Als türkische
Panzergrenadiere auf den nahen Hügeln ausharrten, während die
jihadistischen Genozideure davorstanden, die Grenzstadt Kobanê als
ihr „Ayn al-Islam“ einzunehmen, war zu ahnen, dass diese
demonstrative Passivität selbst noch zur Aggression werden sollte.
Jüngst war im syrischen Qamişlo jede Detonation im hinter der
Grenze liegenden Nusaybin zu spüren, wo auch noch nach der
Kapitulation der militanten Jugend die türkischen Militäroperationen
als Zwangsverordnung der Grabesruhe angedauert haben.
Die
türkische Katastrophenpolitik, die mit aller Generosität dem Jihad
ein logistisches und ideologisches Hinterland gewährt, hat die
suizidale Hölle Syriens längst um den eigenen Südosten erweitert.
In Suruç, dem türkischen Grenzstädtchen gegenüber Kobanê, riss
am 20. Juli 2015 eine suizidale Bestie jene mit in den Tod, die die
Menschen in Kobanê nicht den Ruinen oder dem türkisch-griechischen
Toten Meer überlassen wollten. Die Ermordeten waren aus Istanbul,
Ankara und anderswoher angereist, sie hatten die Universität
verlassen um als Solidaritätsbrigade, als angehende Ingenieure und
Ärzte, in Kobanê auszuhelfen. „Die Revolution in Rojava ist eine
Revolution der Frauen“, begründete die ermordete Hatice Ezgi Sadet
ihre Entscheidung, es mag darin auch eine Flucht vor der Ohnmacht
gegenüber der türkischen Katastrophe liegen, die nach dem Ende der
Jugendrevolte im Jahr 2013 eintrat. Am 5. Juni erschütterte eine
Detonation ein Meeting der oppositionellen Halkların Demokratik
Partisi in Diyarbakır. Es folgte im Herbst das verheerende suicide
bombing von Ankara mit über hundert Toten während eines
Friedensmarsches derselben Oppositionspartei. Ihre Mörder entkrochen ausnahmslos
dem jihadistischen Milieu in der anatolischen Provinzstadt Adıyaman.
Diese brachen mit ihren Familien, die ihre Söhne in aller Konsequenz
bei der Polizei denunzierten. Ungehindert von den Staatsapparaten
reisten diese nach Syrien aus, manche unter ihnen heirateten junge
Jihadtouristinnen aus Mönchengladbach. Wieder in der Türkei
etablierten sie ein eigenes Rekrutierungsbüro in Adıyaman. Die
Eltern rannten gegen die Ignoranz des Staates an, sprachen selbst bei
Ahmet Davutoğlu vor, doch der Staat schien nicht daran interessiert
zu sein, das jihadistische Moloch zu stopfen. Auf die faschistische
Methode des suizidalen Märtyrertodes rekurrieren inzwischen auch
andere. Die Teyrêbazên Azadîya Kurdistan, die „Freiheitsfalken
Kurdistans“, so wird kolportiert, rekrutieren sich aus jenen
Verrohten, denen die PKK zu zögerlich geworden ist. Der Tod
Unschuldiger – die Detonationen gelten türkischen Militärs oder
Polizisten in den Städten - wird von diesem undurchsichtigen
Märtyrer-Racket miteinkalkuliert.
Zwischen
den suizidalen Massakern in Suruç und Ankara folgte eine
Lynchkampagne in nahezu allen türkischen Provinzen. Unter
nationalistischem Gebrüll gingen Provinzbüros der Halkların
Demokratik Partisi in Brand auf. Die Aufhebung der Immunität für
ihre Abgeordneten steht lediglich am Ende einer alsbald einjährigen
Rache an der Partei der Abtrünnigen. „Sie sind Atheisten, sie sind
Zoroastrier“, denunzierte Erdoğan sie jüngst - und alle anderen,
die er für selbiges hält: die Guerilla, die säkulare Jugend und
kritische Intellektuelle. Auch der türkische
Boulevard titelt inzwischen
von „Zoroastriern“ und „Feueranbetern“, wenn der Staatsfeind
gemeint ist. Ihre Rhetorik unterscheidet sich kaum noch von der
genozidaler Jihadisten. Yeni Akit, die Krawallgazete türkischer
Muslimbrüder, feierte jüngst den 50sten Toten des Massakers in
Orlando: „Die Zahl der Toten in der von perversen Homosexuellen
frequentierten Bar stieg auf 50!“ Sie und die genozidalen
Jihadisten von Daʿish sind sich Brüder im Geiste.
