Freitag, 17. Juni 2016

Aşk, aşk, hürriyet - die Verlassenheit individueller und kollektiver Widerstände gegen die Faschisierung der Türkei


Als türkische Panzergrenadiere auf den nahen Hügeln ausharrten, während die jihadistischen Genozideure davorstanden, die Grenzstadt Kobanê als ihr „Ayn al-Islam“ einzunehmen, war zu ahnen, dass diese demonstrative Passivität selbst noch zur Aggression werden sollte. Jüngst war im syrischen Qamişlo jede Detonation im hinter der Grenze liegenden Nusaybin zu spüren, wo auch noch nach der Kapitulation der militanten Jugend die türkischen Militäroperationen als Zwangsverordnung der Grabesruhe angedauert haben.

Die türkische Katastrophenpolitik, die mit aller Generosität dem Jihad ein logistisches und ideologisches Hinterland gewährt, hat die suizidale Hölle Syriens längst um den eigenen Südosten erweitert. In Suruç, dem türkischen Grenzstädtchen gegenüber Kobanê, riss am 20. Juli 2015 eine suizidale Bestie jene mit in den Tod, die die Menschen in Kobanê nicht den Ruinen oder dem türkisch-griechischen Toten Meer überlassen wollten. Die Ermordeten waren aus Istanbul, Ankara und anderswoher angereist, sie hatten die Universität verlassen um als Solidaritätsbrigade, als angehende Ingenieure und Ärzte, in Kobanê auszuhelfen. „Die Revolution in Rojava ist eine Revolution der Frauen“, begründete die ermordete Hatice Ezgi Sadet ihre Entscheidung, es mag darin auch eine Flucht vor der Ohnmacht gegenüber der türkischen Katastrophe liegen, die nach dem Ende der Jugendrevolte im Jahr 2013 eintrat. Am 5. Juni erschütterte eine Detonation ein Meeting der oppositionellen Halkların Demokratik Partisi in Diyarbakır. Es folgte im Herbst das verheerende suicide bombing von Ankara mit über hundert Toten während eines Friedensmarsches derselben Oppositionspartei. Ihre Mörder entkrochen ausnahmslos dem jihadistischen Milieu in der anatolischen Provinzstadt Adıyaman. Diese brachen mit ihren Familien, die ihre Söhne in aller Konsequenz bei der Polizei denunzierten. Ungehindert von den Staatsapparaten reisten diese nach Syrien aus, manche unter ihnen heirateten junge Jihadtouristinnen aus Mönchengladbach. Wieder in der Türkei etablierten sie ein eigenes Rekrutierungsbüro in Adıyaman. Die Eltern rannten gegen die Ignoranz des Staates an, sprachen selbst bei Ahmet Davutoğlu vor, doch der Staat schien nicht daran interessiert zu sein, das jihadistische Moloch zu stopfen. Auf die faschistische Methode des suizidalen Märtyrertodes rekurrieren inzwischen auch andere. Die Teyrêbazên Azadîya Kurdistan, die „Freiheitsfalken Kurdistans“, so wird kolportiert, rekrutieren sich aus jenen Verrohten, denen die PKK zu zögerlich geworden ist. Der Tod Unschuldiger – die Detonationen gelten türkischen Militärs oder Polizisten in den Städten - wird von diesem undurchsichtigen Märtyrer-Racket miteinkalkuliert.

Zwischen den suizidalen Massakern in Suruç und Ankara folgte eine Lynchkampagne in nahezu allen türkischen Provinzen. Unter nationalistischem Gebrüll gingen Provinzbüros der Halkların Demokratik Partisi in Brand auf. Die Aufhebung der Immunität für ihre Abgeordneten steht lediglich am Ende einer alsbald einjährigen Rache an der Partei der Abtrünnigen. „Sie sind Atheisten, sie sind Zoroastrier“, denunzierte Erdoğan sie jüngst - und alle anderen, die er für selbiges hält: die Guerilla, die säkulare Jugend und kritische Intellektuelle. Auch der türkische Boulevard titelt inzwischen von „Zoroastriern“ und „Feueranbetern“, wenn der Staatsfeind gemeint ist. Ihre Rhetorik unterscheidet sich kaum noch von der genozidaler Jihadisten. Yeni Akit, die Krawallgazete türkischer Muslimbrüder, feierte jüngst den 50sten Toten des Massakers in Orlando: „Die Zahl der Toten in der von perversen Homosexuellen frequentierten Bar stieg auf 50!“ Sie und die genozidalen Jihadisten von Daʿish sind sich Brüder im Geiste.

