„Ja,
es ist wahr“, sprach der
Sheikh, der in der Schlacht um Aleppo zugleich als Kommandeur einer
sunnitischen Miliz fungierte, offen aus: „Circa 70 % vom urbanen
Aleppo ist dem Regime treu. Das ländliche Hinterland ist mit uns,
die Stadt ist mit ihnen.“ Es dauerte mehr als ein Jahr, dass die
Logik der Vernichtung, die zuvor Homs verschlang, auch in das urbane
Aleppo einzog. Es war die überwiegend rurale sunnitische Peripherie,
aus der Ende Juli 2012 die Militanten der mit den Muslimbrüdern
affiliierten al-Tawhid Brigade, der berüchtigten Harakat Nour al-Din
al-Zenki sowie der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) nach Aleppo
einsickerten, um sich in den Betonschluchten einzugraben und jene als
Geisel zu nehmen, die nicht zuvor flüchteten. Als militärisches
Gehirn fungierten vor allem desertierte Militärs, als Rekrutierer
nahmen Imame und salafistische Wanderprediger eine zentrale Funktion
ein. Als gewiefte Start-up-Unternehmer warben die Warlords vor allem
in Qatar und Türkei um Finanzierung ihrer urbanen Schlacht, die
alsbald ein eigenes ökonomisches Eigenleben ausbrütete. Die Brigade
Ahrar Souriya montierte in Aleppo ganze Fabrikanlagen ab und
verkaufte diese in die Türkei. Der Verlust der Frontposition durch
Militante, die ihre Beute in das Hinterland abtransportierten, war
eines der augenfälligsten Phänomene in jenen Tagen.
Die Türkei
der Muslimbrüder bot von Beginn an die logistische Flanke des
militärischen Vorstoßes. Über das türkische Transit gelangten
mehr und mehr islamistische Internationalisten nach Aleppo: Veteranen
des kaukasischen Emirats und der irakischen al-Qaida, salafistische
Jungmänner französischer und belgischer Banlieues, militante
Panturkisten. Spätestens ab Juli 2012 verfolgte die Türkei eine
Strategie der forcierten Eskalation. Die Reaktion des Regimes von
Bashar al-Assad folgte dem Prinzip: wenn Aleppo fallen sollte, dann
nur als Ruine. Aber selbst angesichts der Gnadenlosigkeit, mit der
das Regime explodierenden Stahlschrott über das okkupierte Aleppo
und seine Geiseln abwarf, darf nicht vergessen werden, dass dort
nicht wenige die sunnitischen Marodeure – ganz ohne Paranoia – zu
fürchten haben. Die ersten, die sich militant gegen die Einnahme von
Aleppo organisierten, waren christliche Armenier, deren Überleben
angesichts der Jihadisierung der Opposition an das des Regimes
gekettet war.
Die
Durchhalteslogans von Freunden der „syrischen Revolution“, an der
urbanen Front auszuharren, ähnelte in den folgenden Jahren mehr und
mehr der Forderung nach der Verewigung der Vernichtungslogik. Was das
folgerichtige Programm der Solidarität hätte sein müssen, lag auf
der Hand: die konsequente Denunziation des Irans, der die
Konfessionalisierung des Regimes forcierte, sowie der Türkei, die die sunnitische Reaktion ausreizte. Die europäische
Kollaborationspolitik dagegen ernannte die beiden Aggressoren zu
potenziellen Stabilitätsstiftern. Nicht, dass nicht auch ohne die
fatale Internationalisierung der syrischen Katastrophe Folter und
Mord existieren würde – doch das Ausbremsen des türkischen und
iranischen Vorstoßes in Syrien hätte jenen, die für ein
anti-konfessionalistisches und säkulares Gemeinwesen einstehen,
zumindest noch einen weiteren tiefen Atemzug ermöglicht. Die
Konfessionalisierung des Regimes ist eine Strategie des Irans. Anders
verhält es sich bei den Alawiten, die in vor-baʿthistischen Tagen
als Häretiker verächtlich gemacht vor allem in bäuerlichen
Gemeinden entlang des schützenden Küstengebirges im heutigen
Gouvernement Latakia lebten. Über ihren überproportionalen Anteil
im Militär – da den wenigsten von ihnen es möglich war, sich vom
Dienst freizukaufen – sowie in der panarabistischen
al-Ba'ath-Partei gelang es einigen von ihnen zentrale
Funktionsstellen im militarisierten Staat zu erobern. Im Staat
angekommen, verfolgten sie eine Strategie der religiösen
Selbstverleugnung, um die Feindseligkeit der sunnitischen Ulema
abzuschwächen. Als Führer im Staat betete Hafez al-Assad
demonstrativ in der Moschee – was die syrischen Muslimbrüder nicht
davon abhielt, gegen das „häretische Regime“ zu agitieren und
militante Untergrundzellen zu organisieren. Mit zunehmender
Abhängigkeit vom klerikalfaschistischen Iran trat unter seinem Sohn
Bashar eine oberflächliche Schiitisierung der Alawiten ein. Die
Massendesertionen in der multikonfessionellen Armee kompensierte der
Iran mit der Infiltrierung Syriens durch die Hezbollah und ihrer
irakischen, afghanischen und pakistanischen Filialen. Sie sind der
militante Rammbock der iranischen Großraumpolitik. Der
klerikalfaschistische Iran hat ein Interesse an der Eskalation des
konfessionalistischen Irrsinns damit er als selbst ernannter Patron
der Angehörigen der Shiah auftreten kann. Da nur wenige Gläubige
der Shiah in Syrien leben – weit weniger als Christen – tarnte
der Iran seine Militärkampagne zunächst als Verteidigungsauftrag
für den Sayyidah Zaynab Schrein südlich von Damaskus.