Die Despotie
der Muslimbrüder unter ihrem „Vater“ Tayyip Recep Erdoğan hat
das türkische Staatsdogma - jede empirische Uneinigkeit als eine
perfide Intrige anderswoher auszumachen – modifiziert. Sie
amalgamiert die nationalen Opfermythen und Staatsgründungslegenden,
die für sich allein ein einziges Arsenal an Ideologie und Paranoia
sind, mit den Symptomen jener narzisstisch Gekränkten, denen die
Erniedrigung und Verächtlichmachung der Menschen allein Grund ist,
die Erniedrigung und Verächtlichmachung der Menschen zu
perfektionieren, jener also, die Rache an dem Leben und allem, was
noch irgendwie an die Möglichkeit von individuellem Glück erinnert,
nehmen: den zum Jihad Erweckten.
Die
türkische Staatsfront integriert, wer Mündigkeit in Unterwerfung
abstreift, die eigene unter den Vater, den Apparaten und Gott, und
noch mehr die der anderen, demütigend, erniedrigend, rächend. Die
Kleingeistigkeit und Weinerlichkeit der eigenen Existenz gelangen in
der Vaterfigur Tayyip Recep Erdoğan zur Erhabenheit über die
Intrigen der Moderne. Die Personifikationen von der Nicht-Identität
sind dabei auch nach 1915 dieselben: Während auf den zerschossenen
Fassaden in den eingeschlossenen Distrikten des Südostens der
Mordauftrag der türkischen Staatsfront aus Grünen und Grauen Wölfen
prangt: „Armenische Bastarde“, spürt der
paranoide Boulevard hinter der Guerilla getarnte Armenier auf und
brodelt das Gerücht, die PKK schleuse ihre Kämpfer ins armenische
Bergkarabach.
Die
syrische Katastrophe ist längst um den türkischen Südosten
erweitert. Nusaybin und Yüksekova, Cizre und Sur sind kaum noch zu
unterscheiden von Halep und Homs. „Liebe lebt man in Bodrum, meine
Hübsche“, Aşk Bodrumda Yaşanıyor Güzelim, besang Bülent
Serttaş, eine der Diven der türkischen Kulturindustrie, im
vergangenen Jahr das mediterrane Städtchen, das heißt wie das
türkische Wort für „Kellergebäude“. Ein Brandmord machte ein
halbes Jahr später „Aşk Bodrumda Yaşanıyor Güzelim“ zum
Freudengesang der türkischen Konterguerilla. Im militärisch
abgeriegelten Cizre harrten junge Militante tagelang unter den
Einschlägen der türkischen Artillerie in Kellergebäuden aus. Mehr
als hundert Menschen verbrannten, erstickten oder begrub
einstürzender Beton unter sich. „Liebe lebt man im Keller, meine
Hübsche“ ist eine der Reviermarkierungen der türkischen
Konterguerilla, die als Schriftzüge an
den zerschossenen Fassaden von Cizre prangen. Vor dieser Hymne an den
Verbrennungstod salutieren Polizisten siegestrunken mit Wolfsgruß.
Indessen
wird in Diyarbakır-Sur, das mehr als hundert Tage lang militärisch
abgeriegelt blieb, der faschistische Soundtrack zur
Straßenschlachtung eingesungen und
nicht allein die gnadenlose Authentizität unterscheidet sich von
Frankfurt-Sossenheim und anderen Kulissen faschistoidem Rap. Wo zuvor
noch die Drohung durch den Präzisionsschuss jede Bewegung in den
Sträßchen und schmalen Gassen des historischen Stadtkerns
verunmöglichte, streift nun ein camouflierter Polizeioffizier als
Lone Wolf durch die Ruinen von Sur umher, ehrt die gefallenen
Märtyrer der Jandarma und geriert das Vaterland als Opfer perfider
Verschwörung listiger Armenier, Griechen und Juden.
Verschwörungsparanoia als türkische Staatsdoktrin.