Die Despotie der Muslimbrüder unter ihrem „Vater“ Tayyip Recep Erdoğan hat das türkische Staatsdogma - jede empirische Uneinigkeit als eine perfide Intrige anderswoher auszumachen – modifiziert. Sie amalgamiert die nationalen Opfermythen und Staatsgründungslegenden, die für sich allein ein einziges Arsenal an Ideologie und Paranoia sind, mit den Symptomen jener narzisstisch Gekränkten, denen die Erniedrigung und Verächtlichmachung der Menschen allein Grund ist, die Erniedrigung und Verächtlichmachung der Menschen zu perfektionieren, jener also, die Rache an dem Leben und allem, was noch irgendwie an die Möglichkeit von individuellem Glück erinnert, nehmen: den zum Jihad Erweckten.

Die türkische Staatsfront integriert, wer Mündigkeit in Unterwerfung abstreift, die eigene unter den Vater, den Apparaten und Gott, und noch mehr die der anderen, demütigend, erniedrigend, rächend. Die Kleingeistigkeit und Weinerlichkeit der eigenen Existenz gelangen in der Vaterfigur Tayyip Recep Erdoğan zur Erhabenheit über die Intrigen der Moderne. Die Personifikationen von der Nicht-Identität sind dabei auch nach 1915 dieselben: Während auf den zerschossenen Fassaden in den eingeschlossenen Distrikten des Südostens der Mordauftrag der türkischen Staatsfront aus Grünen und Grauen Wölfen prangt: „Armenische Bastarde“, spürt der paranoide Boulevard hinter der Guerilla getarnte Armenier auf und brodelt das Gerücht, die PKK schleuse ihre Kämpfer ins armenische Bergkarabach.

Die syrische Katastrophe ist längst um den türkischen Südosten erweitert. Nusaybin und Yüksekova, Cizre und Sur sind kaum noch zu unterscheiden von Halep und Homs. „Liebe lebt man in Bodrum, meine Hübsche“, Aşk Bodrumda Yaşanıyor Güzelim, besang Bülent Serttaş, eine der Diven der türkischen Kulturindustrie, im vergangenen Jahr das mediterrane Städtchen, das heißt wie das türkische Wort für „Kellergebäude“. Ein Brandmord machte ein halbes Jahr später „Aşk Bodrumda Yaşanıyor Güzelim“ zum Freudengesang der türkischen Konterguerilla. Im militärisch abgeriegelten Cizre harrten junge Militante tagelang unter den Einschlägen der türkischen Artillerie in Kellergebäuden aus. Mehr als hundert Menschen verbrannten, erstickten oder begrub einstürzender Beton unter sich. „Liebe lebt man im Keller, meine Hübsche“ ist eine der Reviermarkierungen der türkischen Konterguerilla, die als Schriftzüge an den zerschossenen Fassaden von Cizre prangen. Vor dieser Hymne an den Verbrennungstod salutieren Polizisten siegestrunken mit Wolfsgruß.

Indessen wird in Diyarbakır-Sur, das mehr als hundert Tage lang militärisch abgeriegelt blieb, der faschistische Soundtrack zur Straßenschlachtung eingesungen und nicht allein die gnadenlose Authentizität unterscheidet sich von Frankfurt-Sossenheim und anderen Kulissen faschistoidem Rap. Wo zuvor noch die Drohung durch den Präzisionsschuss jede Bewegung in den Sträßchen und schmalen Gassen des historischen Stadtkerns verunmöglichte, streift nun ein camouflierter Polizeioffizier als Lone Wolf durch die Ruinen von Sur umher, ehrt die gefallenen Märtyrer der Jandarma und geriert das Vaterland als Opfer perfider Verschwörung listiger Armenier, Griechen und Juden. Verschwörungsparanoia als türkische Staatsdoktrin.