Warlord
Erdoğan
Die
Türkei der Muslimbrüder – als selbst ernannter Patron der
Sunniten – fungiert dem Iran als Komplementär. Am 31. Juli 2016
begann die von der Türkei flankierte Jaysh al-Fatah – ein
operativer Verbund der al-Nusra Front mit Ahrar al-Sham, Harakat Nour
al-Din al-Zenki und Faylaq al-Sham – von Süden aus eine Offensive
auf Aleppo. Während dieser letzten Phase der Schlacht um Aleppo
rangen Vladimir Putin, militärischer Patron Bashar al-Assads, und
Recep Tayyip Erdoğan, der führende Warlord der sunnitischen
Militanten, um den strategischen Profit, der aus der Ruine Aleppo
gezogen werden konnte. Der türkische Staatspräsident plauderte über
ein Gespräch mit Putin, dass er „unseren Freunde“ anbefohlen
habe, das urbane Aleppo zu verlassen. Die panturkistische Sultan
Murad Brigade, die mit den syrischen Muslimbrüdern affiliierte
Faylaq al-Sham sowie loyale Fraktionen innerhalb der syrischen
Taliban der Ahrar al-Sham hatten bereits Monate zuvor Aleppo hinter
sich gelassen und sich für die Stoßrichtung der türkischen
Militärkampagne Fırat Kalkanı entschieden, also Beschwichtigung
gegenüber Bashar al-Assad und Fokussierung auf den
Vernichtungsfeldzug gegen ein föderales Nordsyrien.
In Ankara
richtete am 19. Dezember 2016 der junge Polizist Mevlüt Mert A. den
höchsten russischen Repräsentanten in der Türkei, Andrey Karlov,
mit pathetischer Haltung hin: „Allahu Ekber“ und Rache für
Aleppo. In jenen Tagen beschworen türkische Muslimbrüder den Fall
von Aleppo als neues Srebrenica. Die Empörung diente der
staatstragenden Inszenierung als sunnitisches Opferkollektiv und
täuschte darüber hinweg, dass es doch die Türkei selbst war, die
das östliche Aleppo aus taktischem Kalkül fallen ließ. Wenige
Stunden nach dem Mord an Andrey Karlov traf sich Mevlüt Çavuşoğlu,
mit den russischen und iranischen Amtskollegen Sergej Lawrow und
Mohammad Javad Zarif in Moskau. Als wäre Aleppo einzig geschlachtet
geworden, um die selbst verschuldete Machtlosigkeit der US-Amerikaner
und Europäer in Syrien vorzuführen, einigten sie sich auf
einschneidende Frontverschiebungen.
Unter
türkischer Protektion sickerten 2012 die sunnitischen Milizionäre
nach Aleppo ein, wo sie die Stadt mit ihren rivalisierenden
Komplementären, dem Regime Bashar al-Assads und seinen iranischen
und russischen Patronen, zur Ruine schliffen. Im Jahr 2016
arrangierte die Türkei der Muslimbrüder den Fall des östlichen
Aleppos an das Regime, einzig um die Aggression anderswohin zu
wenden. Und in diesen Tagen fallen die letzten Teile der Stadt an das
Regime, weil die kurdischen Föderalisten gezwungen sind, diese zu
verlassen, um ihren Genossen in Afrin beizukommen. Die Katastrophe
von Aleppo ist vor allem auch eine türkische mit ungezählten Toten.
In denselben
Tagen des Jahres 2012, an denen die Schlacht um Aleppo ausbrach,
überrannten die kurdischen Föderalisten die verbliebenen Garnisonen
des Regimes in Kobanî und anderswo in wenigen Stunden oder Tagen.
Die sunnitischen Militanten erzwangen die ganze Konzentration des
Regimes auf Aleppo, dem ökonomischen Herzen Syriens – in der
Konsequenz eröffneten sie somit den Föderalisten den Weg zum
territorialen Vorstoß. Viel entscheidender wirkte aber etwas
anderes: im Unterschied zur blinden Rache in den sunnitisch
„befreiten“ Zonen wurden in Syrisch-Kurdistan die überwältigten
Soldaten nicht gelyncht oder ihnen ähnliche Torturen angetan, für
die das Regime berüchtigt ist. Man rächte sich nicht an den
Parteigängern des Regimes, deren Funktion vor allem eine
administrative oder ökonomische war. Und vor allem trieben die
Föderalisten die nicht-sunnitischen Minoritäten, allen voran die
Christen, nicht weiter in den väterlichen Würgegriff des Regimes.
Der Norden Syriens war in der Republik der al-Ba'ath einem rigorosen
Arabisierungsregime unterworfen, einschließlich systematischer
Ausbürgerung von Kurden, der Etablierung arabischer Wehrdörfer und
Sprachverboten. Doch ganz anders als etwa in den Wintertagen der
Kiewer Revolte wurde das Ancien Régime nicht unter der kollektiven
Erhöhung der Nation und dem Ausagieren an dem „Fremdartigen“
abgeschüttelt. Die forcierte Etablierung föderaler Strukturen in
Nordsyrien war und ist vielmehr die ausgestreckte Hand zur
Versöhnung.
