doch niemand lud ihn zum Gespräch, nirgends kursierten
seine Schriften in
Lesezirkeln, dafür geifert man über abtrünnige Diskursgauner. Am
11. Dezember ist Sadiq al-Azm verstorben.**
Ohnmächtigkeit
wäre noch human, was vorherrscht ist kaltes Desinteresse. Die
wenigen, die sich für Syrien interessieren, lassen Mythen ranken um
die von allen alleingelassenen Militanten. Doch so phlegmatisch ist
Europa nicht. Die zivilisierte Verachtung gegenüber der
Schießbefehl-Forderung deutscher Nazis ist eingekehrt in die
europäische Flanke des türkischen Todesstreifens entlang der
syrischen Grenze. Jene, die aus Aleppo und anderswo flüchten, werden
spätestens hier wieder durch einen ganz konkreten Schießbefehl in
die syrische Hölle abgedrängt. In Griechenland ist jene religiöse
Minorität der Eziden, die der „Islamische Staat“ beinahe
ausgerottet hat und die in der Türkei zur Konversion gedrängt wird,
gezwungen, in Slums auszuharren. Es ist naheliegend, wo konkrete
Solidarität zu greifen hätte.
Doch
auch die nächste drohende Katastrophe lässt man unaufgeregt auf
sich zu kommen. „Als wir auf diesen Weg aufgebrochen sind“, so
Recep Tayyip Erdoğan, „haben wir das Leichentuch angelegt“. Es
sei die „höchste Ehre“, so der türkische Staatspräsident, „die
Stufe des Martyriums“ hinaufzusteigen.
Sein Minister Mehmet Özhaseki ergänzte jüngst
bei einer Ansprache vor Polizisten: „Wir sind alle Anwärter,
Märtyrer zu werden. Falls Allah es so vorsieht, werde ich zum
Märtyrer. Hoffentlich werde ich auch Märtyrer“. Doch bescheiden
wie sie sind überlassen die Muslimbrüder in Amtswürden diese Ehre
anderen. Das administrative Diyanet wirbt in Comics bei Kindern für
die Schönheit des Märtyrertodes. Händchenhalten unter Verliebten
sei dagegen unsittlich. Ein Lehrer einer Elementarschule in Istanbul
lässt seine Schüler vor einer ausgeschmückten Märtyrerecke mit
Galgen posieren.
Dies ist das Programm des Onkelstaates der Muslimbrüder: die
Verherrlichung des Todes und Rache als kollektive Übung.
Die
Teyrêbazên Azadîya Kurdistan, die „Freiheitsfalken Kurdistans“,
eine undurchsichtige Bande nationalistisch Verrohter, empfiehlt sich
dabei den Muslimbrüdern nachdrücklich als Komplementär an. In
Beşiktaş, wie zuvor in Ankara, schlugen ihre suizidalen
Märtyrerkommandos dort zu, wo das Leben anderntags noch gefeiert
wird, in den Refugien lebensfroher Laizisten. Die Detonationen gelten
türkischen Militärs und Polizisten, doch der Tod Unschuldiger wird
kühl einkalkuliert. Während man über die „Freiheitsfalken“ nur
wenig erfährt – die PKK laviert ihr gegenüber zwischen
entschiedener Distanzierung und väterlichem Tadel, manch einer
spekuliert auf eine Infiltration durch den MİT –, schlägt der
Staat gnadenlos gegen jene zu, die sich gegen die beidseitige
Eskalation stemmen. Innerhalb von 48 Stunden nahmen
Polizisten 568 Parteifreunde
der Halkların Demokratik Partisi sowie der verschwisterten
Kommunalpartei Demokratik Bölgeler Partisi in Haft. In den gerazzten
Bezirkszentralen der Partei hinterließ die Polizei wie jede andere
Gang ihr Graffiti:
„Wir waren hier, doch ihr wart nicht da“. In Cizre und anderen
Ruinen im Südosten, wo es kaum anders aussieht als in Aleppo, prangt
an vielen Fassaden in verschiedenen Varianten eben jenes „Geldik
Yoktunuz“, eine Verhöhnung der in die Flucht Gezwungenen. Der
Abgeordneten Besime Konca drohten Polizisten
während ihrer Inhaftnahme: „Du gehörst in den Sarg oder in den
Knast“, über Stunden berieselte man sie mit Militärmärschen. Der
Vater einer der zivilen Toten von Beşiktaş empörte sich
darüber, dass der Staat seinen Sohn einen „Märtyrer“ nennt.
Sein Tod habe keinen Sinn gehabt, er wurde ermordet. Noch sind die
individuellen Widerstände gegen die Märtyrerisierung nicht
erdrückt.
Was
auch mit Blick auf den Iran im Jahr 2009 und wenig später auf Syrien
beschämend war – man wisse ja nichts konkretes, wer und wo denn
die Oppositionellen seien – blamiert sich in der Türkei vollends.
Jeder kann wissen von den Frauenprotesten unter den
Bannern „Beharrlich
für Freiheit und Laizität“ und „Für
unser Lebenüben wir Widerstand gegen männliche und staatliche
Gewalt“.
Es interessiert nur nicht, denn die Indignation der Unfreiheit, die
Denunziation der Unmündigkeit sind überhaupt nicht als praktisch
werdende Universalerzählung gedacht, sie dienen einzig dem eigenen
intellektuellen Wohlempfinden.
*
Die Ahrar al-Sham preist die
afghanischen Taliban dafür, dass sie gelehrt haben, „wie das
Emirat in die Herzen des Volkes gepflanzt wird, bevor es Wirklichkeit
auf dem Boden wird“.
** Danke an
Andreas Benl, der mich an Sadiq al-Azm erinnerte.