Auf Straßenschlachtung und erzwungener Flucht folgt Enteignung. Hunderte Gemarkungen, einschließlich die schwerbeschädigte St. Giragos Kathedrale, werden in Sur, dem historischen Diyarbakır, verstaatlicht. Das sanierte Sur, das in einem Imagefilm präsentiert wird, hat jede Erinnerung, die nicht in den neo-osmanischen Staat integriert werden kann, ausgelöscht. Was bleiben soll, sind Satellitenstädte, deren Funktionen allein im Interesse des neo-osmanischen Größenwahns liegen, das heißt: die moralische Erbauung in einer der restaurierten Moscheen unter strenger Kontrolle des Religionsministeriums, die Stimulation der Gebärmaschinerie – Kinderlosigkeit ist „Verrat an der Nation“ (Erdoğan) – sowie eine Ökonomie, die vor allem noch durch den korrupten Pfuhl des Immobiliensektors angereizt wird. Derselbe Kahlschlag geschieht in diesen Tagen auch in Cizre-Nur, der „Liebe“ der Konterguerilla.

Zwanghaft spricht die Despotie der Muslimbrüder vom Erobern. Am letztjährigen 562. Jahrestag der Eroberung Konstantinopels posaunte es aus Erdoğan: „Eroberung heißt Mekka. Eroberung heißt Sultan Saladin, heißt es, in Jerusalem wieder die Fahne des Islams wehen zu lassen." Im Erobern besteht schlussendlich der Staatsauftrag an die Jugend. „Ihr seid die Generation, die Damaskus und Jerusalem erobern wird“, peitschte es auf die anwesende Jugend ein. Istanbuls Schuldirektionen waren unter Drohung angehalten, Kontingente an Schülern zum Jahrestag aufzustellen. Was unter Eroberung wesentlich zu verstehen ist, führte Erdoğan, der von seinen Hörigen sanft „Sohn von Mehmed Fatih, dem Eroberer“ gerufen wird, im Jahr 2009 im schweizerischen Davos, der Luxusmarke internationaler Diplomatie, vor. Erdoğan forderte während einer Diskussion hysterisch eine weitere Minute ein, um den anwesenden Shimon Perez vorzuhalten, dass Morden eine jüdische Spezialität sei. Nachdem Erdoğan mit dem Ägypter Amr Moussa bereits 34 Minuten gegen Israel gehetzt hatte und aus der weiteren herausgeschlagenen Minute mehrere geworden waren, stand Erdoğan abrupt auf, drückte die Hand des Generalsekretärs der Arabischen Liga und verließ die Debatte. Wieder in Istanbul angekommen, wurde er von seinem Brüllvieh als „Eroberer von Davos“ begrüßt. In seinem Wesen ist das Beschwören von Eroberung der antisemitische Ritus, sich selbst als verfolgende Unschuld zu gefallen. „Ihr könnt euch noch so anstrengen", rief Erdoğan auf dem besagten Jahrestag der Eroberung Konstantinopels, „ihr werdet uns nicht dazu bringen, auf unsere erste Qibla zu verzichten.“ Die erste Qibla, die Ausrichtung des Gebetes der Muslime, war Jerusalem, erst nach der Auswanderung des Propheten nach Medina änderten sie diese gen Mekka. Diese Weinerlichkeit, die in Trotzt umschlägt, und der zwanghafte Reflex, jede innere Uneinigkeit als Kabale von außen zu exorzieren, verraten: sie projizieren ihr aggressives Inneres auf ein Äußeres.

Darin liegt das Wesen antiimperialistischer Ideologie – und es ist die Schwäche der organisierten Opposition, dass nicht wenige aus ihr die nationale Borniertheit, den antiimperialistischen Reflex, teilen. Die traditionelle KP demonstriert unter dem Banner „Kein Durchmarsch der Shariah, dem Faschismus und der Dunkelheit“, um dann doch vor den Konsequenzen einer Kritik der türkischen Ideologie zu flüchten: „Frömmelnder, Geldbesessener, Amerikanist. Du bist nicht die Türkei“. Opposition entscheidet sich in der Türkei vor allem dort, wo es den türkischen Gründungsmythos trifft. Die türkische KP spricht wenigstens von 1915 als einem Genozid – auch wenn ihre Kritik allein der türkischen Bourgeoisie als Profiteur der ökonomischen Islamisierung gilt -, die mit ihr verwandte Halkın Kurtuluş Partisi, die „Partei der Volksbefreiung“, dagegen demonstrierte in aller Dreistigkeit am 24. April, dem Jahrestag der armenischen Katastrophe, gegen die Genozidlüge. Die strenglaizistische Vatan Partisi ist so konsequent und erklärt wider die Teilung des Vaterlandes die Einheit mit den „religiös Konservativen“ Erdoğans zur „patriotischen Front“.