Auch im
urbanen Aleppo brachten die Föderalisten Teile der Stadt unter ihre
Kontrolle. Es traf sie bis zu dem Fall von Aleppo wieder und wieder
die Aggression sunnitischer Militanter und die des Regimes. In Aleppo
befehligte Yasser Abdul Rahim die Fatah Halab, als deren Artillerie
monatelang flankiert vom Mordgebrüll „Allahu Akbar“ die
kurdische Enklave Sheikh Maqsoud terrorisierte. Als Kommandeur der
Faylaq al Sham macht er nun Karriere im „Nationalen Heer“, dem
syrischen Frontvieh der türkischen Aggression gegen Afrin. Vor allem
die Entführungsindustrie, in der die sunnitischen Militanten
erfolgreich auftraten, identifizierte Kurden als menschliche Beute.
Die kurdische Partiya Yekîtiya Demokrat (PYD) äußerte sich
unmissverständlich zu Aleppo, dass sie für keine Seite Partei
einnehmen wird, da beide für Syrien nur menschliches Leid und
völlige Devastation brächten. Die sich ständig ändernden
Frontkonstellationen erzwangen, dass an manchen Tagen ein taktischer
Verbund defensiven Charakters mit der FSA eingegangen wurde, um das
Regime auf Distanz zu halten, und an anderen Tagen mit dem Regime, um
die Aggression der Fatah Halab abzuschwächen.
Wenig mehr
als ein Jahr nach Ausbruch der Schlacht um Aleppo nahmen die al-Nusra
Front, Ahrar al-Sham und die al-Tawhid Brigade im Verbund mit Daʿish,
dem in der Levante aufstrebenden „Islamischen Staat“, das
kurdische Kobanî in ihr Visier. Doch es war der kompromisslose
Führungsanspruch von Daʿish, der diese Allianz unter türkischer
Protektion alsbald wieder sprengte. Das Regime von Bashar al-Assad
erkannte dies und ließ die Takfīr-Militanten an verschiedenen
Fronten gewähren, während manch eine der von Daʿish aufgeriebenen
Brigaden der FSA von nun an mit den kurdischen Föderalisten
kooperierte.
Die Hölle
von Ost-Ghouta
Anders
als das urbane Aleppo war Ost-Ghouta von Beginn an eines der Zentren
der Erhebung gegen das Regime. Doch noch zu Beginn ihrer
Militarisierung war abzusehen, dass die Freiheit der Syrer weder im
Fortbestand des Regimes noch im Durchbruch der militanten Opposition
gründen kann. Das Regime unterscheidet in Ost-Ghouta noch weniger
als anderswo zwischen Geiselnehmer und Geiseln und identifiziert
beide als „Läuse und Ratten“, wie es jüngst ganz in
baʿthistischer Tradition über die Eingeschlossenen gesprochen hat.
Dass die sunnitischen Militanten vor allem als Okkupanten auftreten,
ist dabei augenfällig: Die Rackets, die Ost-Ghouta in zähen
Gangfehden unter sich aufgeteilt haben, imitieren die Brutalität des
Regimes und ummanteln diese mit der rohsten Variante der Shariah.
Nicht wenige der in Ost-Ghouta Eingeschlossenen schimpfen die
salafistische Jaysh al-Islam als Variante der „Shabbiha“, der
berüchtigten Clanmiliz Bashar al-Assads. Ihre eigene politische
Polizei verfolgt nicht weniger gnadenlos als das Regime Dissidenten,
Shariahtribunale richten über Abtrünnige. Mit der Jaysh al-Islam
rivalisiert die mit den Muslimbrüdern affiliierte Faylaq al-Rahman,
die bei den vergangenen Revierschlachten mit den Derivaten der
syrischen al-Qaida (Tahrir al-Sham) kooperiert hat. Eine kleinere
Zone in Ost-Ghouta wird von dem lokalen Franchise der syrischen
Taliban der Ahrar al-Sham kontrolliert.
Nicht nur die
Kommandohöhen von Bashar al-Assad und Vladimir Putin unterscheiden
nicht zwischen Geiselnehmern und Geiseln, auch die Mörser der
sunnitischen Militanten feuern tagtäglich blind auf das angrenzende
Damaskus, vor allem auch auf das christliche Bab Tuma. Was
unzweifelhaft ist: alle militärischen Akteure befinden sich in einer
Logik der Vernichtung. Für Vladimir Putin ist Syrien die
erfolgreiche Feldstudie russischer Militärtechnologie – die
einzige Industriesparte in der russische Technik anderen Konkurrenz
macht – sowie vor allem der Frontstaat ordnungsimperialistischer
Rivalität mit den Europäern und US-Amerikanern. Das russische
Kalkül ist es, die sunnitischen Militanten von Ost-Ghouta in die
Provinz Idlib zu transferieren, wo das Morden andauern würde. Zu
befürchten wäre ihre (Teil-)Integration in die türkische
Militärkampagne gegen die Förderation.