Auf
Straßenschlachtung und erzwungener Flucht folgt Enteignung. Hunderte
Gemarkungen, einschließlich die schwerbeschädigte St. Giragos
Kathedrale, werden in Sur, dem historischen Diyarbakır,
verstaatlicht. Das sanierte Sur, das in einem Imagefilm präsentiert
wird, hat jede Erinnerung, die nicht in den neo-osmanischen Staat
integriert werden kann, ausgelöscht. Was bleiben soll, sind
Satellitenstädte, deren Funktionen allein im Interesse des
neo-osmanischen Größenwahns liegen, das heißt: die moralische
Erbauung in einer der restaurierten Moscheen unter strenger Kontrolle
des Religionsministeriums, die Stimulation der Gebärmaschinerie –
Kinderlosigkeit ist „Verrat an der Nation“ (Erdoğan) – sowie
eine Ökonomie, die vor allem noch durch den korrupten Pfuhl des
Immobiliensektors angereizt wird. Derselbe Kahlschlag geschieht in
diesen Tagen auch in Cizre-Nur, der „Liebe“ der Konterguerilla.
Zwanghaft
spricht die Despotie der Muslimbrüder vom Erobern. Am letztjährigen
562. Jahrestag der Eroberung Konstantinopels posaunte es aus Erdoğan:
„Eroberung heißt Mekka. Eroberung heißt Sultan Saladin, heißt
es, in Jerusalem wieder die Fahne des Islams wehen zu lassen."
Im Erobern besteht schlussendlich der Staatsauftrag an die Jugend.
„Ihr seid die Generation, die Damaskus und Jerusalem erobern wird“,
peitschte es auf die anwesende Jugend ein. Istanbuls Schuldirektionen
waren unter Drohung angehalten, Kontingente an Schülern zum
Jahrestag aufzustellen. Was unter Eroberung wesentlich zu verstehen
ist, führte Erdoğan, der von seinen Hörigen sanft „Sohn von
Mehmed Fatih, dem Eroberer“ gerufen wird, im Jahr 2009 im
schweizerischen Davos, der Luxusmarke internationaler Diplomatie,
vor. Erdoğan forderte während einer Diskussion hysterisch eine
weitere Minute ein, um den anwesenden Shimon Perez vorzuhalten, dass
Morden eine jüdische Spezialität sei. Nachdem Erdoğan mit dem
Ägypter Amr Moussa bereits 34 Minuten gegen Israel gehetzt hatte und
aus der weiteren herausgeschlagenen Minute mehrere geworden waren,
stand Erdoğan abrupt auf, drückte die Hand des Generalsekretärs
der Arabischen Liga und verließ die Debatte. Wieder in Istanbul
angekommen, wurde er von seinem Brüllvieh als „Eroberer von Davos“
begrüßt. In seinem Wesen ist das Beschwören von Eroberung der
antisemitische Ritus, sich selbst als verfolgende Unschuld zu
gefallen. „Ihr könnt euch noch so anstrengen", rief Erdoğan
auf dem besagten Jahrestag der Eroberung Konstantinopels, „ihr
werdet uns nicht dazu bringen, auf unsere erste Qibla zu verzichten.“
Die erste Qibla, die Ausrichtung des Gebetes der Muslime, war
Jerusalem, erst nach der Auswanderung des Propheten nach Medina
änderten sie diese gen Mekka. Diese Weinerlichkeit, die in Trotzt
umschlägt, und der zwanghafte Reflex, jede innere Uneinigkeit als
Kabale von außen zu exorzieren, verraten: sie projizieren ihr
aggressives Inneres auf ein Äußeres.
Darin liegt
das Wesen antiimperialistischer Ideologie – und es ist die Schwäche
der organisierten Opposition, dass nicht wenige aus ihr die nationale
Borniertheit, den antiimperialistischen Reflex, teilen. Die
traditionelle KP demonstriert unter dem Banner „Kein Durchmarsch
der Shariah, dem Faschismus und der Dunkelheit“, um dann doch vor
den Konsequenzen einer Kritik der türkischen Ideologie zu flüchten:
„Frömmelnder, Geldbesessener, Amerikanist. Du bist nicht die
Türkei“. Opposition entscheidet sich in der Türkei vor allem
dort, wo es den türkischen Gründungsmythos trifft. Die türkische
KP spricht wenigstens von 1915 als einem Genozid – auch wenn ihre
Kritik allein der türkischen Bourgeoisie als Profiteur der
ökonomischen Islamisierung gilt -, die mit ihr verwandte Halkın
Kurtuluş Partisi, die „Partei der Volksbefreiung“, dagegen
demonstrierte in aller Dreistigkeit am 24. April, dem Jahrestag der
armenischen Katastrophe, gegen die Genozidlüge. Die
strenglaizistische Vatan Partisi ist so konsequent und erklärt wider
die Teilung des Vaterlandes die Einheit mit den „religiös
Konservativen“ Erdoğans zur „patriotischen Front“.
