„Special
Representative of the Secretary-General for Iraq and Head of the
United Nations Assistance Mission for Iraq“, nennt sich jenes Amt,
das Jeanine Antoinette Hennis-Plasschaert innehat. Die hochrangige
Funktionärin der „Vereinten Nationen“ gibt mit Blick auf den
Irak den europäischen Weg vor. So äußerte sie über Twitter ihre
Sorge, die irakische Ökonomie könne Schaden an den wochenlangen
Protesten nehmen. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip
Erdoğan dagegen fragt sich als berüchtigter Verschwörungsspekulant,
wer sich hinter den Protesten im Irak tarne: „Wir haben eine
Vermutung. Wir denken, es könnte auf den Iran überschwappen. Das
Bestreben ist es, die islamische Welt zu brechen und einen gegen den
anderen auszukontern. Denken Sie daran, dass einige antitürkische
Aussagen aus dem Irak kamen“.
Die zentralen
Koordinaten der regionalen Expansionsstrategie der khomeinistischen
Despotie und ihres „schiitischen Halbmondes“ liegen im Irak und
dem Libanon. Seit Jahren vereinnahmen auch in Baghdad und vor allem
im Südirak die Parteien und Milizen der politischen Shia die urbanen
Fassaden mit ihren tugendterroristischen Drohungen, der immerzu
gleichen antizionistischen Hetze, der Märtyrerverehrung als
Verächtlichmachung des Lebens und der Forderung nach der keuschen
Erscheinung der Frauen unter dem Chador. Es war noch Saddam Hussein
höchstpersönlich, der die Krise in Folge der irakisch-iranischen
Katastrophe (1980-88) mit frauenfeindlichen Kampagnen exorzierte.
Saddam Hussein zerschlug das relativ progressive Familienrecht des
Iraks, das etwa verbot, Mädchen und junge Frauen davon abzuhalten,
an schulischer Bildung teilzuhaben. Während die Propaganda des
Baʿth-Regimes die Frau wieder auf ihre Reproduktionsfunktion
verpflichtete, wurden Frauenmorde im Namen der Familienehre de facto
legalisiert. Die Todesschwadronen der Saddam-Fedajin ermordeten
indessen, bis in die Endjahre des Regimes hinein, Frauen als
„Prostituierte“, die die nationale Ehre befleckt hätten – die
staatlich geförderte Prostitution war zuvor noch ein florierendes
Gewerbe vor allem im Südirak.
Mit dem
erhofften Ende der Despotie Saddam Husseins wurden die Frauen Iraks
jedoch nicht befreit. Die US-amerikanische Zwangsverwaltung duldete
die Etablierung einer Paralleljustiz. Die ent-baʿthifizierten
Institutionen wurden zur Beute konfessionalistischer Parteien.
Während schiitische Imame in ihren Gangterritorien die Sharia
unterhielten, galt in der ruralen Peripherie traditionelles
Stammesrecht. Vor allem in Baghdad und dem südirakischen Basra
machten schiitische Gangs Jagd auf „unkeusche“ Frauen und
ermordeten Hunderte von ihnen. Wenn auch im Irak nach wie vor kein
gesetzlicher Verschleierungszwang wie in der Islamischen Republik
Iran existiert, so sind sich doch vom „quietistischen“
Großayatollah Ali al-Sistani bis zum national-populistischen
Agitator Muqtada al-Sadr alle Alt-Herren der Shia darin einig, dass
der Wert einer Frau in der Keuschheit, also in der Verschleierung
ihrer Reize liegt. Im Jahr 2014 verbot das Bildungsministerium
irakischen Schülerinnen, „tabarruj“ zu praktizieren. Mit dem
islamischen Terminus „tabarruj“ werden jene Frauen verächtlich
gemacht, die ihre Schönheit außerhalb des Hauses entschleiern.
Seither herrscht ein Kleidungszwang, mit dem verunmöglicht werden
soll, dass die weiblichen Konturen der Schülerinnen zu erahnen sind.
Im vergangenen Jahr kam es zu einer erneuten Serie an Frauenmorden.
Die erfolgreiche Instagram-Influencerin Tara Fares war eine jener
Frauen, die auf der Straße aufgelauert und ermordet wurden. Shimaa
Qasim Abdulrahman, „Miss Iraq 2015“, exilierte nach Jordanien,
nachdem sie die Drohung erhalten hatte, das nächste Opfer zu sein.