Das Gedenken ist bei denen am entschiedensten, die längst das Phantasma der armenischen Verschwörung zu inkarnieren haben. So trugen die Familienangehörigen von der Konterguerilla "Verschleppter", die sich wider die zwangsverordnete Amnesie wöchentlich auf dem Istanbuler Galatasaray Meydanı treffen, Fotografien jener Armenier, die am 24. April 1915 in Istanbul verhaftet und ins anatolische Hinterland deportiert worden sind. Özgür Gündem erinnerte auf der Titelseite an den Genozid und denunzierte das Regime Erdoğans in der mörderischen Tradition der osmanischen Despotie sowie des Türkisierungsregimes des jungtürkischen İttihat ve Terakki Cemiyeti. Und auch die Halkların Demokratik Partisi gedachte dem Genozid, ihr Abgeordneter Garo Paylan, ein Armenier aus Istanbul, hielt die Ansprache. In den Bücherstuben von Diyarbakır etwa ist Literatur über den Genozid, die unzähligen 'verschwundenen' armenischen Dörfer in Kurdistan sowie die Zwangsislamisierung Überlebender omnipräsent. Die anatolischen Armenier lebten vor 1915 vor allem auch im heutigen türkischen Osten.

Tayyip kaç kaç kaç, ibneler geliyor
Tayyip, so viele, so viele, so viele Schwuchteln kommen“
(Protestruf gegen Erdoğans Geburtendiktat)

Das Schänden von Leichen, das demonstrative Hissen der türkischen Flagge auf Ruinen, die Selbstporträts der Konterguerilla vor zertrümmertem Mobiliar, die Unterwerfungsaufforderungen an den Fassaden - die andauernden Militäraktionen im türkischen Südosten werden durchgeführt als Eroberungszüge, als Demütigung und Rache. „Es gibt nur einen Gott und seine Armee ist die türkische“, wie es auf einer Fassade in Nusaybin prangt, ist die Drohung, alles Andere zu unterwerfen. Es ist nicht „ein Volk ohne Staat“ oder eine andere deutsche Projektion, womit solidarisch zu sein wäre. Es ist die alltägliche individuelle und kollektive Unternehmung, die Aggression, die in ihrem Wesen eine antiuniversalistische ist, zu kontern. Und nicht, dass der türkischen Katastrophenpolitik kein Widerstand mehr entgegengebracht wird. Nachdem jüngst Ismail Kahraman, Präsident der Nationalversammlung und islamistischer Veteran aus der antilaizistischen Bewegung Millî Görüş, die völlige Entsäkularisierung der türkischen Verfassung – noch steht das Gebot der Trennung zwischen Politik und Religion als laizistisches Rudiment - forderte, demonstrierten jene, die wissen, was ihnen droht: "Schulter an Schulter gegen die Sharia" (Şeriata karşı omuz omuza). In säkularen Stadtvierteln von Istanbul, Ankara und anderswo werden die enthemmter auftretenden Religionsrackets noch auf Distanz gehalten. In Izmir kontern junge Menschen das Diktat Erdoğans zur Produktion von Menschenmaterial mit dem Slogan: „Tayyip, so viele, so viele, so viele Schwuchteln kommen“. Doch während die İHH, die 'humanitäre' Flanke von Hamas und Ahrar al-Sham, an manchen Universitäten in die Kritik im Handgemenge gezwungen und die tugendterroristische Sitte von der Straße gedrängt werden, können sie an den staatlichen Gymnasien der İmam hatip lisesi zu Gedächtnisabenden für die Märtyrer der Khaybar-Flottille laden.