Rachefeldzug
gegen die Föderation der Abtrünnigen
In Afrin wird
die syrische Katastrophe endgültig zur Farce. Dort, wo mit der Logik
der Vernichtung gebrochen wurde, mahnen alle vom Generalsekretär des
Nordatlantikpakts über die Charakterfratze aus dem Auswärtigen Amt
bis zu ihrem US-Amerikanischen Amtskollegen die Beachtung „türkischer
Sicherheitsinteressen“ an, wo die Türkei der Grünen und Grauen
Wölfe selbst unbekümmert von einem Vernichtungsfeldzug spricht. In
der syrischen Hölle trafen die kurdischen Föderalisten und ihre
Freunde geduldig und umsichtig ihre Entscheidungen. Von Beginn an
kritisierten sie die Vereinnahmung der sunnitischen Opposition gegen
Bashar al-Assad durch die Türkei, Qatar und Saudi-Arabien. Und von
Beginn an vermieden sie jede militärische Konfrontation, die nicht
der Verteidigung des Erreichten oder der Befreiung vom Kalifat des
Todes diente. Das Arabisierungsregime der al-Baath hat
jahrzehntelang Hass gesät, doch die Föderalisten haben ihn nicht
geerntet. Sie konterten den arabischen Nationalchauvinismus, der sich
in Entrechtung, Verfolgung und Folter tagtäglich konkretisierte,
nicht durch eine nationalistische Gegenmobilisierung – es sei denn
man hält Schulunterricht in der Muttersprache für völkische
Regression, Sprachverbot und gebrochene Kinderfinger dagegen für
Kollateralschäden der Modernisierung.
Die
ersten von der Türkei gestreuten und von „Amnesty International“
kolportierten Gerüchte über ethnisierte Gewalt seitens der
Föderalisten kamen erst auf, als diese bei ihrem Vormarsch auf den
„Islamischen Staat“ im Jahr 2015 die Grenzstadt Tell Abyad
befreiten. Tell Abyad war am 30. Juni 2013 an Daʿish und die
al-Nusra Front gefallen. Unvergessen sind die Bilder, auf denen die
islamistischen Genozideure am Grenzübergang feixten und ungestört
vom türkischen Militär mit Gewalt Flüchtende abhielten, auf die
andere Grenzseite zu gelangen. Die berüchtigte türkische
Todesschwadrone Dokumacılar*, die die suizidalen Massaker in
Diyarbakır, Suruç und Ankara ausführte, reiste hier ein und aus.
Nach der Eroberung von Tell Abyad verlasen die Soldaten des kommenden
Kalifats von den Minaretten der Moscheen ein Ultimatum an alle Kurden
außer den Ihrigen, Tell Abyad zu verlassen oder sterben zu müssen.
Mit ihnen flohen in den folgenden Tagen unzählige Araber und
Turkmenen. In den verlassenen Häusern brachte der „Islamische
Staat“ vor dem Regime geflüchtete Sunniten aus dem Qalamoun
Gebirge, Deir ez-Zor und Raqqa unter. Als im Juni 2015 die YPG –
der militante Arm der Föderalisten – im Verbund mit ihnen
assoziierter Brigaden der FSA – Tell Abyad befreiten, begrüßte
sie das türkische Militär mit gegossenem Blei. Mit den letzten
Soldaten des Kalifats flohen zuvor auch viele der
Arabisierungsprofiteure, die mit dem „Islamischen Staat“
kollaboriert haben. Der Oppositionelle Rami Abdulrahman, Gründer des
Syrian Observatory for Human Rights, verwarf die
Anschuldigungen gegenüber den Befreiern als Nonsens. Aus
militärischen Sachzwängen wie Straßensperrungen aufgrund von
Tretminenräumung und der Fahndung nach Parteigängern des
„Islamischen Staates“ macht die türkische Propaganda eine
bösartige Strategie der Kurdifizierung. Der Projizierende kreidet
dem Objekt an, wonach er selbst giert.
In Afrin
blamiert sich jede moralinsaure Besorgtheit der Europäer über die
Gewaltspirale in Syrien. Denn anders als in Ost-Ghouta, wo sich
Regime und die islamistischen Okkupanten gegen das Leben verschworen
haben, wäre es in Afrin weniger schwer, die einseitige Aggression
auszubremsen. Die ökonomisch kriselnde Türkei ist nach wie vor von
der Beschwichtigung der Europäer abhängig. Der familiär
inszenierte Empfang von Mevlüt Çavuşoğlu im niedersächsischen
Goslar zu Beginn des Jahres – just als in der Türkei die
militärische und propagandistische Mobilmachung hochgefahren wurde –
sowie das ungenierte Ausplaudern der Unternehmung, türkische
Panzergefährte nachzurüsten, kann nicht anders gemeint gewesen sein
denn als deutsche Billigung der Aggression gegen Afrin. Der Lobgesang
von Sigmar Gabriel nach der Beendigung der Geiselnahme von Deniz
Yücel auf die türkische Rechtsstaatlichkeit macht deutlich: sie
schämen sich für nichts.
Das Millet
gläubiger Nationalisten
Als die im
Jahr zuvor gegründete AK Parti Erdoğans im Herbst 2002 als
Reformpartei antrat, profitierte sie vor allem vom Totalbankrott der
anderen großen konservativen Parteien. Vor allem die Doğru Yol
Partisi („Partei des rechten Weges“) galt als Synonym für ein
mafiöses Akkumulationsregime, ökonomische Krise und das Scheitern
der Konterguerilla. Im Südosten waren die Todesschächte noch nicht
geöffnet, in denen die Jahre zuvor unzählige Leichen – unter dem
Verdacht, Parteigänger der PKK zu sein – von der Konterguerilla
verscharrt wurden. Auch ganz ohne Empathie für die Ermordeten und
Hinterbliebenen ahnten die Parteistrategen der AK Parti, dass mit der
Existenz eines permanenten Ausnahmezustandes auch die Krise von Staat
und Ökonomie persistiert wird. Den südöstlichen Großstädten, die
in Wahrheit triste zu Slums verwachsene Dörfer sind, und ihrer
ruralen Peripherie versprachen die Muslimbrüder Prosperität und
Asphaltierung. Sie umwarben die sunnitischen Kurden mit dem
Versprechen nach Brüderlichkeit unter dem Dach des Islams. Und doch
profitierte die AK Parti wie keine andere Partei davon, dass die
kurdischen Parteien weiterhin ständig mit Kriminalisierung und
Repression konfrontiert waren.
