Montag, 18. November 2019

Von Baghdad bis Mashhad – kein weiterer Tag für die khomeinistische Despotie Solidaritätsaufruf mit den Protesten im Irak und Iran



Special Representative of the Secretary-General for Iraq and Head of the United Nations Assistance Mission for Iraq“, nennt sich jenes Amt, das Jeanine Antoinette Hennis-Plasschaert innehat. Die hochrangige Funktionärin der „Vereinten Nationen“ gibt mit Blick auf den Irak den europäischen Weg vor. So äußerte sie über Twitter ihre Sorge, die irakische Ökonomie könne Schaden an den wochenlangen Protesten nehmen. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan dagegen fragt sich als berüchtigter Verschwörungsspekulant, wer sich hinter den Protesten im Irak tarne: „Wir haben eine Vermutung. Wir denken, es könnte auf den Iran überschwappen. Das Bestreben ist es, die islamische Welt zu brechen und einen gegen den anderen auszukontern. Denken Sie daran, dass einige antitürkische Aussagen aus dem Irak kamen“.

Die zentralen Koordinaten der regionalen Expansionsstrategie der khomeinistischen Despotie und ihres „schiitischen Halbmondes“ liegen im Irak und dem Libanon. Seit Jahren vereinnahmen auch in Baghdad und vor allem im Südirak die Parteien und Milizen der politischen Shia die urbanen Fassaden mit ihren tugendterroristischen Drohungen, der immerzu gleichen antizionistischen Hetze, der Märtyrerverehrung als Verächtlichmachung des Lebens und der Forderung nach der keuschen Erscheinung der Frauen unter dem Chador. Es war noch Saddam Hussein höchstpersönlich, der die Krise in Folge der irakisch-iranischen Katastrophe (1980-88) mit frauenfeindlichen Kampagnen exorzierte. Saddam Hussein zerschlug das relativ progressive Familienrecht des Iraks, das etwa verbot, Mädchen und junge Frauen davon abzuhalten, an schulischer Bildung teilzuhaben. Während die Propaganda des Baʿth-Regimes die Frau wieder auf ihre Reproduktionsfunktion verpflichtete, wurden Frauenmorde im Namen der Familienehre de facto legalisiert. Die Todesschwadronen der Saddam-Fedajin ermordeten indessen, bis in die Endjahre des Regimes hinein, Frauen als „Prostituierte“, die die nationale Ehre befleckt hätten – die staatlich geförderte Prostitution war zuvor noch ein florierendes Gewerbe vor allem im Südirak.

Mit dem erhofften Ende der Despotie Saddam Husseins wurden die Frauen Iraks jedoch nicht befreit. Die US-amerikanische Zwangsverwaltung duldete die Etablierung einer Paralleljustiz. Die ent-baʿthifizierten Institutionen wurden zur Beute konfessionalistischer Parteien. Während schiitische Imame in ihren Gangterritorien die Sharia unterhielten, galt in der ruralen Peripherie traditionelles Stammesrecht. Vor allem in Baghdad und dem südirakischen Basra machten schiitische Gangs Jagd auf „unkeusche“ Frauen und ermordeten Hunderte von ihnen. Wenn auch im Irak nach wie vor kein gesetzlicher Verschleierungszwang wie in der Islamischen Republik Iran existiert, so sind sich doch vom „quietistischen“ Großayatollah Ali al-Sistani bis zum national-populistischen Agitator Muqtada al-Sadr alle Alt-Herren der Shia darin einig, dass der Wert einer Frau in der Keuschheit, also in der Verschleierung ihrer Reize liegt. Im Jahr 2014 verbot das Bildungsministerium irakischen Schülerinnen, „tabarruj“ zu praktizieren. Mit dem islamischen Terminus „tabarruj“ werden jene Frauen verächtlich gemacht, die ihre Schönheit außerhalb des Hauses entschleiern. Seither herrscht ein Kleidungszwang, mit dem verunmöglicht werden soll, dass die weiblichen Konturen der Schülerinnen zu erahnen sind. Im vergangenen Jahr kam es zu einer erneuten Serie an Frauenmorden. Die erfolgreiche Instagram-Influencerin Tara Fares war eine jener Frauen, die auf der Straße aufgelauert und ermordet wurden. Shimaa Qasim Abdulrahman, „Miss Iraq 2015“, exilierte nach Jordanien, nachdem sie die Drohung erhalten hatte, das nächste Opfer zu sein. In diesen Tagen tritt Shimaa wieder selbstbewusst auf dem Midan at-Tahrir auf, dem Zentrum der seit Tagen andauernden Straßenproteste in Baghdad. Auf den Fassaden rund um den Midan at-Tahrir ist das Bild ein gänzlich anderes als das der Shia-Milizen. Frauen mit offenem Haar und in revolutionärer Pose sind eines der häufigsten Motive auf dem grauen Beton.


Es ist nicht nur eine Hungerrevolte: Liegt der Konsens der Protestierenden darin, dass herrschende Verelendungsregime zu Fall zubringen, befreit sich in Baghdad die Jugend auch von den tugendterroristischen Zwängen, die in den vergangenen Jahren Festivals und säkulare Festlichkeiten mehr und mehr verunmöglicht haben. Junge Frauen und Männer trotzen in Baghdad der verhängten Sperrstunde, tanzen, singen und inhalieren auf der Straße den Dampf ihrer Wasserpfeifen. „Die Trennung von Staat und Religion ist viel besser als die Trennung von Mann und Frau“, ist einer der Slogans auf dem Midan at-Tahrir, der nicht für alle sprechen mag, aber für viele, die in diesen Tagen auf der Straße ausharren. Junge Pärchen, die ihre Hände halten, sich küssen und dabei vor Barrikaden fotografieren, sind in diesen Tagen im befreiten Zentrum Baghdad alles andere als selten.