In diesen Tagen tritt Shimaa wieder selbstbewusst auf dem Midan
at-Tahrir auf, dem Zentrum der seit Tagen andauernden Straßenproteste
in Baghdad. Auf den Fassaden rund um den Midan at-Tahrir ist das Bild
ein gänzlich anderes als das der Shia-Milizen. Frauen mit offenem
Haar und in revolutionärer Pose sind eines der häufigsten Motive
auf dem grauen Beton.
Es ist nicht
nur eine Hungerrevolte: Liegt der Konsens der Protestierenden darin,
dass herrschende Verelendungsregime zu Fall zubringen, befreit sich
in Baghdad die Jugend auch von den tugendterroristischen Zwängen,
die in den vergangenen Jahren Festivals und säkulare Festlichkeiten
mehr und mehr verunmöglicht haben. Junge Frauen und Männer trotzen
in Baghdad der verhängten Sperrstunde, tanzen, singen und inhalieren
auf der Straße den Dampf ihrer Wasserpfeifen. „Die Trennung von
Staat und Religion ist viel besser als die Trennung von Mann und
Frau“, ist einer der Slogans auf dem Midan at-Tahrir, der nicht für
alle sprechen mag, aber für viele, die in diesen Tagen auf der
Straße ausharren. Junge Pärchen, die ihre Hände halten, sich
küssen und dabei vor Barrikaden fotografieren, sind in diesen Tagen
im befreiten Zentrum Baghdad alles andere als selten.
Und doch traf
bislang der Massenprotest in Europa und anderswo vor allem auf
Ignoranz. In Folge der syrischen Katastrophe ist Desillusionierung
längst kaltem Desinteresse gewichen. Dabei könnten die Unterschiede
zu Syrien kaum augenfälliger sein. Über Syrien lag von Anbeginn der
Schatten des innerislamischen Schismas und der regionalen
Rivalitäten. Es dauert nicht lange und die militante Opposition
unterwarf sich denselben Mechanismen wie das Regime.
Start-up-Warlords warben vor allem in Qatar, Saudi-Arabien und der
Türkei um Finanzierung ihrer Milizen gegen das ungläubige
„Nusairier-Regime“. Imame und salafistische Wanderprediger
fungierten als Rekrutierer. Auf Seiten des Feindes fungierten die
iranische Revolutionsgarde, die libanesische Hezbollah, die
konfessionelle Steroid-Miliz der Shabbiha sowie Shia-Milizen aus dem
Irak und anderswoher als Komplementär. Gebrochen wurde mit diesen
fatalen Mechanismen der konfessionellen Racketisierung einzig in
Rojava, das in diesen Tagen von beiden Seiten in der Existenz bedroht
wird. In Baghdad dagegen protestieren sie konfessionsübergreifend
und Seite an Seite gegen das Regime, während die Kritik an dem
Unwesen der Shia-Milizen und der aggressiven Infiltration des Iraks
durch den khomeinistischen Iran im schiitischen Südirak am
entschiedensten geäußert wird.
Nach dem Ende
der al-Baʿth-Despotie flüchteten viele Iraker in die Blutsurenge
konfessioneller Zugehörigkeit. Die Todesschwadronen der politischen
Shia sowie die nahezu täglichen suizidalen Massaker der irakischen
al-Qaida und ihrer Derivate produzierten eine Atmosphäre permanenter
Angst. In Baghdad und anderswo harrten die Iraker in ihren nach
Konfessionen getrennten Stadtteilen aus. Im sunnitischen „Islamischen
Staat“ kulminierte diese Katastrophe gescheiterter Befreiung. Die
Emanzipation der (als schiitisch identifizierten) Jugend vom
Milizunwesen und der Shia-Variante eines „Islamischen Staates“ –
so etwa der Titel einer frühen Schrift von Ruhollah Khomeini, die
aus seinen Vorlesungen im irakischen Najaf besteht – ist der
entscheidende Bruch mit dieser Katastrophe. Jene Generation, die ihre
Jugend im Schatten islamistischer Blutfehden verbracht hat und die
das Rückgrat der Massenproteste ist, ist ermüdet vom
sektiererischen Unwesen. An der Universität Basra im Südirak ist
der Slogan unmissverständlich: „Nein zu Muqtada (al-Sadr) und Nein
zu Hadi (al-Amiri), Nein zu Qais (al-Khazali) und Nein zu Ammar
(al-Hakim) – sie sind der Grund der Zerrüttung“. Die Genannten
sind die zentralen Figuren rivalisierender Shia-Milizen und ihres
Unwesens. „Die Historiografie wird bezeugen, dass US-amerikanische M1 Abrams ihnen (den Shia-Milizen) die Macht über
den Irak gebracht und die Tuk-Tuks ihnen die Macht wieder
genommen haben“, so ein Banner auf dem Midan at-Tahrir. Im Januar
2015 präsentierte die Kata'ib Hezbollah einen Konvoi aus M1 Abrams &
Humvee mit wehenden Flaggen der Shia-Miliz. Die irakische Hezbollah
hatte sie vermutlich zuvor von der regulären irakischen Armee und
der vom khomeinistischen Iran infiltrierten Regierung in Baghdad
erhalten. Die Tuk-Tuks sind jene motorisierten Dreiräder, die am
Midan at-Tahrir die Logistik der Proteste übernehmen.