In den
Jahrzehnten der Republik entschieden im Südosten die Verbandelungen
der feudalen Autoritäten mit den staatstragenden Parteien darüber,
auf wen die höchsten Prozente entfielen. Im Jahr 1985 wurde diese
kontinuierliche Feudalbande zwischen Stämmen und Staat mit dem
Dorfschützersystem institutionalisiert. Unter Absolution des
Souveräns konnten die erfolgreichsten Dorfschützer eine Ökonomie
aus Zwangsenteignung von Landflächen, Landraub an den noch
verbliebenen Assyrern und Eziden, Brautraub und Schmuggel etablieren.
Der Feudalherr Sedat Edip Bucak vom gleichnamigen
kurdisch-sunnitischen Aşiret saß für die DYP mehrere Amtsperioden
als Abgeordneter der Dorfschützerprovinz Şanlıurfa in der
türkischen Nationalversammlung. Der Befehlshaber über eine Armee an
Dorfschützern überlebte als einziger in jener Mercedes S-Klasse,
die am 3. November 1996 im westtürkischen Susurluk in einen
abbiegenden Lastwagen gerast war. Neben ihm starben an diesem Tag Abdullah
Çatlı, ein Grauer Wolf und berüchtigter Auftragsmörder, sowie
Hüseyin Kocadağ, der in der Konterguerilla polizeiliche Karriere
machte und zuletzt die Istanbuler Polizeiakademie führte. In dem
Wrack fanden sich ein Päckchen Heroin, mehrere gefälschte
Reisedokumente, hochkalibrige Revolver und Schalldämpfer. Das –
und zusätzlich die islamistische Hizbullah – ist das mafiöse
Milieu, aus dem heraus die Abtrünnigen der PKK bekämpft wurden. In
der Westtürkei fuhren ihre Protagonisten Mercedes, im Osten dagegen
war der „beyaz Toros“ berüchtigt. Die in der Türkei
produzierten weißen Renaults sind ein Synonym für erzwungenes
Verschwinden. Mit ihnen verschleppten Todesschwadronen unzählige
Verdächtige, deren Leichen später in Schächten verscharrt wurden.
Die
AK Parti distanzierte sich zunächst rhetorisch von der Bestialität
der Konterguerilla – und zugleich instrumentalisiert sie diese
unverhohlen als Drohung. Das Kalkül der AK Parti, die Kurden mit
Koran und Kapital zu vereinnahmen, blamierte sich am 7. Juni 2015,
als in manch kurdischer Provinz an der Urne über 80 Prozent auf die
Halkların Demokratik Partisi (HDP) mit ihrer Idee einer föderalen
Umstrukturierung der Türkei entfielen. Ahmet Davutoğlu, in jenen
Tagen Ministerpräsident von Erdoğans Gnaden, drohte alsdann
eine Wiederkehr der dunklen Ära der „beyaz toroslar“ an. Ihre
perfide Strategie „Chaos oder Stabilität“ heißt Unterordnung
als osmanische Schutzbefohlene oder Remobilisierung des
nationalchauvinistischen Zorns auf die kurdischen Abtrünnigen. An
der Seite des Staates finden sich wieder die feudalsten unter den
Kurden ein: so rief die „Assoziation anatolischer Dorfschützer und
Familien der Märtyrer“ in den Tagen der Abriegelung ganzer
Distrikte im Südosten zur Einheit gegen „die Gottlosen“ der PKK
mit „ihrer Mentalität von Kreuzfahrern“ auf. In den
sunnitisch-konservativen Provinzen Şanlıurfa und Bingöl hängen
ganze Distrikte am finanziellen Tropf des Dorfschützersystems. Und
auch an der Front zu Afrin wird über die Rekrutierung von
Dorfschützern spekuliert.
Darüber, wer
als Abtrünniger zu gelten hat, entscheidet in der Türkei nicht die
Shariah. Die Islamisierung erfolgt in der Türkei nicht über
theologische Strenge. Viele islamische Rechtsbelehrungen des
Islam-Amtes Diyanet – wie etwa, dass verlobte Pärchen es
unterlassen sollten, in der Öffentlichkeit die Hand des anderen zu
halten – blieben in der Türkei bislang die Absurditäten, die sie
sind – außer in den anatolischen Dörfern, wo die Familienbande
über die Keuschheit der Frauen wacht, sowie in den vielen
anatolischen Dörfern innerhalb der Städte. Selbst in den höheren
Parteistrukturen der AK Parti – und im Polizeiapparat sowieso –
findet sich weiterhin die äußerliche Erscheinung des modernen, von
Mustafa Kemal geforderten Frauentyps neben den züchtig bedeckter
Frauen. Die Säkularisierung der Türkei – wenn auch eine
beschädigte – ist zu weit vorangeschritten, als dass ein
islamistischer Frontalangriff auf das Erbe Mustafa Kemals, wie im
Jahr 1979 im Iran auf die Restbestände der Modernisierungsdiktatur
anderes zu Folge haben könnte als eine existenzielle Staatskrise.