Und doch traf bislang der Massenprotest in Europa und anderswo vor allem auf Ignoranz. In Folge der syrischen Katastrophe ist Desillusionierung längst kaltem Desinteresse gewichen. Dabei könnten die Unterschiede zu Syrien kaum augenfälliger sein. Über Syrien lag von Anbeginn der Schatten des innerislamischen Schismas und der regionalen Rivalitäten. Es dauert nicht lange und die militante Opposition unterwarf sich denselben Mechanismen wie das Regime. Start-up-Warlords warben vor allem in Qatar, Saudi-Arabien und der Türkei um Finanzierung ihrer Milizen gegen das ungläubige „Nusairier-Regime“. Imame und salafistische Wanderprediger fungierten als Rekrutierer. Auf Seiten des Feindes fungierten die iranische Revolutionsgarde, die libanesische Hezbollah, die konfessionelle Steroid-Miliz der Shabbiha sowie Shia-Milizen aus dem Irak und anderswoher als Komplementär. Gebrochen wurde mit diesen fatalen Mechanismen der konfessionellen Racketisierung einzig in Rojava, das in diesen Tagen von beiden Seiten in der Existenz bedroht wird. In Baghdad dagegen protestieren sie konfessionsübergreifend und Seite an Seite gegen das Regime, während die Kritik an dem Unwesen der Shia-Milizen und der aggressiven Infiltration des Iraks durch den khomeinistischen Iran im schiitischen Südirak am entschiedensten geäußert wird.


Nach dem Ende der al-Baʿth-Despotie flüchteten viele Iraker in die Blutsurenge konfessioneller Zugehörigkeit. Die Todesschwadronen der politischen Shia sowie die nahezu täglichen suizidalen Massaker der irakischen al-Qaida und ihrer Derivate produzierten eine Atmosphäre permanenter Angst. In Baghdad und anderswo harrten die Iraker in ihren nach Konfessionen getrennten Stadtteilen aus. Im sunnitischen „Islamischen Staat“ kulminierte diese Katastrophe gescheiterter Befreiung. Die Emanzipation der (als schiitisch identifizierten) Jugend vom Milizunwesen und der Shia-Variante eines „Islamischen Staates“ – so etwa der Titel einer frühen Schrift von Ruhollah Khomeini, die aus seinen Vorlesungen im irakischen Najaf besteht – ist der entscheidende Bruch mit dieser Katastrophe. Jene Generation, die ihre Jugend im Schatten islamistischer Blutfehden verbracht hat und die das Rückgrat der Massenproteste ist, ist ermüdet vom sektiererischen Unwesen. An der Universität Basra im Südirak ist der Slogan unmissverständlich: „Nein zu Muqtada (al-Sadr) und Nein zu Hadi (al-Amiri), Nein zu Qais (al-Khazali) und Nein zu Ammar (al-Hakim) – sie sind der Grund der Zerrüttung“. Die Genannten sind die zentralen Figuren rivalisierender Shia-Milizen und ihres Unwesens. „Die Historiografie wird bezeugen, dass US-amerikanische M1 Abrams ihnen (den Shia-Milizen) die Macht über den Irak gebracht und die Tuk-Tuks ihnen die Macht wieder genommen haben“, so ein Banner auf dem Midan at-Tahrir. Im Januar 2015 präsentierte die Kata'ib Hezbollah einen Konvoi aus M1 Abrams & Humvee mit wehenden Flaggen der Shia-Miliz. Die irakische Hezbollah hatte sie vermutlich zuvor von der regulären irakischen Armee und der vom khomeinistischen Iran infiltrierten Regierung in Baghdad erhalten. Die Tuk-Tuks sind jene motorisierten Dreiräder, die am Midan at-Tahrir die Logistik der Proteste übernehmen.


Am Vorabend des 40. Jahrestages der Geiselnahme des US-amerikanischen Diplomatenkorps in Teheran durch die Khomeinisten attackieren Iraker in der „heiligen Stadt“ Karbala, südlich von Baghdad, die iranische Repräsentanz. Sie reißen die Flagge der „Islamischen Republik Iran“ herunter und hissen die des Iraks. Auf der Fassade prangt der Slogan: „Karbala ist frei. Verschwinde Iran“. In Najaf, wo Ruhollah Khomeini früher die revolutionäre Etablierung eines „Islamischen Staates“ lehrte, wird von Protestierenden eigenhändig die „Imam Khomeini Straße“ in „Straße der Gefallenen der Oktoberrevolution“ umbenannt. Und in Baghdad ist der Slogan: „Zur Hölle mit Qasem Soleimani“, jenem Kommandeur der Qods-Pasdaran, die dem Expansionsauftrag weit über die geografischen Grenzen des Irans hinaus verpflichtet ist.

Alle Fotografien von Ziyad Matti (Baghdad, 3. und 13. November)

Das heißt nicht, dass die Proteste xenophob sind. Einer der häufigsten Forderungen – wenn auch mit nationalem Pathos vorgetragen – ist die nach einer Staatsbürgernation, die nicht zur Beute aggressiver Rackets und ihrer Meister wird, deren Agenda aus pathischer Projektion und organisierter Unmündigkeit besteht. Eine ezidische Delegation aus dem Nordirak wird auf dem Midan at-Tahrir überschwänglich begrüßt, während irakische Christen ohne Angst selbstbewusst an den Protesten teilhaben. Die Fassadenbemalung erinnert auch an den Genozid des „Islamischen Staates“ im ezidischen Sinjar-Gebirge.