Eine der noch harmlosesten Angriffe auf die Halkların Demokratik Partisi spricht in aller Deutlichkeit aus, was der Türkei noch droht und vor allem womit solidarisch zu sein wäre. In der letzten Ausschusssitzung der Nationalkammer vor der Immunitätsaufhebung wollte ihr Abgeordneter Mithat Sancar in seiner Ansprache Oscar Wilde, kommunistischer Müßiggänger und homosexueller Dissident, aus dessen Klassiker „Dorian Gray'in Portresi“ zitieren, doch ein Parteigänger Erdoğans nach dem anderen unterbrach ihn: "Wer? ... Hä? Wer ist das denn? ...Herr Sancar, haben Sie kein Zitat aus dieser Kultur, aus dieser Zivilisation? ... Kannst du Necip Fazıl zitieren? Bring ein Zitat aus dieser Zivilisation! ... Was uns wehtut, ist, dass du von dieser Zivilisation so entfremdet bist.“ Necip Fazıl Kısakürek, Vordenker eines „Islamischen Großen Ostens“ unter türkischer Führung, schrieb mit Yahudilik-Masonluk-Dönmelik, „Judentum-Freimaurerei-Wendehalsigkeit“, die türkische Variante der „Protokolle“. In seiner Schrift Doğru Yolun Sapık Kolları, „Die irrigen Abweichungen vom rechten Pfad“, von 1978 – dem Jahr antialevistischer Pogrome in Kahramanmaraş und anderen anatolischen Provinzen - empfiehlt er, die religiösen Minorität der Aleviten wie Unkraut herauszureißen.

Keineswegs hätte es noch die jüngste Hysterie um die deutsche Resolution zum Genozid an den anatolischen Armeniern bedurft, um mehr als nur eine Ahnung zu bekommen von der Penetranz türkischer Ideologie. Die deutsche Politik bot – und bietet weiterhin - den türkischen Muslimbrüdern als auch den Völkischen mehr als nur eine Flanke für ihren aggressiven Zugriff auf die türkische Diaspora. Mit Anbeginn des Importes von Menschenmaterial aus Anatolien, das hemmungsloser als das autochthone aufgerieben wurde, weil es als unumstößlich galt, dieses alsbald wieder abzuschieben, installierte sich ihre Ideologie als sozialer Kontrollapparat. In der Fabrik garantierte die deutsche Direktion das auf die Kniefallen, solange dieses davon abhielt, sich gegen die Despotie der Fabrik zu erheben. Spätestens mit dem Mord an den Kommunisten Celalettin Kesim in Berlin-Kreuzberg im Januar 1980 ist jede Täuschung über den faschistischen Charakter Grauer und Grüner Wölfe sträflich. Die Häscher wurden mit kulturrelativistischer Sensibilität bedacht, der Ermordete mit Ignoranz und rassistischer Verachtung. Die Moschee in der Skalitzer Straße, aus der die Mörder kamen, wurde knapp zwanzig Jahre später die Verantwortung für die Unterrichtung Berliner Schüler im Islam zugetragen. Diese und andere Moscheen der anti-laizistischen Bewegung in den Staat Millî Görüş fungierten in den Jahren der Gründung der AK Parti Erdoğans vor allem auch als Märkte für Anteile an „Islamischen Holdings“, dem ökonomischem Fundament der Staatsinfiltration der Muslimbrüder in der Türkei.

Europäer und US-Amerikaner ließen die syrische Opposition mit den türkischen Muslimbrüdern allein. Inzwischen beschriften panturkistische Brigaden in Halep ihre Artilleriegeschosse mit den Namen ihrer ideologischen Ahnen: Enver Paşa, jungtürkischer Mitorganisator des Genozids an den anatolischen Christen, etwa oder Muhsin Yazıcıoğlu, Gründer der „Partei der Großen Einheit“ und Hauptinitiator des antialevitischen Pogroms von Kahramanmaraş im Jahr 1978. Wer in diesen Tagen in Azaz oder den Ruinen von Haleb überwiegend präsent ist, laviert zwischen traditioneller al-Qaida, Grünen und Grauen Wölfen. Wie im türkischen Boulevard werden ihre Feinde als „Majus“, „Feueranbeter“ und „Ungläubige“ denunziert. Die PKK gilt ihnen als Nachfolgeorganisation der Haganah. Die europäisch-türkische Aggression gegenüber Flüchtenden dagegen widersteht noch allen narzisstischen Kränkungen. Mit Push-backs direkt an der türkisch-syrischen Grenze und Abschiebungen in jene syrischen Territorien, die von Ahrar al-Sham, Jabhat al-Nusra und anderen rabiaten Menschenfeinden kontrolliert werden, werden al-Qaida und ihre Offshoots zu verlängerten Funktionsträgern der europäisch-türkischen Migrationsregulierung, die Despotie der Muslimbrüder zum key player. Inzwischen verständigt  sich die Türkei auch mit Daʿish bei der Fluchtverhinderung. Während die genozidalen Jihadisten jeden auffordern, in den von ihnen eingenommen Territorien auszuharren, nimmt das türkische Grenzmilitär diejenigen in sein Visier, die dem nicht nachkommen und sich der Grenze nähern.