Und doch ist der säkulare Charakter der Türkei ein Schein. Die
Islamisierung der Türkei erfolgt über die aggressive Verschmelzung
von Islam mit der nationalchauvinistischen Kontinuität in der
Republik und der Rachsucht an den Abtrünnigen der nationalen
Einheit: „Eine im Glauben geeinte Nation, eine Flagge, ein
Vaterland, ein Staat“ (Tek millet, tek bayrak, tek vatan, tek
devlet), verfleischlicht in der Führerfigur Recep Tayyip Erdoğan,
das ist die nationalisierte Shahada Grüner und Grauer Wölfe. Wer
hinter der blutroten Flagge nicht stramm steht, gilt als Apostat,
gehetzt von Justiz, Rotte oder, wie in Afrin, der Armee.
Im
theologischen Seminar ist die türkische Ideologie nicht zu
ergründen. Die Staatsfront gegen Afrin ist auch keine ausschließlich
islamistische. Wie bei der Genozidlüge und der aggressiven
Schuldprojektion assoziieren sich die laizistischen „Soldaten
Mustafa Kemals“ im Hass auf die Abtrünnigen am Vaterland mit den
panturkistischen Grauen Wölfen und den Muslimbrüdern.
Entscheidender als die ohnehin mangelhafte Surentreue der Türken
sind Krise, nationalchauvinistische Formierung und Racketisierung.
Die (Re-)Islamisierung ist auch kein Bruch mit der Republik, das
Potenzial dazu schlummerte in ihr vom ersten Tag an. Der Genozid an
den anatolischen Armeniern und den mesopotamischen Assyrern sowie die
beidseitigen Massaker und Massendeportationen an und von christlichen
Griechen koppelte die nationale Identität schicksalhaft an den
Islam, auf dessen arabischen Ursprung die
Modernisierungsnationalisten in Tradition Mustafa Kemals zugleich
argwöhnisch herabblickten. Es war die Teilhabe an Ausplünderung und
Mord, die die Religiösen mit der Modernisierungsdiktatur präventiv
versöhnte und eine Nation begründete, deren Schuld sich in der
Paranoia äußert, die Ermordeten und Verleugneten könnten aus ihren
Gräbern aufstehen und als pseudokonvertierte Christen, „armenische
Diaspora“, oder – wie es die Muslimbrüder zu sagen pflegen –
als „Kreuzfahrer“ Rache nehmen und den Keil ins Vaterland
schlagen. Die Überlebenden galten noch in den ersten Jahrzehnten der
Republik, die den Islam gnadenlos entarabisierte und dem
Modernisierungsauftrag von Ökonomie und Apparat unterwarf,
allerhöchstens als Kanun Türkü, als „gesetzliche Türken“, mit
dem ihnen eingebrannten Stigma, keine Muslime des Blutes zu sein. Die
Durchdringung des türkischen Islams durch die ideologischen Elemente
Rasse und Blut ist Erbe der formal laizistischen Republik. Der
türkische Boulevard, wie die traditionslaizistische Hürriyet, hat
bereits in den dunkelsten Tagen der Konterguerilla das Gerücht
gestreut, dass tot aufgefundene Militante der PKK noch eine Vorhaut
gehabt hätten.
Und
doch sind es die Muslimbrüder, die heute den Takt der Marschkapelle
vorgeben. Staatspräsident Erdoğan denunziert die
YPG als „ungläubige, gottlose terroristische Organisation ohne
heilige Schrift“. Nach Yeni Akit, einer Gazette aus dem Dunstkreis
der Millî Görüş, verfolgen die
Föderalisten den Abfall der Kurden vom Islam. Da sie selbst
„gottlos“ seien, brächten sie zu diesem Zweck den zoroastrischen
Kult in Anschlag. Auffällig, so die Gazette, sei es, dass ihre
Gefallenen ohne islamisches Totengebet zu Grabe getragen werden. Dass
von Afrin nie eine konkrete terroristische Bedrohung für die Türkei
ausging, ist nicht entscheidend. Afrin ist ihr Sündenbock. Am 5.
September 2012 – die Schlacht um Aleppo brach wenige Wochen zuvor
mit aller Brutalität aus – posaunte Erdoğan
noch, dass der Tag bald kommen werde, an der die türkischen und
syrischen Brüder in der Damaszener Umayyaden-Moschee beten werden.
Am 30. Juni 2012 wurde in Ägypten der Muslimbruder Muhammed Mursi
als Staatspräsident vereidigt. Eine sunnitische Achse unter
türkischer Führung schien näher als je zuvor, einzig Syrien als
Satellit eines anderen imperialen Aspiranten, des Irans, musste noch
fallen.
Im folgenden
Jahr war der Siegeszug der Muslimbrüder in Ägypten wieder beendet.
In denselben turbulenten Tagen brachen in Istanbul die ersten
mehrtägigen Massenproteste gegen die AK Parti aus. Zudem kam es zum
endgültigen Bruch Erdoğans mit der reform-islamistischen Gemeinde
von Fethullah Gülen. Die Krise verschleppte sich – und die
Umayyaden-Moschee schien fern zu sein. Um das Erreichte bei ihrer
Eroberung des Staatsapparates abzusichern, blieben die türkischen
Muslimbrüder von Allianzen abhängig. Die bislang stabilste Front
begründeten sie mit den Grauen Wölfen der Milliyetçi Hareket
Partisi. Angesichts der hysterisch beschworenen Bedrohung der
territorialen Integrität durch kurdische Föderalisten gelang ihnen
auch ein prekärer Verbund mit dem laizistischen Milieu der zuvor
noch als „Ergenekon“-Verschwörer verfolgten
ultranationalistischen Militärs und eurasischen Geostrategen.