Im Irak existiert innerhalb der organisierten Shia noch eine relevante „quietistische“ Fraktion um den Großayatollah Ali al-Sistani, die als Mediator zwischen dem Interesse der khomeinistischen Despotie, ihren Satelliten in Baghdad, den fragilen Parteienallianzen und den Protestierenden auftritt. Sie vermag das Potenzial dazu haben, den khomeinistischen Zugriff auf den Irak leicht abzuschwächen und ökonomische wie politische Reformen zu ermöglichen, zugleich droht sie darin, die sozialrevolutionäre Momente vom befreiten Midan at-Tahrir zu absorbieren. Anders im Iran, wo die in Europa beschworene Differenz zwischen Reformern und Prinzipalisten einzig noch eine brüchige Fassade ist, die im Iran selbst kaum noch jemanden täuscht. Fraglich war einzig die Zeit, wann auf Irak und Libanon wieder Massenproteste im Iran folgen würden. Provoziert durch die Entscheidung des Regimes, Benzin zu rationieren und den Literpreis exorbitant anzuheben, brachen im ganzen Iran Straßenproteste aus, bei denen inzwischen viel mehr Städte involviert sind als in allen anderen Jahren zuvor. Es bleibt dabei kein Zweifel übrig, dass die Protestierenden die Verteuerungsentscheidung nicht als einzelne Fehlentscheidung missverstehen. Selbst das Blatt Kayhan, die gepresste Meinung von Ali Khameini, integriert die Entscheidung in die aggressive Strategie, die der Entgrenzung der „Islamischen Revolution“ folgt. Israel, so Kayhan, sei der eigentliche Grund der Verteuerung des Benzins, da ohne die Existenz des Judenstaates auch die Finanzierung der „Achse des Widerstandes“ – also der Hezbollah und Hamas, des syrischen al-Baʿth-Regimes und der irakischen Shia-Milizen – hinfällig wäre. Es kann in der khomeinistischen Despotie keine Politik der Reformen existieren, da der aggressive Entgrenzungsdrang der „Islamischen Revolution“, die antijüdische Projektion und der Hass auf die emanzipierte Frau Fundamente der „Islamischen Republik“ sind. Anders kann sie nicht existieren. Folglich fungiert auch keine Figur innerhalb der Islamischen Republik als Appellationsinstanz für die Protestierenden – anders als noch in dem Jahr 2009 mit Mir-Hossein Mousavi oder dem Kleriker Hossein Ali Montazeri. In diesen Tagen heißt es ebenso „Nieder mit Rouhani“ wie „Nieder mit Khamenei“ und „Nieder mit den Gebrüdern Larijani“. Einzig an Reza Shah erinnern einige Slogans, der 1924 am Klerus gescheitert war, die Republik auszurufen, und dann wenig später als Monarch antrat. Einer der häufigsten Slogans in diesen Stunden ist „Kanonen – Panzer – Feuercracker, das Regime der Akhunda wird (dennoch) verschwinden“. Akhunda ist der geläufige Name für den schiitischen Klerus. Oder „Unabhängigkeit – Freiheit – Iranische Republik“.

Eine junge Frau reißt unter frenetischem Jubel der Umstehenden einen der omnipräsenten Regimebanner, auf denen „Nieder mit Amerika“ propagiert wird, herunter. Die Protestierenden kontern die khomeinistische Katastrophenpolitik in Syrien, dem Irak und Gaza mit dem Slogan: „Unser Geld (aus den Erdölverkäufen) ist verschwunden – es wurde alles an Palästina (an die Hamas und den Jihad) gegeben“. Es wird dabei nicht nur in der Kapitale Tehran protestiert, viel mehr in nahezu allen Städten der gleichnamigen Provinz. In Shahriar wird die monumentale Replik des Fingerrings von Ruhollah Khomeini zerstört, während die Umstehenden rufen: „Habt keine Angst: wir stehen Schulter an Schulter“. In Andisheh gerät die „Imam Ali“-Basis der Basij-Miliz in den Fokus der Protestierenden. In Malard trifft der Zorn den Imam der Khutba-Predigt, der zentralen Institution der Agitation in der Islamischen Republik. Und in Eslamshahr werden Porträts mit dem Antliz von Ali Khamenei verbrannt. Ähnlich in der zentraliranischen Provinz Isfahan. Der Protest umfasst über das Zentrum hinaus nahezu alle in der Provinz liegenden Städte. In Kazerun etwa wird eine Hawza, ein theologisches Seminar der Zwölfer-Shia, niedergebrannt. Unweit der Grenze zum Irak im kurdischen Kermanshah, Ilam und Sanandaj; in Tabriz, Zanjan, Ardabil und Rasht im Nordwesten Irans; in Gorgan und Mashhad im Nordosten; in Birjand im Osten; in Bushehr und Bandar Abbas ganz im Süden – kaum eine Region, die nicht teilhat an den Protesten. Intensiv sind die Proteste auch in Mahshahr, dem logistischen Zentrum der iranischen Petroleumindustrie in der Provinz Khuzestan. Unzählige Filialen von Finanzinstituten, die mit der „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“ affiliiert sind, werden niedergebrannt. Allein in Khorramabad, Provinz Lorestan, werden 44 Filialen beschädigt. In Karaj, Provinz Alborz, wird aus der Flagge der Islamischen Republik der stilisierte Namenszug „Allah“ in Form einer Tulpenblüte – wo das Blut eines Märtyrers der „Islamischen Revolution“ fließt, werde eine Tulpe blühen, so die Staatsmythologie – herausgebrannt. Im khomeinistischen Iran ist es verboten, die Nationalflagge nur auf halbmast zu hissen, da dies eine Respektlosigkeit gegenüber dem Wort „Allah“ auf der Flagge wäre. In diesen Stunden brennt die Flagge der Konterrevolution.