Die türkischen Muslimbrüder wissen die Flüchtenden aus dem syrischen Abgrund für ihre ganz eigenen Zwecken zu funktionalisieren. Sie – nicht die konkreten Menschen, viel mehr der Schatten der syrischen Katastrophe, der auf ihnen liegt - dienen dem Regime als Drohung an die letzten Minoritäten in Anatolien. In Sivricehöyük in der Provinz Kahramanmaraş liegend sowie in Sivas-Divriği und Tunceli-Mazgirt verfolgt das Regime die Ansiedlung einiger tausend syrischer Geflüchteter inmitten der verbliebenen alevitischen Gemeinden. Gerüchte - der um sich greifenden Angst geschuldet - kursieren, es seien Familien der Jabhat al-Nusra und Daʿish. In Kahramanmaraş ermordeten im Jahr 1978 Graue Wölfe weit über hundert Aleviten. In der Propaganda der Idealisten und mancher Imame galten sie als „kommunistische Agitatoren“, „Ungläubige“ und „Moscheeschänder“. In Sivas verbrannte eine islamistische Rotte im Jahr 1993 die Gäste eines alevitischen Kulturfestivals unter dem Gebrüll „Muslimische Türkei“ und „Die laizistische Republik erstand in Sivas, in Sivas wird sie gestürzt“.

Nefrete inat yaşasın hayat
Wider der Hass es lebe das Leben“
(Solidaritätsadresse der HDP an die Ermordeten und Hinterbliebenen des Orlando Massakers)

Anzustehen hat die fundamentale Aufklärung über die Residuen individueller und kollektiver Widerstände gegen die Faschisierung der Türkei - und die konkrete Solidarität mit ihnen. Kaos GL Derneği, eine Solidaritätsvereinigung von Homo- und Transsexuellen in der Türkei, spricht von einer genozidalen Politik gegenüber sexuellen Minoritäten in Syrien, Irak und anderswo. Und auch die Halkların Demokratik Partisi, die sich ausdrücklich auch als Organisationskern für Betroffene tugendterroristischer Verfolgung wie Homo- und Transsexuelle versteht, spricht von Orlando als Universalisierung einer „faschistischen Mentalität“, die religiöse Minoritäten, Frauen und Homosexuelle mit dem Tod droht. Die Männerrotte der faschistischen „Partei der Großen Einheit“ verspricht indessen, den diesjährigen Istanbul Pride, der den Ermordeten von Orlando gewidmet ist, zu zerschlagen. Wenn der Staat nicht diese „Ehrlosigkeit“ während des Fastenmonats Ramazan untersagt, so die Gewaltandrohung der Grünen Wölfe, übernehmen wir es selbst. Vergangenes Jahr erstickte der Pride im Reizgasnebel, polizeilich organisierte Kommandos an bärtigen Männern lauerten in den Nebengassen, einzig die Anwesenheit von Abgeordneten der Halkların Demokratik Partisi und der traditionslaizistischen Cumhuriyet Halk Partisi gewährten einige Minuten ohne Verfolgung. Infolge der Immunitätsaufhebung droht auch diese Flanke genommen zu werden. Im dezidiert säkularen Izmir wurde jüngst der Pride durch den von Ankara berufenen Provinzgouverneur aufgrund von „Propaganda für eine terroristische Organisation“ gebannt. Einige hundert Menschen trotzten der Kriminalisierung und riefen das Gröbste einer Opposition gegen Hass und Angstproduktion der Muslimbrüder: Aşk, aşk, hürriyet; uzak olsun nefret („Liebe, Liebe, Freiheit; fern von Hass“). 

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