Am Vorabend
des 40. Jahrestages der Geiselnahme des US-amerikanischen
Diplomatenkorps in Teheran durch die Khomeinisten attackieren Iraker
in der „heiligen Stadt“ Karbala, südlich von Baghdad, die
iranische Repräsentanz. Sie reißen die Flagge der „Islamischen
Republik Iran“ herunter und hissen die des Iraks. Auf der Fassade
prangt der Slogan: „Karbala ist frei. Verschwinde Iran“. In
Najaf, wo Ruhollah Khomeini früher die revolutionäre Etablierung
eines „Islamischen Staates“ lehrte, wird von Protestierenden
eigenhändig die „Imam Khomeini Straße“ in „Straße der
Gefallenen der Oktoberrevolution“ umbenannt. Und in Baghdad ist der
Slogan: „Zur Hölle mit Qasem Soleimani“, jenem Kommandeur der
Qods-Pasdaran, die dem Expansionsauftrag weit über die geografischen
Grenzen des Irans hinaus verpflichtet ist.
Alle
Fotografien von Ziyad Matti (Baghdad, 3. und 13. November)
Das heißt
nicht, dass die Proteste xenophob sind. Einer der häufigsten
Forderungen – wenn auch mit nationalem Pathos vorgetragen – ist
die nach einer Staatsbürgernation, die nicht zur Beute aggressiver
Rackets und ihrer Meister wird, deren Agenda aus pathischer
Projektion und organisierter Unmündigkeit besteht. Eine ezidische
Delegation aus dem Nordirak wird auf dem Midan at-Tahrir
überschwänglich begrüßt, während irakische Christen ohne Angst
selbstbewusst an den Protesten teilhaben. Die Fassadenbemalung
erinnert auch an den Genozid des „Islamischen Staates“ im
ezidischen Sinjar-Gebirge.
Im Irak
existiert innerhalb der organisierten Shia noch eine relevante
„quietistische“ Fraktion um den Großayatollah Ali al-Sistani,
die als Mediator zwischen dem Interesse der khomeinistischen
Despotie, ihren Satelliten in Baghdad, den fragilen Parteienallianzen
und den Protestierenden auftritt. Sie vermag das Potenzial dazu
haben, den khomeinistischen Zugriff auf den Irak leicht abzuschwächen
und ökonomische wie politische Reformen zu ermöglichen, zugleich
droht sie darin, die sozialrevolutionäre Momente vom befreiten Midan
at-Tahrir zu absorbieren. Anders im Iran, wo die in Europa
beschworene Differenz zwischen Reformern und Prinzipalisten einzig
noch eine brüchige Fassade ist, die im Iran selbst kaum noch
jemanden täuscht. Fraglich war einzig die Zeit, wann auf Irak und
Libanon wieder Massenproteste im Iran folgen würden. Provoziert
durch die Entscheidung des Regimes, Benzin zu rationieren und den
Literpreis exorbitant anzuheben, brachen im ganzen Iran
Straßenproteste aus, bei denen inzwischen viel mehr Städte
involviert sind als in allen anderen Jahren zuvor. Es bleibt dabei
kein Zweifel übrig, dass die Protestierenden die
Verteuerungsentscheidung nicht als einzelne Fehlentscheidung
missverstehen. Selbst das Blatt Kayhan, die gepresste Meinung von Ali
Khameini, integriert die Entscheidung in die aggressive Strategie,
die der Entgrenzung der „Islamischen Revolution“ folgt. Israel,
so Kayhan, sei der eigentliche Grund der Verteuerung des Benzins, da
ohne die Existenz des Judenstaates auch die Finanzierung der „Achse
des Widerstandes“ – also der Hezbollah und Hamas, des syrischen
al-Baʿth-Regimes und der irakischen Shia-Milizen – hinfällig
wäre. Es kann in der khomeinistischen Despotie keine Politik der
Reformen existieren, da der aggressive Entgrenzungsdrang der
„Islamischen Revolution“, die antijüdische Projektion und der
Hass auf die emanzipierte Frau Fundamente der „Islamischen
Republik“ sind. Anders kann sie nicht existieren. Folglich fungiert
auch keine Figur innerhalb der Islamischen Republik als
Appellationsinstanz für die Protestierenden – anders als noch in
dem Jahr 2009 mit Mir-Hossein Mousavi oder dem
Kleriker Hossein Ali Montazeri. In diesen Tagen heißt es ebenso
„Nieder mit Rouhani“ wie „Nieder mit Khamenei“ und „Nieder
mit den Gebrüdern Larijani“. Einzig an Reza Shah erinnern einige
Slogans, der 1924 am Klerus gescheitert war, die Republik auszurufen,
und dann wenig später als Monarch antrat. Einer der häufigsten
Slogans in diesen Stunden ist „Kanonen – Panzer – Feuercracker,
das Regime der Akhunda wird (dennoch) verschwinden“. Akhunda ist
der geläufige Name für den schiitischen Klerus. Oder
„Unabhängigkeit – Freiheit – Iranische Republik“.