Vom Baghdader Midan at-Tahrir existiert inzwischen eine Solidaritätserklärung mit den Protestierenden im Iran:

"From al-Tahrir Square - Baghdad
You are witnessing nowadays the Iraqi demonstrators, who are revolting against their government, shouting loud slogans that might sometimes seem against Iran.
It is crucial for us that you should be aware of the fact that we Iraqi People only have a genuine love for you.
Our problem is with the Iranian sectarian regime who backs the all corrupt politicians, criminals, and murderers in our current government
Our ambition and only purpose is to get rid of our corrupted rulers, we are also looking forward to strong and stable relations with our Iranian neighbours who deserve a just and civilised government.
Long Live the people
Your Iraqi Brothers and Sisters"

Donnerstag, 7. November 2019

Der Jihad an der südöstlichen Grenze des Nordatlantikpakts – Flugschrift über den Rachefeldzug gegen die Föderation Nordsyrien


Wie zuvor im okkupierten Afrin kursieren wieder Snuff-Filme, die den Feind – eine „ungläubige, gottlose terroristische Organisation ohne heilige Schrift“, so einer der Warlords der syrischen Katastrophe Recep Tayyip Erdoğan – demütigen sollen. „Die Leichen der Schweine sind unter unseren Füßen“, höhnen die Milizionäre, während sie über den leblosen Körper einer Verteidigerin Rojavas trampeln. „Dies ist eine der Nutten, die du uns gebracht hast“, worauf ein penetrantes „Allahu Akbar“ folgt. Einer der prominentesten Kommandeure aus den Tagen der Schlacht um das urbane Halab, Yasser Abdul Rahim (in jenen Tagen bei der Muslimbrüder-nahen Miliz Faylaq al-Sham), fotografiert sich lächelnd vor einer weiteren überwältigten, aber noch lebenden Verteidigerin, während die Männerrotte „Schlachtet sie“ und „Schwein“ krakelt.

Das sind die „legitimen Sicherheitsinteressen“ der Türkei, die die Charaktermasken der Politik nur moderieren: der aggressive territoriale Expansionsdrang an der Seite rivalisierender Shariah-Gangs nach außen und der repressive Kitt der Fraktionierung der Republik nach innen. Der Generalsekretär der „Vereinten Nationen“ drückt seine „tiefe Wertschätzung für die starke Kooperation“ mit der Türkei aus. Es werde die demografische Expansionsstrategie der „new settlement areas“ durch die „Vereinten Nationen“ geprüft – ganz so als wäre die türkische Aggression einzig ein bürokratischer Akt. Der Amtsheer des deutschen Auswärtigen Amtes scheint allein nach Ankara zu reisen, um mit seinem türkischen Amtskollegen Annegret Kramp-Karrenbauer zu verhöhnen. Währenddessen halluziniert der Generalsekretär des Nordatlantikpaktes über einen „entscheidenden Beitrag“ der Türkei zur physischen Zerschlagung des „Islamischen Staates“.

Während Donald Trump vor weniger als einem Jahr bei der Begründung seiner „Next door“-Politik davon fabulierte, dass „Präsident Erdoğan“ ausrotten wird, was vom „Islamischen Staat“ übrig geblieben ist, übernahmen die Derivate der syrischen al-Qaida das Gouvernement Idlib nahezu in Gänze und verleibten sich zudem die ersten Dörfer im okkupierten Afrin ein. Die in Idlib stationierte türkische Armee verharrte in Passivität. Selbst angesichts der Konfrontationen in syrischen Grenzdörfern wie Atmeh schritt die türkische Armee nicht ein. Anders als ihre Helden in Afghanistan – die noch gezwungen waren, sich in Höhlen zu tarnen – herrschen die syrischen Derivate von al-Qaida seitdem über ein weitflächiges Territorium entlang eines Teils der Südgrenze des Nordatlantikpakts.

In diesem Idlib, nicht mehr als 5 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt: im Dorf Barisha, wurde jüngst Abu Bakr al-Baghdadi aufgespürt. In Idlib, soviel sollte man dabei wissen, verfügt die türkische Armee über ein System von Observationsposten. Die Identifizierung und Tötung des flüchtigen Kalifen geschah in direkter Koordination zwischen US-amerikanischem Militär und dem militärischen Verband der Föderalisten Nordsyriens, so erklärten es Mazlum Abdî, Kommandeur der Hêzên Sûriya Demokratîk, und hochrangige Beamte aus dem State Department sowie dem Pentagon übereinstimmend. Wenig später wurde auch Abu Hasan al-Muhajir, die rechte Hand des Kalifen, im türkisch okkupierten Cerablus getötet. Auch dies wurde zwischen US-Amerikanern und Föderalisten koordiniert. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Beide Tötungen geschahen im Terrain türkischer Protektorate und ohne türkische Beteiligung. Das US-amerikanische Militär scheint – anders als Donald Trump – ganz genau zu wissen, wem sie bei der Eliminierung der Reststrukturen des „Islamischen Staates“ trauen kann und wem eben nicht. Milizionäre innerhalb der „Nationalen Armee Syriens“ – das organisierte Frontvieh des türkischen Militärs – versprechen indessen, „die Städte der atheistischen Kurden“ zu erobern, während sie ihre Drohung mit einem Nashid des „Islamischen Staates“ unterlegen, dem schaurigen „Klirren der Schwerter“.