Das
Gedenken ist bei denen am entschiedensten, die längst das Phantasma
der armenischen Verschwörung zu inkarnieren haben. So trugen die
Familienangehörigen von der Konterguerilla "Verschleppter",
die sich wider die zwangsverordnete Amnesie wöchentlich auf dem
Istanbuler Galatasaray Meydanı treffen, Fotografien jener Armenier,
die am 24. April 1915 in Istanbul verhaftet und ins anatolische
Hinterland deportiert worden sind. Özgür Gündem erinnerte auf der
Titelseite an den Genozid und denunzierte das Regime Erdoğans in der
mörderischen Tradition der osmanischen Despotie sowie des
Türkisierungsregimes des jungtürkischen İttihat ve Terakki
Cemiyeti. Und auch die Halkların Demokratik Partisi gedachte dem
Genozid, ihr Abgeordneter Garo Paylan, ein Armenier aus Istanbul,
hielt die Ansprache. In den Bücherstuben von Diyarbakır etwa ist
Literatur über den Genozid, die unzähligen 'verschwundenen'
armenischen Dörfer in Kurdistan sowie die Zwangsislamisierung
Überlebender omnipräsent. Die anatolischen Armenier lebten vor 1915
vor allem auch im heutigen türkischen Osten.
Tayyip kaç
kaç kaç, ibneler geliyor
„Tayyip,
so viele, so viele, so viele Schwuchteln kommen“
(Protestruf
gegen Erdoğans Geburtendiktat)
Das
Schänden von Leichen, das demonstrative Hissen der türkischen
Flagge auf Ruinen, die Selbstporträts der Konterguerilla vor
zertrümmertem Mobiliar, die Unterwerfungsaufforderungen an den
Fassaden - die andauernden Militäraktionen im türkischen Südosten
werden durchgeführt als Eroberungszüge, als Demütigung und Rache.
„Es gibt nur einen Gott und seine Armee ist die türkische“, wie
es auf einer Fassade in Nusaybin prangt, ist die Drohung, alles
Andere zu unterwerfen. Es ist nicht „ein Volk ohne Staat“ oder
eine andere deutsche Projektion, womit solidarisch zu sein wäre. Es
ist die alltägliche individuelle und kollektive Unternehmung, die
Aggression, die in ihrem Wesen eine antiuniversalistische ist, zu
kontern. Und nicht, dass der türkischen Katastrophenpolitik kein
Widerstand mehr entgegengebracht wird. Nachdem jüngst Ismail
Kahraman, Präsident der Nationalversammlung und islamistischer
Veteran aus der antilaizistischen Bewegung Millî Görüş, die
völlige Entsäkularisierung der türkischen Verfassung – noch
steht das Gebot der Trennung zwischen Politik und Religion als
laizistisches Rudiment - forderte, demonstrierten jene,
die wissen, was ihnen droht: "Schulter an Schulter gegen die
Sharia" (Şeriata karşı omuz omuza). In säkularen
Stadtvierteln von Istanbul, Ankara und anderswo werden die enthemmter
auftretenden Religionsrackets noch auf Distanz gehalten. In
Izmir kontern junge
Menschen das Diktat Erdoğans zur Produktion von Menschenmaterial mit
dem Slogan: „Tayyip, so viele, so viele, so viele Schwuchteln
kommen“. Doch während die İHH, die 'humanitäre' Flanke von Hamas
und Ahrar al-Sham, an manchen Universitäten in die Kritik im
Handgemenge gezwungen und
die tugendterroristische Sitte von der Straße gedrängt werden,
können sie an den staatlichen Gymnasien der İmam hatip lisesi zu
Gedächtnisabenden für die Märtyrer der Khaybar-Flottille laden.