Die
beidseitige verfolgte Konfessionalisierung hat in Syrien vor allem
eine weitere Partei gestärkt: die des russischen
Ordnungsimperialsten Vladimir Putin, dem Großmeister der Rackets. In
Afrin rächt sich Erdoğan dafür, dass die Eroberung von Damaskus
gnadenlos gescheitert ist, dass er ohne russische Billigung in Syrien
kaum noch einen Schritt machen kann. Während die von den
sunnitischen Militanten gehaltenen Territorien – selbst dort, wo
sie als befriedet gelten, wie in Azaz – von tödlichen Bandenfehden
und Raubökonomie beherrscht werden, haben die Föderalisten trotz
der erzwungenen Generalmobilisierung ein Gemeinwesen etabliert, das
angesichts der syrischen Katastrophe für viele ein Versprechen ist.
Im schleunigst niedergeschriebenen Contract Social ist die
Säkularität des Gemeinwesens statuiert und werden Kinderehe,
Vielehigkeit, Zwangsheirat, Brautpreis, familiäre Gewalt und
weibliche Genitalverstümmelung explizit kriminalisiert. Allein die
Existenz der nordsyrischen Föderation ist eine einzige narzisstische
Kränkung für die türkischen Muslimbrüder als ambitionierte, aber
gescheiterte Großraumstrategen. Mit der Militärkampagne „Operation
Olivenzweig“ verfolgt die Türkei nicht nur die Vernichtung der
Föderation, sie schleift in Nordsyrien ein weitflächiges
Territorium von Afrin nach Manbij und womöglich darüber hinaus, in
dem die sunnitischen Militanten und ihre Familien einen von der
Türkei gänzlich abhängigen Satelliten begründen sollen, ähnlich
wie die Hizbullah im Südlibanon für den Iran. Wer die Protagonisten
dieser Satellitengründung sein werden, lässt sich in diesen Tagen
in den in Afrin eroberten Grenzdörfern beobachten, wo auf die Armee
die İHH folgt, eine islamistische Charité, die in den Steppen der
kapitalistischen Universalität als missionarisches Staatssurrogat
auftritt. Für Vorbilder hält die İHH Shamil Basayev, den
tschetschenischen Warlord und Blutsäufer von Beslan, Ahmet Yasin,
die geistige Eminenz der Hamas, und natürlich Necmettin Erbakan, den
Begründer der Millî Görüş.
Eine
Föderalistin zerstört ein Plakat, mit dem der Ganzkörperschleier
propagiert wird
Doch
noch ist das städtische Afrin nicht erobert. Für die
Straßenschlacht vertraut Erdoğan auf die paramilitärischen
Strukturen innerhalb der Gendarmerie und Polizei (Jandarma Özel
Harekat – JÖH, Polis Özel Harekat – PÖH). Anders als die Armee
der Zwangsrekruten sind sie hoch ideologisierte Kaderorganisationen
der Grauen und Grünen Wölfe. In ihren
Schlachtgesängen beschwören sie
das Reich Turan, die mystische Urheimat aller rassischen Türken, und
den Pfad in das Paradies von Fatih Sultan Mehmed, dem „Vater der
Eroberung“. Daran, dass die Aggression gegen das föderale Afrin
auch eine Drohung mit dem Tod an alle lebensfreudigen Menschen in der
Türkei ist, lässt der Führer keinen Zweifel. Auf einem
Parteikongress im südtürkischen Kahramanmaraş rief
Erdoğan jüngst ein
weinendes Mädchen zu sich, das – ganz zugerichtet – in
Tarnuniform gkleidet war und eine türkische Flagge in der
Brusttasche trug: „Hier haben wir eine unserer Bordo Bereliler.
Aber die Bordo Bereliler weinen nicht. JÖH, Oberstleutnant, Bordo
Bereliler... Maşallah die türkische Flagge ist auch in deiner
Tasche. Wenn sie zur Märtyrerin wird, dann wird sie, so Allah will,
damit bedeckt werden. Sie ist für alles bereit. Nicht wahr.“** Die
Bordo Bereliler, „diejenigen mit den bordeauxroten Baretten“,
sind eine türkische Eliteeinheit mit dem Slogan: „Mit uns kommt
der Tod“.