Eine Kooperative aus der al-Nusra Front, des ursprünglichen Flügels von al-Qaida in Syrien, mit kleineren salafistisch-jihadistischen Einheiten wie der „Bin Laden Front“ oder der „Abdullah Azzam Brigade“ hat in Idlib seine Despotie als „Syrische Regierung der Errettung“ längst und unbedrängt von der türkischen Armee institutionalisiert. Selbst im traditionell sunnitisch-konservativen Idlib ist diese bei vielen als Etablierung eines Idlibstan verhasst. Die ständigen russischen Bombardements auf die „Deeskalationszone“ haben den jihadistischen Zugriff auf Idlib nur noch verstärkt. Teile der stärksten Verbände innerhalb der türkeihörigen „Nationalen Armee“ – die syrischen Taliban der Ahrar al-Sham und die den Muslimbrüdern nahen Faylaq al-Sham – nahmen im März 2015 Seite an Seite mit der al-Nusra Front und unter dem Namen Jaysh al-Fatah das urbane Idlib und wenig später weitflächig das gleichnamige Gouvernement ein. Die „Armee der Eroberung“ genoss dabei die Generosität der Türkei, Katars und Saudi-Arabiens. Fusionsgespräche scheiterten schlussendlich am nationalistischen Flügel von Ahrar al-Sham, den ständigen Revierfehden und Gerüchten über feindselige Intrigen.

In den Monaten zuvor begann die syrische al-Qaida in den Gouvernements Aleppo und Idlib ihre Militärkampagne zur Etablierung eines Konkurrenz-Kalifats zum rivalisierenden „Islamischen Staat“. Die al-Nusra Front sowie ein weiteres Derivat der al-Qaida, die „Garnison von al-Aqsa“, überrannten dabei die Frontpositionen der mit der „Freien Syrischen Armee“ assoziierten Brigade der Kata'ib Shams al-Shamal (als Teil der Allianz der Fajr al-Hurriya) und zerrieb ihre Bataillone. Ahrar al-Sham und weitere Milizen aus der Sham Front, einer Erweiterung der türkeinahen „Islamischen Front“, kooperierten mit der syrischen al-Qaida. Das aufgeriebene „Nördliche Bataillon der Sonne“, die kurdische al-Akrad Front (und somit weite Teile der Allianz „Morgenröte der Freiheit“) sowie Fraktionen des Harakat Hazzm und der „Syrischen Revolutionsfront“ gründeten in der Folge die Jaysh al-Thuwar, die „Armee der Revolutionäre“. Auch die Brigade al-Shamal al-Democrati aus der Bergregion von Idlib, dem Jabal Zawiya, traf die Aggression der syrischen al-Qaida. Die Brigadisten, die zuvor als Kritiker der forcierten Jihadisierung aus der „Syrischen Revolutionsfront“ ausgestoßen wurden, flüchteten gen Afrin.

Die „Nördliche Brigade der Demokratie“ und die „Armee der Revolutionäre“ wurden sodann Teil der militärischen Dachorganisation der Föderation Nordsyrien. Sie verstehen sich selbst als Bewahrer einer ursprünglichen „Freien Syrischen Armee“ und kritisieren die Türkei, dass sie die konterrevolutionären Ideen der al-Nusra Front und anderer jihadistischer Gangs unter der Fassade einer „(Pseudo-)Freien Syrischen Armee“ tarnt. Die „Armee der Revolutionäre“ nahm etwa an Befreiung von Rakka sowie an der Verteidigung von Afrin teil. Die Brigade al-Shamal al-Democrati scheiterte an dem Unwillen anderer daran, in Idlib einen Militärrat zu initiieren, um die Region von der türkischen Armee als auch den salafistisch-jihadistischen Feinden der Revolution zu befreien, ohne sie dem Regime auszuhändigen. Es ist eines der Elemente der kursierenden Dolchstoßlegende*, zu leugnen, dass die anti-jihadistischen Fraktionen der „Freien Syrischen Armee“ Teil der Föderation sind. Die „Armee der Revolutionäre“ war es auch, die im Februar 2016 die islamistische Sham Front aus dem Städtchen Tell Rifaat und von dem Militärflughafen Minaq verdrängte. Tell Rifaat nahm bis dahin eine Schlüsselfunktion für die Logistik zwischen der Türkei und den jihadistischen Gangs in Aleppo ein. Sie kam damit auch dem Regime und der Hezbollah zuvor und bewahrte so die Hoffnung, die Isolation des Kantons Afrin zu durchbrechen. Die türkische Armee rächte die alliierte Sham Front und bestrafte das freie Afrin mit ihren Haubitzen.