Eine
der noch harmlosesten Angriffe auf die Halkların Demokratik Partisi
spricht in aller Deutlichkeit aus, was der Türkei noch droht und vor
allem womit solidarisch zu sein wäre. In der letzten
Ausschusssitzung der Nationalkammer vor der Immunitätsaufhebung
wollte ihr Abgeordneter Mithat Sancar in seiner Ansprache Oscar
Wilde, kommunistischer Müßiggänger und homosexueller Dissident,
aus dessen Klassiker „Dorian Gray'in Portresi“ zitieren,
doch ein Parteigänger Erdoğans nach dem anderen unterbrach ihn:
"Wer? ... Hä? Wer ist das denn? ...Herr Sancar, haben Sie kein
Zitat aus dieser Kultur, aus dieser Zivilisation? ... Kannst du Necip
Fazıl zitieren? Bring ein Zitat aus dieser Zivilisation! ... Was uns
wehtut, ist, dass du von dieser Zivilisation so entfremdet bist.“
Necip Fazıl Kısakürek, Vordenker eines „Islamischen Großen
Ostens“ unter türkischer Führung, schrieb mit
Yahudilik-Masonluk-Dönmelik,
„Judentum-Freimaurerei-Wendehalsigkeit“, die türkische Variante
der „Protokolle“. In seiner Schrift Doğru Yolun Sapık Kolları,
„Die irrigen Abweichungen vom rechten Pfad“, von 1978 – dem
Jahr antialevistischer Pogrome in Kahramanmaraş und anderen
anatolischen Provinzen - empfiehlt er, die religiösen Minorität der
Aleviten wie Unkraut herauszureißen.
Keineswegs
hätte es noch die jüngste Hysterie um die deutsche Resolution zum
Genozid an den anatolischen Armeniern bedurft, um mehr als nur eine
Ahnung zu bekommen von der Penetranz türkischer Ideologie. Die
deutsche Politik bot – und bietet weiterhin - den türkischen
Muslimbrüdern als auch den Völkischen mehr als nur eine Flanke für
ihren aggressiven Zugriff auf die türkische Diaspora. Mit Anbeginn
des Importes von Menschenmaterial aus Anatolien, das hemmungsloser
als das autochthone aufgerieben wurde, weil es als unumstößlich
galt, dieses alsbald wieder abzuschieben, installierte sich ihre
Ideologie als sozialer Kontrollapparat. In der Fabrik garantierte die
deutsche Direktion das auf die Kniefallen, solange dieses davon
abhielt, sich gegen die Despotie der Fabrik zu erheben. Spätestens
mit dem Mord an den Kommunisten Celalettin Kesim in Berlin-Kreuzberg
im Januar 1980 ist jede Täuschung über den faschistischen Charakter
Grauer und Grüner Wölfe sträflich. Die Häscher wurden mit
kulturrelativistischer Sensibilität bedacht, der Ermordete mit
Ignoranz und rassistischer Verachtung. Die Moschee in der Skalitzer
Straße, aus der die Mörder kamen, wurde knapp zwanzig Jahre später
die Verantwortung für die Unterrichtung Berliner Schüler im Islam
zugetragen. Diese und andere Moscheen der anti-laizistischen Bewegung
in den Staat Millî Görüş fungierten in den Jahren der Gründung
der AK Parti Erdoğans vor allem auch als Märkte für Anteile an
„Islamischen Holdings“, dem ökonomischem Fundament der
Staatsinfiltration der Muslimbrüder in der Türkei.
Europäer
und US-Amerikaner ließen die syrische Opposition mit den türkischen
Muslimbrüdern allein. Inzwischen beschriften panturkistische
Brigaden in Halep ihre Artilleriegeschosse mit den Namen ihrer
ideologischen Ahnen: Enver Paşa, jungtürkischer Mitorganisator des
Genozids an den anatolischen Christen, etwa oder Muhsin Yazıcıoğlu,
Gründer der „Partei der Großen Einheit“ und Hauptinitiator des
antialevitischen Pogroms von Kahramanmaraş im Jahr 1978. Wer in
diesen Tagen in Azaz oder den Ruinen von Haleb überwiegend präsent
ist, laviert zwischen traditioneller al-Qaida, Grünen und Grauen
Wölfen. Wie im türkischen Boulevard werden ihre Feinde als „Majus“,
„Feueranbeter“ und „Ungläubige“ denunziert. Die PKK gilt
ihnen als Nachfolgeorganisation der Haganah. Die europäisch-türkische
Aggression gegenüber Flüchtenden dagegen widersteht noch allen
narzisstischen Kränkungen. Mit Push-backs direkt an der
türkisch-syrischen Grenze und Abschiebungen in jene syrischen
Territorien, die von Ahrar al-Sham, Jabhat al-Nusra und anderen
rabiaten Menschenfeinden kontrolliert werden, werden al-Qaida und
ihre Offshoots zu verlängerten Funktionsträgern der
europäisch-türkischen Migrationsregulierung, die Despotie der
Muslimbrüder zum key player. Inzwischen verständigt
sich die Türkei auch mit Daʿish bei der Fluchtverhinderung. Während
die genozidalen Jihadisten jeden auffordern, in den von ihnen
eingenommen Territorien auszuharren, nimmt das türkische
Grenzmilitär diejenigen in sein Visier, die dem nicht nachkommen und
sich der Grenze nähern.