Entscheidend
für eine Opposition gegen diese Märtyrerisierung der Türkei wird
sein, dass jene Türken, die das Leben lieben und nicht den Tod
beschwören, mit der Schuldprojektion und den Opfermythen brechen,
die der Republik inhärent sind. Dass die Krisenhaftigkeit der
Republik an den Kurden exorziert wird, ist Teil der türkischen
Ideologie der Traditionslaizisten. Einen ihrer absurdesten Auftritte
hat diese organisierte Projektion am 10. Februar 1999 gehabt, als die
türkische Prominenz aus der Kulturindustrie in Abendgarderobe den
alevitisch-kurdischen Sänger Ahmet Kaya mit Tischbesteck bewarf und
ihn als „unbeschnittenen Zuhälter“, also als Kryptoarmenier,
beschimpfte, nachdem dieser auf der Gala mitgeteilt hatte, alsbald
auch ein Liedchen auf kurdisch zu singen. Serdar Ortaç, der es heute
mit Erdoğan hält, empörte sich: „In dieser Epoche gibt es weder
Sultan noch Padishah. Die Türkei ist auf dem Weg Atatürks! Dieses
Vaterland gehört uns, nicht anderen!“
Die einzige Hoffnung
gegen diese Perpetuierung der türkischen Katastrophe liegt im Moment
noch bei den feministisch organisierten Frauen. Es ist ihnen eine
Selbstverständlichkeit, dass sie am 8. März, der in der Türkei
noch eine Tradition hat, Slogans und Banner auf Kurdisch und
Armenisch in Anschlag bringen. Während die türkische Opposition
gegen die Islamisierung auf das urbane-bürgerliche und
alevitisch-ländliche Milieu beschränkt bleibt, drängen kurdische
Feministinnen in die feudalen Abgründe des Südostens vor. Auch an
diesem 8. März in Istanbul liefen in den ersten Reihen des
Protestmarsches durch die İstiklâl Caddesi ältere kurdische Frauen
mit traditioneller Verschleierung und ähnlichen Biografien –
Zwangsheirat als junge Mädchen, Schulabbruch, Aufopferung als
Mütter, Binnenimmigration in das dörfliche Milieu eines
Großstadtslums – mit. Sie demonstrieren vor allem auch dafür,
dass es ihren Töchtern und Enkeltöchtern anders ergeht. Auch dieses
Jahr dröhnte es wieder „Frau – Leben – Freiheit“ und „Es
lebe der Widerstand der Frauen“ auf Kurdisch durch den zentralen
Istanbuler Flanierboulevard. Währenddessen rückt das türkische
Militär und ihre syrischen Alliierten weiter auf Afrin vor. In den
eroberten Dörfern werden Überwältigte als „Schweine“ und
„Ungläubige“ beschimpft und hingerichtet, ältere Männer
verdächtigt, Eziden zu sein, und darin befragt, wie die islamischen
Gebete auszuführen sind, und triumphierend angedroht,
in die Mitte von Afrin die Flagge der Shahada (La ilâhe illallah,
„Es gibt keinen Gott außer Allah“) zu pflanzen.
Die
Föderalisten sind in Syrien alleingelassen mit den Meistern der
Rackets von Recep Tayyip Erdoğan über Qasem Soleimani und Hassan
Nasrallah bis hin zu Bashar al-Assad und Vladimir Putin. „Wir sind
von Feinden umgeben … der Türkei, angeführt von der
islamofaschistischen AKP, dem al-Ba'ath-Regime, den (schiitischen
Milizionären der) Hashd Sha’abi und den Iranern“, so Abd
al-Salam Ahmad, Gründungsmitglied der PYD und zuständig für die
Öffentlichkeitsarbeit der in der Föderation administrativen
Parteienkoalition TEV-DEM.*** Die Deutschen haben sie für die
geopolitische Allianz mit der Türkei der Muslimbrüder und – nur
ein wenig diskreter – mit dem klerikalfaschistischen Iran
entschieden. Die drohende Vernichtung der säkularen Föderation
Nordsyrien mit ihren feministischen Erfolgen lässt sie nicht nur
kalt. Mit jeder demonstrativen Umarmung der wechselnden
Charakterfratzen aus dem Auswärtigen Amt mit ihrem türkischen
Amtskollegen wird die Repression jenen gegenüber angezogen, die sich
solidarisch mit den Verteidigern von Afrin erklären. Der Status
östlich des Euphrats wird noch von den US-Amerikanern garantiert.
Ihnen sind die Föderalisten eine Barriere gegen den Iran, dem die
US-Amerikaner in Kirkuk noch den Vorstoß gewährten. Es scheint so,
als würden die US-Amerikaner zumindest noch Manbij
an Erdoğan aushändigen, um diesen zu besänftigen.
* Die
Dokumacılar waren eine türkische Schläferzelle des „Islamischen
Staates“, benannt nach ihrem Begründer Mustafa Dokumacı. Ihre
Mörder entkrochen vor allem der biederen anatolischen Provinzstadt
Adıyaman. Diese brachen mit ihren Familien, die ihre Söhne in aller
Konsequenz bei der Polizei denunzierten. Doch ungehindert von den
Staatsapparaten reisten diese nach Syrien aus, manche unter ihnen
heirateten junge Jihadtouristinnen aus Mönchengladbach. Wieder in
der Türkei etablierten sie ein eigenes Rekrutierungsbüro in
Adıyaman. Die Eltern rannten gegen die Ignoranz des Staates an,
sprachen selbst bei Ahmet Davutoğlu vor, doch der Staat schien nicht
daran interessiert zu sein, das jihadistische Moloch zu stopfen. Am
5. Juni 2015 erschütterte eine Detonation ein Meeting der
oppositionellen Halkların Demokratik Partisi in Diyarbakır. Am 20.
Juli 2015 riss in Suruç, dem türkischen Grenzstädtchen gegenüber
Kobanê, eine suizidale Bestie 34 Angehörige einer
Solidaritätsbrigade mit in den Tod, die die Menschen in Kobanê
nicht den Ruinen oder dem türkisch-griechischen Toten Meer
überlassen wollten. Es folgte im Herbst das verheerende suicide
bombing von Ankara mit über hundert Toten während eines
Friedensmarsches.
**
In der türkischen Nationalversammlung ließ Erdoğan jüngst ein
verschleiertes Kleinkind jenes Gedicht aufsagen, für das er selbst
noch im Jahr 1999 wenige Monate in Haft saß: „Die Moscheen sind
unsere Kasernen, die Kuppeln unsere Helme, die Minarette unsere
Bajonette und die Gläubigen unsere Soldaten.“
*** Den
khomeinistischen Iran charakterisiert Ahmad als „die andere
Gesichtshälfte von Daʿish … dem schiitischen Antlitz des
islamischen Kalifats“. Das von Vadimir Putin und Qasem Soleinami
abhängige al-Ba'ath-Regime sieht er als „foundational cause“ der
syrischen Katastrophe.
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