Komplementär zur militärischen Dachorganisation der Föderation Nordsyrien, der Hêzên Sûriya Demokratîk (bekannt sind sie unter dem englischen Namen: den Syrian Democratic Forces, SDF), hat sich am 10. Dezember 2015 die politische Dachorganisation des „Demokratischen Rates Syriens“ (Meclîsa Sûriya Demokratîk, MSD) gegründet. Die darin organisierten Parteien sehen sich einem säkularen und föderalen Syrien verpflichtet. Anders als es die Legende von der „stalinistischen Diktatur der PKK“ erzählt, sind in der Generalversammlung sowie im Exekutivrat verschiedene Parteien präsent: etwa die „Assyrische Partei der Einheit“, eine in Opposition zum Regime der Hizb al-Ba'ath gegründete Partei der christlichen Assyrer, oder die vor allem arabische „Syrische Nationale Allianz für Demokratie“, einer Partei, die sich in Tradition der ursprünglichen Proteste gegen das Regime im südsyrischen Daraa sieht und assoziiert ist mit der Brigade al-Shamal al-Democrati.

Die Wahrheit ist: Die Revolution gegen das Regime der Hizb al-Ba'ath pervertierte in dem Moment zur Konterrevolution als sie sich militarisierte und in der Folge jihadisierte. Nicht allein in dem Werben um Finanzierung durch Saudi-Arabien, Katar oder die Türkei unterwarf sie sich denselben Mechanismen wie die Shia-Milizen und Regimeschergen aufseiten des Feindes. Exemplarisch stehen dafür die Biografien der Milizionäre: Mustafa Sejari – Nicholas A. Heras vom Center for a New American Security in Washington D.C. nannte ihn vor einigen Jahren „A Rising Star in Northwest Syria’s Militant Opposition“ – etwa, der im türkischen Gaziantep das Politbüro der mit der „Freien Syrischen Armee“ assoziierten Mu'tasim Division, benannt nach einem Kalifen aus der Dynastie der Abbasiden, führt und einer der zentralen Figuren bei der Organisierung der „Nationalen Armee“ ist. Noch als junger Mann rückte Mustafa Sejari – sein Nom de guerre war Assad al-Islam – in den Lattakia-Militärrat der „Freien Syrischen Armee“ auf und wurde alsdann zum Lattakia-Kommandeur der „Syrischen Revolutionsfront“ von Jamal Maarouf** ernannt. Die Ränge in seiner Karriere als Warlord änderten sich, seine Gesinnung kaum: Amerika hindere die „muslimische Jugend“ an der Revolution, da es sein Wille sei, dass „unsere Jugendlichen“ getötet werden. In einer Vice-Reportage, die der auf Twitter umtriebige Revolutionskader nach wie vor auf Youtube präsentiert, brüllt er im März 2014 in der Mitte seiner Milizbrüder: „Wir müssen vor der ganzen Welt hervorheben, dass wir dies alles nur begonnen haben, um das Wort Allahs über alles zu bringen. Wir werden den islamischen Staat durch die Hände der Helden von al-Sham etablieren.“ Nein – er meinte nicht das Pseudokalifat gleichen Namens, das ihn und seine Milizen in verlustreiche Revierfehden zwang. Als Revolutionsfunktionär wurde Mustafa Sefari am 1. Januar 2018 von dem Middle East Institut nach Washington, D.C. eingeladen. Er warb für die Finanzierung der türkisch infiltrierten Fraktionen der „Freien Syrischen Armee“, die den Iran daran hindere, Syrien zu infiltrieren. Seine Miliz, die Mu'tasim Division, erhielt in den Jahren zuvor von den US-Amerikanern großzügig Militärmaterial; heute ist sie eine der von der Türkei privilegierten Milizen der „Nationalen Armee“.

Zwischen den Protesten im Irak und Libanon, bei denen vor allem auch die aggressive Ermächtigung der Staatsapparate durch konfessionelle Rackets in den Fokus der Kritik gerät, traf der US-amerikanische Präsident Donald Trump eine fatale Entscheidung, die seiner noch im Dezember vergangenen Jahres angedrohten „Next door“-Politik folgt und das nordöstliche Syrien an die östlichen Großmeister der Rackets und sektiererischen Thugs aushändigt. Die erste Front stießen in der Folge des US-amerikanischen withdrawal die türkischen Aggressoren zwischen Tell Abyad und Serê Kaniyê auf, einer Region, wo der „Islamische Staat“ Jahre zuvor „next door“ zur Türkei lag. Von hier passierten seine Suizidschwadronen die Grenze ungehindert, um in Diyarbakır am 6. Juni, in Suruç am 20. Juli und Ankara am 10. Oktober 2015 vor allem Kritiker des türkischen Regimes zu massakrieren. Wäre noch Kobanê an den „Islamischen Staat“ gefallen, hätten die Genozideure über einen durchgängigen Grenzstreifen von mehr als 200 Kilometern mit der Türkei geherrscht. Als der kurdische Konter-Jihad Tell Abyad befreite, rächte das türkische Militär die flüchtenden Soldaten des Kalifats mit seiner Artillerie. Im inzwischen türkisch okkupierten Tell Abyad werden wieder die Parteigänger des „Islamischen Staates“, unter ihnen ein Emir des gescheiterten Kalifats, gesichtet.

Wie aus den Tagen der Okkupierung von Afrin ist in diesen Tagen dieselbe Plünderungsökonomie zu beobachten. Zu Beginn der türkischen Militärkampagne „Operation Olivenzweig“ erhob die in Istanbul sitzende syrische Exil-Ulema in einer Fatwa die Eroberung von Afrin zur jihadistischen Anstrengung und verhieß die Beutenahme durch die Frontkämpfer Allahs als islamisch rechtens. Im jüngst okkupierten Serê Kaniyê hält inzwischen Essam al-Buwaydhani, Führer der berüchtigten Miliz Jaysh al-Islam, die Khutba-Predigt, in der er die theologische Rechtsmäßigkeit der Raubbeute hervorhebt: „Jeder Jihadist muss wissen, dass wir in diese Region gekommen sind, um sie von den Ungläubigen zu befreien.“ In ihrer früheren Bastion Ost-Ghouta wurde die „Armee des Islams“ als sunnitische Variante der „Shabbiha“, der regimetreuen Steroid-Miliz, gefürchtet. Erzwungenes Verschwinden säkularer Regimekritiker wie die „Douma 4“, eine mafiotische Schmuggelindustrie im isolierten Ost-Ghouta, bestialische Folter – das ist die „Armee des Islam“, die in diesen Tagen östlich von Serê Kaniyê in deutschen Panzergefährten des Typs „Leopard 2A4“ posiert. Wie Syrian Observatory for Human Rights hervorhebt, folgen die Entführungsindustrie und die Raubökonomie der jihadistischen Gangs durchaus einem höheren Zweck als der Allahs Willen: Sie sind der Hebel der demografischen Strategie, mit der die abtrünnigen Autochthonen aus Afrin und nun auch aus Nordostsyriens zur Flucht gezwungen werden.

Die imperiale Aggressivität der Türkei ist wahrlich kein Ausdruck innerer Stärke. Sie verhält sich viel mehr wie ein von der Krise Getriebener. Das demografische Tabula rasa, das in den türkischen Protektoraten verfolgt wird, entspricht einer brutalen Steigerung der Straßenschlachtung in den abtrünnigen Distrikten im kurdischen Südosten der Türkei, in Diyarbakır-Sur, Şırnak oder Cizre. Das türkische Propagandaorgan in Staatshand TRT Haber veröffentlichte Ende September Details der „new settlement areas“, die in diesen Tagen von den „Vereinten Nationen“ so ganz neutral geprüft werden. Die monströse türkische Wohnungsbaubehörde TOKİ werde demnach den Neubau von etwa 200.000 Einheiten für 24,4 Milliarden Euro übernehmen. Der fromme Wunsch in Ankara ist es, dass die Europäische Union im Sinne der Migrationsabwehr das Zubetonieren des okkupierten Nordsyriens (teil-)finanziert. Nach dem Bekanntwerden der Details schossen die Aktien der türkischen Beton-Mafia aus Zement- und Betonproduzenten an der Istanbuler Börse in die Höhe.

Nachdem jüngst der US-amerikanische Kongress den Genozid an den anatolischen Armeniern anerkannt hat, begannen die türkische Armee und ihr islamistisches Frontvieh den Fokus ihrer Aggression auf Tell Tamir – das außerhalb der 32 Kilometer tiefen „Sicherheitszone“ liegt – zu richten. Tell Tamir wurde von christlichen Assyrern gegründet, die die genozidale Verfolgung von 1915 überlebten und aus der heutigen türkischen Provinz Hakkari nach Irakisch-Kurdistan flüchteten. Im Jahr 1933 – das britische Mandat über den heutigen Irak nahm zuvor sein Ende – wurden tausende Assyrer in Semile unter Führung der irakischen Armee massakriert. Die Überlebenden flüchteten – auch wenn das französische Mandatsregime über Syrien mit Internierung und Aushändigung an die Häscher drohte – nach Nordostsyrien, wo sie auf dem „Hügel der Datteln“ Tell Tamir bauten. Die türkische Militärkampagne gegen Nordsyrien ist auch ein Rachefeldzug gegen jene, die die türkische Großraumexpansion blockieren.

Und sie ist auch eine Drohung mit dem Grab an die eigene Opposition. Eine Kritik an der militärischen Aggression ist in der Türkei nahezu verunmöglicht. Die mehrheitlich kurdische Halkların Demokratik Partisi kann im wahrsten Sinne des Wortes kaum noch einen Schritt machen. Ein großer Teil der republikanischen Cumhuriyet Halk Partisi hat die Militärkampagne begrüßt, ein anderer Teil schweigt oder wird, wie Sezgin Tanrıkulu, von Erdoğans Rachejustiz verfolgt. Canan Kaftancıoğlu, die Istanbuler Bezirksvorsitzende der „Republikanischen Volkspartei“ und Kritikerin des Nationalchauvinismus – sie muss sich vor Gericht verantworten, da sie in 35 Tweets den Staatspräsidenten und die Türkische Republik beleidigt und sich der „Propaganda für eine terroristische Organisation“ schuldig gemacht habe –, kritisierte die Militärkampagne ein wenig schwammig. Sie nahm aber jüngst mit Sezgin Tanrıkulu an der 760. Aktionswoche der Cumartesi Annelerinin, den „Samstagsmüttern“, einer Vereinigung von Müttern vor allem kurdischer „Verschwundener“ aus den bleiernen Jahren der Konterguerilla, teil. Als am 10. Februar 1999 der von nahezu allen geliebte Sänger Ahmet Kaya bei einer Gala erklärte, er werde demnächst auch ein einziges Lied auf kurdisch singen und er widme die Auszeichnung auch den „Samstagsmüttern“, bewarf ihn das Publikum bestehend aus der strenglaizistischen Prominenz der türkischen Kulturindustrie mit dem Tischbesteck. Es buhte ihn gnadenlos aus und schimpfte ihn einen „Zuhälter mit Vorhaut“. Serdar Ortaç, der nach Ahmet Kaya sprach, sah in dessen Worten der Versöhnung die Drohung mit der Spaltung der Republik: „In dieser Epoche gibt es weder Sultan noch Padischah. Die Türkei ist auf dem Weg Atatürks. Dieses Vaterland gehört uns, nicht anderen.“ Aufgrund seiner Worte an diesem Abend drohten Ahmet Kaya bis zu 12 Jahre Haft. Nach Morddrohungen und Hetzkampagnen gegen ihn verließ er im selben Jahr die Türkei und verstarb später im Exil. Im traditionellen Ressentiment der Laizisten sind Kurden archaische Untermenschen, willfährige Instrumente imperialistischer Intrigen. In den Gerüchten der Muslimbrüder dagegen sind Kurden „Ungläubige“ und atheistische Feinde des Islam.

Von dem Militärflughafen Sarrin, südlich von Kobanî, startete das Kommando, das Abu Bakr al-Baghdadi tötete. Wenige Tage später wurde von hier aus der US-amerikanische withdrawal aus dem aggressiv bedrängten Kobanî ausgeführt. Was zunächst in Ankara mit dem US-Amerikaner Michael Pence und später im russischen Soči mit Vladimir Putin ausgehandelt wurde, ist keine Abwendung der militärischen Aggression in Nordsyrien, die ihre Quelle allein in der Türkei hat; ausgehandelt wurden einzig die territoriale Erweiterung der Türkei und die Kapitulation der Föderation Nordsyrien. Ganz ohne sich der Revolutionsnostalgie hinzugeben, waren die Gründertage der Föderation ein ebenso durchdachter wie brillanter Coup d'État, der unzählige Menschenleben den Klauen der syrischen Katastrophe entriss und ein Gemeinwesen etablierte, das angesichts des brutalen Arabisierungsregimes der Hizb al-Ba'ath und der Jihadisierung der sunnitischen Militanten Versöhnung versprach. Anders als in den sunnitisch „befreiten“ Zonen wurden die überwältigten Soldaten nicht gelyncht oder ihnen ähnliche Torturen angetan, für die auch das Regime berüchtigt ist. Die Insignien des Regimes dagegen wurden konsequent entfernt, seine nationalchauvinistische Indoktrination aus den Lehrinstitutionen verbannt. Trotz der erzwungenen Generalmobilisierung wurde nicht gezögert, der Despotie in der Keimzelle der Kollektivbestie Staat, der patriarchalen Familie, zu entgegnen. Noch in jedem befreiten Dorf wurden Frauenzentren zur Aufklärung und Selbstorganisation gegründet. Heute ist Rojava wieder den türkischen, iranischen, russischen und syrischen Meistern der Rackets ausgeliefert, die alle eines gemein haben: antiimperialistische Propaganda, d. h. organisierte Unmündigkeit, als projizierte Aggressivität.


* Die Dolchstoßlegende reproduziert das absurde Gerücht, dass die Revolution gegen das Regime der Hizb al-Ba'ath daran gescheitert ist, dass die kurdischen Föderalisten, ihr die Loyalität versagt haben, als dem Regime drohte, auch das urbane Aleppo zu verlieren. Dabei war es die rurale Peripherie, aus der im Juli 2012 die sunnitischen Militanten wie die berüchtigte Harakat Nour al-Din al-Zenki nach Aleppo einsickerten, um sich in den Betonschluchten einzugraben und jene als Geisel zu nehmen, die nicht zuvor flüchteten. Als militärisches Gehirn fungierten vor allem desertierte Militärs. Als Rekrutierer nahmen Imame und salafistische Wanderprediger eine zentrale Funktion ein. Als gewiefte Start-up-Unternehmer warben die Warlords vor allem in Qatar, Saudi-Arabien und der Türkei um Finanzierung ihrer Milizen, die alsbald ein eigenes ökonomisches Eigenleben ausbrüteten. Manche Brigade montierte in Aleppo ganze Fabrikanlagen ab und verkaufte diese in die Türkei. Der Verlust der Frontposition durch Militante, die ihre Beute schleunigst in das Hinterland brachten, war ein augenfälliges Phänomen in jenen Tagen. Die Föderalisten äußerten sich unmissverständlich zu Aleppo, dass sie für keine Seite Partei einnehmen werden, da beide für Syrien nur Leid und Devastation brächten. Noch im selben Jahr bedrängte die al-Nusra Front sowie die mit der „Freien Syrischen Armee“ affiliierte Ahfad al-Rasul Brigade, die „Brigade der Enkel des Propheten“, das grenznahe Serê Kaniyê. Das Kalkül war es, auch den Nordosten Syriens in den Abgrund der syrischen Hölle aus islamistischer Geiselnahme und der Rache des Regimes in Form von explodierenden Fässern, gefüllt mit Nägeln und Metallsplittern, zu reißen. Offen flankiert wurden die Aggressoren seitens der Türkei.
**Auch die „Syrische Revolutionsfront“ von Jamal Maarouf, in deren Reihen säkulare Nationalisten und islamistische Kader konkurrierten, zerbrach an den Revierfehden und der aggressiven Verdrängungsstrategie der al-Nusra Front. Ein Teil der SRF ging in der al-Nusra Front auf, ein anderer in der Sham Front, einem Upgrade der „Islamischen Front“. Ein weiterer Teil etablierte im Mai 2015 mit Brigaden, die mit der „Freien Syrischen Armee“ affiliiert waren, die genannte „Armee der Revolutionäre“.