Eine junge
Frau reißt unter frenetischem Jubel der Umstehenden einen der
omnipräsenten Regimebanner, auf denen „Nieder mit Amerika“
propagiert wird, herunter. Die Protestierenden kontern die
khomeinistische Katastrophenpolitik in Syrien, dem Irak und Gaza mit
dem Slogan: „Unser Geld (aus den Erdölverkäufen) ist verschwunden
– es wurde alles an Palästina (an die Hamas und den Jihad)
gegeben“. Es wird dabei nicht nur in der Kapitale Tehran
protestiert, viel mehr in nahezu allen Städten der gleichnamigen
Provinz. In Shahriar wird die monumentale Replik des Fingerrings von
Ruhollah Khomeini zerstört, während die Umstehenden rufen: „Habt
keine Angst: wir stehen Schulter an Schulter“. In Andisheh gerät
die „Imam Ali“-Basis der Basij-Miliz in den Fokus der
Protestierenden. In Malard trifft der Zorn den Imam der
Khutba-Predigt, der zentralen Institution der Agitation in der
Islamischen Republik. Und in Eslamshahr werden Porträts mit dem
Antliz von Ali Khamenei verbrannt. Ähnlich in der zentraliranischen
Provinz Isfahan. Der Protest umfasst über das Zentrum hinaus nahezu
alle in der Provinz liegenden Städte. In Kazerun etwa wird eine
Hawza, ein theologisches Seminar der Zwölfer-Shia, niedergebrannt.
Unweit der Grenze zum Irak im kurdischen Kermanshah, Ilam und
Sanandaj; in Tabriz, Zanjan, Ardabil und Rasht im Nordwesten Irans;
in Gorgan und Mashhad im Nordosten; in Birjand im Osten; in Bushehr
und Bandar Abbas ganz im Süden – kaum eine Region, die nicht
teilhat an den Protesten. Intensiv sind die Proteste auch in
Mahshahr, dem logistischen Zentrum der iranischen Petroleumindustrie
in der Provinz Khuzestan. Unzählige Filialen von Finanzinstituten,
die mit der „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“
affiliiert sind, werden niedergebrannt. Allein in Khorramabad,
Provinz Lorestan, werden 44 Filialen beschädigt. In Karaj, Provinz
Alborz, wird aus der Flagge der Islamischen Republik der stilisierte
Namenszug „Allah“ in Form einer Tulpenblüte – wo das Blut
eines Märtyrers der „Islamischen Revolution“ fließt, werde eine
Tulpe blühen, so die Staatsmythologie – herausgebrannt. Im
khomeinistischen Iran ist es verboten, die Nationalflagge nur auf
halbmast zu hissen, da dies eine Respektlosigkeit gegenüber dem Wort
„Allah“ auf der Flagge wäre. In diesen Stunden brennt die Flagge
der Konterrevolution.
Vom Baghdader
Midan at-Tahrir existiert inzwischen eine Solidaritätserklärung mit
den Protestierenden im Iran:
"From
al-Tahrir Square - Baghdad
You are
witnessing nowadays the Iraqi demonstrators, who are revolting
against their government, shouting loud slogans that might sometimes
seem against Iran.
It is crucial
for us that you should be aware of the fact that we Iraqi People only
have a genuine love for you.
Our problem
is with the Iranian sectarian regime who backs the all corrupt
politicians, criminals, and murderers in our current government
Our ambition
and only purpose is to get rid of our corrupted rulers, we are also
looking forward to strong and stable relations with our Iranian
neighbours who deserve a just and civilised government.
Long Live the
people
Your Iraqi
Brothers and Sisters"