Die
türkischen Muslimbrüder wissen die Flüchtenden aus dem syrischen
Abgrund für ihre ganz eigenen Zwecken zu funktionalisieren. Sie –
nicht die konkreten Menschen, viel mehr der Schatten der syrischen
Katastrophe, der auf ihnen liegt - dienen dem Regime als Drohung an
die letzten Minoritäten in Anatolien. In Sivricehöyük in der
Provinz Kahramanmaraş liegend sowie in Sivas-Divriği und
Tunceli-Mazgirt verfolgt das Regime die Ansiedlung einiger tausend
syrischer Geflüchteter inmitten der verbliebenen alevitischen
Gemeinden. Gerüchte - der um sich greifenden Angst geschuldet -
kursieren, es seien Familien der Jabhat al-Nusra und Daʿish. In
Kahramanmaraş ermordeten im Jahr 1978 Graue Wölfe weit über
hundert Aleviten. In der Propaganda der Idealisten und mancher Imame
galten sie als „kommunistische Agitatoren“, „Ungläubige“ und
„Moscheeschänder“. In Sivas verbrannte eine islamistische Rotte
im Jahr 1993 die Gäste eines alevitischen Kulturfestivals unter dem
Gebrüll „Muslimische Türkei“ und „Die laizistische Republik
erstand in Sivas, in Sivas wird sie gestürzt“.
Nefrete
inat yaşasın hayat
„Wider
der Hass es lebe das Leben“
(Solidaritätsadresse
der HDP an die Ermordeten und Hinterbliebenen des Orlando Massakers)
Anzustehen
hat die fundamentale Aufklärung über die Residuen individueller und
kollektiver Widerstände gegen die Faschisierung der Türkei - und
die konkrete Solidarität mit ihnen. Kaos GL Derneği, eine
Solidaritätsvereinigung von Homo- und Transsexuellen in der Türkei,
spricht von
einer genozidalen Politik gegenüber sexuellen Minoritäten in
Syrien, Irak und anderswo. Und auch die Halkların Demokratik
Partisi, die sich ausdrücklich auch als Organisationskern für
Betroffene tugendterroristischer Verfolgung wie Homo- und
Transsexuelle versteht, spricht von
Orlando als Universalisierung einer „faschistischen Mentalität“,
die religiöse Minoritäten, Frauen und Homosexuelle mit dem Tod
droht. Die Männerrotte der faschistischen „Partei der Großen
Einheit“ verspricht indessen,
den diesjährigen Istanbul Pride, der den Ermordeten von Orlando
gewidmet ist, zu zerschlagen. Wenn der Staat nicht diese
„Ehrlosigkeit“ während des Fastenmonats Ramazan untersagt, so
die Gewaltandrohung der Grünen Wölfe, übernehmen wir es selbst.
Vergangenes Jahr erstickte der Pride im Reizgasnebel, polizeilich
organisierte Kommandos an bärtigen Männern lauerten in den
Nebengassen, einzig die Anwesenheit von Abgeordneten der Halkların
Demokratik Partisi und der traditionslaizistischen Cumhuriyet Halk
Partisi gewährten einige Minuten ohne Verfolgung. Infolge der
Immunitätsaufhebung droht auch diese Flanke genommen zu werden. Im
dezidiert säkularen Izmir wurde jüngst der Pride durch den von
Ankara berufenen Provinzgouverneur aufgrund von „Propaganda für
eine terroristische Organisation“ gebannt. Einige hundert Menschen
trotzten der Kriminalisierung und riefen das Gröbste einer
Opposition gegen Hass und Angstproduktion der Muslimbrüder: Aşk,
aşk, hürriyet; uzak olsun nefret („Liebe, Liebe, Freiheit; fern
von Hass“).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen