Die
Erweiterung der syrischen Katastrophe um den türkischen Südosten
begann spätestens in Suruç, dem türkischen Grenzstädtchen
gegenüber Kobanê. Hier riss am 20. Juli 2015 eine suizidale Bestie
jene mit in den Tod, die die Menschen hinter der Grenze nicht den
Ruinen oder dem türkisch-griechischen Toten Meer überlassen
wollten. Nach dem Massaker an den jungen Oppositionellen beschworen
die türkischen Muslimbrüder, dass kein Unterschied zwischen Daʿish,
so das arabische Akronym des „Islamischen Staates“, und den
Ermordeten existiert. In Ankara, wo der suizidale Tod als nächstes
zuschlug, schoss die Polizei Reizgasgranaten in die Überlebenden.
Die Toten, Freunde der oppositionellen Halkların Demokratik Partisi,
waren längst als Abtrünnige des Vaterlandes ausgemacht, die
Staatsfront aus Grünen und Grauen Wölfen stand. Zwischen den
Massakern in Suruç und Ankara folgte eine Lynchkampagne in nahezu
allen türkischen Provinzen. Unter nationalistischem Gebrüll gingen
Provinzbüros der Halkların Demokratik Partisi in Brand auf.
Im
Jahr danach: Die Beerdigung von Kumru İlter und Ahmet Toraman, beide
Tote des jüngsten suizidalen Massakers im türkischen Gaziantep in
der Nacht zum 21. August, wird attackiert unter
dem Gebrüll „Allahu ekber“. Die Provokateure – manche von
ihnen tragen das Emblem jener von der AK Parti gehaltenen Kommune in
Gaziantep, in der das Massaker trotz allen konkreten Vorwarnungen
geschehen konnte – wollen den Trauernden die türkische Flagge
aufzwingen. Doch die Hinterbliebenen drängen die Aggressoren ab, sie
rufen ihnen entgegen: „Kurdistan wird das Grab des IS sein“ und
„Mörder IS, Mittäter AKP“. Nach dem suizidalen Massaker in
Gaziantep beschwört die türkische Staatsfront, inzwischen erweitert
um die laizistischen Nationalisten Mustafa Kemals, die Identität von
Daʿish, FETÖ und den Abtrünnigen jenseits der türkischen Grenze,
in Syrisch-Kurdistan. Wenig später marschiert türkisches Militär
in Syrien ein, verbrüdert mit jihadistischen
Warlords,
die unverhohlen drohen, Kobanê als ihr „Ayn al-Islam“
einzunehmen – also ganz so wie Daʿish in Abgrenzung zum
arabisierten Namen der Stadt „Ayn al-Arab“, wie sie noch unter
Bashar al-Assad hieß.
Der
Einmarsch nach Cerablus ist mit Zekai Aksakallı einem der standhaften Beschützer der
Demokratie der Märtyrer aufgetragen, der am Abend des 15. Juli, als
abtrünnige Militärs sich gegen die Muslimbrüder erhoben, die
standrechtliche Hinrichtung eines Brigadegenerals anordnete. Während
das Auswärtige Amt in der deutschen Tradition der Beschwichtigung
von der türkischen Sorge „über die Präsenz von IS“ entlang der
türkisch-syrischen Grenze faselt, präsentiert die
mit den syrischen Muslimbrüdern affiliierte Faylaq al-Sham, eine der
islamistischen Koalitionäre der türkischen Militärs, die Beute:
jene Säkularen, die noch kürzlich Manbij von Daʿish befreit haben.
Nicht, dass
es zuvor Hoffnung gegeben hätte in ein Militär, das unter „Frieden
im Land“ alles andere als ein Ende der Staatsfront im Südosten
versteht, wo es mit einer Parallelstruktur aus Grauen und Grünen
Wölfen wie den berüchtigten Esedullah, den „Löwen Allahs“, aus
Cizre, Nusaybin und Sur-Diyarbakır eine einzige Ruine gemacht hat
und wo auf den zerschossenen Fassade die Morddrohung prangt: „Es
gibt nur einen Gott und seine Armee ist die türkische“. In Ägypten
traf das Militär während der Entmachtung der Muslimbrüder um
Muhammed Mursi noch auf die salafistische al-Nour Partei als
Kollaborateurin. In der Türkei dagegen sind die
religionsfaschistischen Rackets geeint im Hass auf ein Militär, das
der Islamisierung viel zu lange Grenzen aufzwang – und diese ab dem
Jahr 1980 selbst aber nach eigenem Ermessen ausweitete.
Was das
Europa der Kumpanei und Beschwichtigung zunächst für einen „Sieg
der Stabilität und der demokratischen Institutionen“ hielt, ist in
aller Konsequenz die Verdichtung einer noch viel bedrohlicheren
Staatsfront: die Tilgung der letzten etwaigen Abtrünnigen in Militär
und Justiz und die freie Assoziation der Freiheitsfeinde. Dabei war
und ist die antilaizistische Kontrarevolution alles andere als eine
geeinte Bewegung. Ende der 1970er Jahre radikalisierte sich das
Milieu der Millî Görüş, die ein tausendjähriges Millet, die
Nation geboren aus einem Glauben, beschwor. Inspiriert von der
„Islamischen Revolution“ im Iran, wurde ihre Strategie der
stillen Infiltration des Staatsapparats unter Umgehung einer
frontalen Konfrontation von einigen als Verrat am Islam abgetan. Im
türkischen Osten gründete sich unter sunnitischen Bewunderern des
Imams Khomeini die Hizbullah, die unkeusche Frauen mit Säure
verätzte und Abtrünnige zu Hunderten ermordete. Sie diente sich dem
Staat als Konterguerilla an, der sie gnadenlos zerschlug, als sie
darüber hinausging. Der Sohn ihres Mitbegründers Hacı Bayancuk
avancierte später zum Emir des „Islamischen Staates“ in der
Türkei.
Von der
militanten Jugend der Millî Görüş, zu der auch der junge Recep
Tayyip Erdoğan gehörte, spaltete sich zu Beginn der 1980er Jahre
die „Front der Vorkämpfer für den Islamischen Großen Osten“,
İBDA-C, ab. Sie beansprucht für sich – neben al-Qaida –, die
Massaker vor den Synagogen Istanbuls im Jahr 2003 verbracht zu haben.
Auch sie zerschlug der noch nicht islamisierte Staatsapparat. Die
İBDA-C beruft sich wie Recep Tayyip auf den Vordenker des „Großen
Islamischen Ostens“, Necip Fazıl Kısakürek. Ihr Gründervater
Salih Mirzabeyoğlu – das Regime der AK Parti entließ ihn aus
lebenslänglicher Haft – widmete ihm die zweibändige Schrift
Kavgam - Necip Fazıl, „Mein Kampf – Necip Fazıl“.
Eine der
Fronten des „Islamischen Großen Ostens“ ist die syrische Hölle.
Militante der Müslüman Anadolu Gençliği, der legalen
Nachfolgeorganisation der İBDA-C, ergänzen die Reihen der Brigaden,
in denen sich panislamische mit panturkistischer Ideologie vereint.
Auch Grüne Wölfe aus der „Partei der Großen Einheit“ kommen im
bergigen Norden von Latakia ihren turkmenischen Brüdern bei. In der
Türkei drohten beide unlängst, den Istanbul Pride der „Perversen“
zu verhindern, wenn der Staat nicht diese Ehrlosigkeit untersage. Der
Staat folgte der Drohung und hetzte diejenigen, die nicht dem Verbot
nachkamen.
Die
berüchtigste unter den panturkistischen Brigaden in Syrien trägt
stolz den Namen jenes Sultans, dem die Verehrung aller türkischen
Neo-Osmanen gilt: Abdülhamit, mit dem sich der islamistische
Opfermythos in seiner türkischen Variante begründet. Im Jahr 1909 zerschlugen jungtürkische Militärs eine Erhebung gegen das
konstitutionelle Regime und zwangen Abdülhamit, dem die
Revoltierenden als absolutem Herrscher die Treue schworen, ins
Exilarrest. Die osmanische Topçu-Kaserne, von der die sultanstreuen
Soldaten für Şeriat und Şah aufbrachen, überstand diese Tage nur
schwer beschädigt. Sie wird schließlich im Jahr 1940 ganz
abgerissen. Die Türkische Republik gewährt auf einer Teilfläche
den Menschen ein wenig Muße inmitten des Betons: den Gezi Park.
Wie
die AK Parti die größeren und kleineren Rackets der
türkisch-islamischen Synthese mehr und mehr verüberflüssigt, indem
sie ihr Milieu in sich aufnimmt und folglich auch Neid und
Verdächtigungen unter den Unterlegenen in der Konkurrenz provoziert,
rehabilitiert sie jene, die nie darüber täuschten, eine Islamische
Republik terroristisch zu erzwingen. Gegen das Militär als
Wiedergänger der Feinde des Sultans Abdülhamit sind sie sich alle
eins. Im türkischen Osten führte die Hür Dava Partisi, die legale
Nachfolgeorganisation der Hizbullah, die Solidaritätsmärsche mit
den Muslimbrüdern an. Ihr folgten die Saadet Partisi, die für sich
beansprucht, die Lehre der Millî Görüş am reinsten bewahrt zu
haben, sowie die İHH, der „humanitäre Flügel“ des syrischen
Jihads, die sich zuvor noch erboste über die jüngste Moderarität
Erdoğans gegenüber Israel. Auf dem Taksim Meydanı, einst Symbol
der Überlegenheit der Laizisten, marschierten die Gläubigen des
İsmail Ağa Cemaat auf, ein fundamentalistisches Tarikat, das aus
dem Mahalle Çarşamba, woraus ihre Hörigen anderntags nicht
herauskommen, ein kleines Talibanistan in Istanbul gemacht hat.
Militante der İBDA-C, die ungehindert zwischen Istanbul und Idlib
reisen, posierten -
noch nicht ganz in Battalionsstärke - vor Panzergefährten. Und
alles andere als zufällig beschwor Recep Tayyip in den Tagen
demokratischer Spontanität, die osmanische Topçu-Kaserne am Taksim
Meydanı zu rekonstruieren.
Bei allen
Unterschieden, wo es entscheidend ist, nähert sich die türkische
Katastrophenpolitik – auch in den geopolitischen Konstellationen –
der iranischen Katastrophe mehr und mehr an. In der Demokratie der
Märtyrer, die die Muslimbrüder begründen, ist das türkische
Militär vom Garanten des formal-laizistischen Charakters der
Republik heruntergebracht auf eine bloße Funktion, es wird mehr und
mehr ausgehöhlt durch einen militarisierten Polizeiapparat, der
zugleich als ideologische Agentur fungiert, sowie durch eine
wirkliche Parallelstruktur aus nationalchauvinistischen Männerrotten
wie den Osmanlı Ocakları, der türkischen Variante der berüchtigten
Basij im khomeinistischen Iran. Ein enger Vertrauter und persönlicher
Berater Erdoğans, der pensionierte General Adnan Tanrıverdi,
scharrt heute in seinem Unternehmen „Sadat International Defense
Consulting“ Soldaten um sich, bei denen Ende der 1990er Jahre noch
auf den Verdacht, den laizistischen Charakter der Republik zu
beargwöhnen, konsequent die Exkommunikation aus der türkischen
Armee folgte. Seine Unternehmensphilosophie bestehe nach Eigenaussage
darin, den islamischen Staaten – unter türkischer Führung,
versteht sich – darin behilflich zu sein, die Abhängigkeit von den
„imperialistischen Kreuzfahrern“ zu beenden. Zuständig für
politische Analyse ist bei Sadat ein Herr Abdurrahman Dilipak,
Agitator der fundamentalistischen Gazete Yeni Akit. „Sadat“ ist
die Pluralform von Seyyid, dem Ehrentitel für diejenigen, die als
Nachkommen Mohammeds und seines Enkels Husain gelten. Im Südosten
ist Sadat, dem Aktienrecht unterliegend, in die Konterguerilla
integriert, ihr wird auch militärisches Training von Kadern der
Hizbullah und Militanten aus der syrischen Hölle nachgesagt. Die
Oppositionelle Sebahat Tuncel von der Halkların Demokratik Partisi
berichtete, dass im Distrikt Lice ihr Personal einzig allein durch
einen Offizier der offiziellen Armee an der extra-legalen Hinrichtung
von „Kollaborateuren der Kreuzfahrer“ abgehalten wurde - aber
auch einzig nur aus dem Grund, da der Offizier bereits zuvor die
Verhaftung der Verdächtigten an den nächst höheren Rang gemeldet
hatte.
Nicht, dass
es noch Hoffnung gegeben hätte in ein anachronistisches Regime in
der Tradition Mustafa Kemals, das mit der Erweckungsbewegung der
türkisch-islamischen Synthese eines teilt: dass das konstitutive
Moment der türkischen Nation der Genozid an den Anderen ist - und
dessen Leugnung einhergeht mit Selbstviktimisierung, pathischer
Projektion und Paranoia. Dass die Muslimbrüder nicht die
Traditionslaizisten der Intrige beschuldigen, vielmehr ein
rivalisierendes antilaizistisches Tarikat, spricht dafür, dass sie
die Racketisierung des islamisierten Staatsapparats mehr fürchten
als die „Soldaten Mustafa Kemals“. Nicht ganz ohne Grund.
Fethullah Gülen, der exilierte Imam aus dem ostanatolischen Erzurum,
entkroch als Agitator und Imam demselben Milieu der
türkisch-islamischen Synthese wie seine heutigen Denunzianten. Wie
die Vordenker der Millî Görüş verfolgte er eine schleichende
Infiltration des Staats. Der sanfte Coups des Militärs gegen den
Muslimbruder Necmettin Erbakan und die Kriminalisierung seiner
Parteien – es langte noch ein demonstrativer Korso des Militärs
durch Sincan, wo zuvor Parteigänger Erbakans eine Islamische
Republik gefordert hatten, sowie eine noch nicht islamisierte Justiz
– bedrohte auch Fethullah Gülen, der im März 1999 sein Exil
antrat. Anders als Gülen verließ Erbakans Schüler Recep Tayyip
sein Vaterland nicht, auch wenn er im Jahr 1998 selbst noch vor
Gericht stand – für Worte, die heute in jeder seiner
staatsmännischen Ansprachen vorkommen können: „Die Moscheen sind
unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere
Helme und die Gläubigen unsere Soldaten“. Als zwingende Konsequenz
der zermürbenden Konflikte mit den Militärs gründete Recep Tayyip
mit Weggefährten wie Abdullah Gül und Bülent Arınç im Jahr 2001
die AK Parti als Reformpartei, mit der das Stigma der
antilaizistischen Provokationen und frontalen Konfrontationen mit dem
Traditionslaizisten verdeckt werden sollte.
Über die AK
Parti gelangten auch weitere Hörige des exilierten Imams Fethullah
in den Staatsapparat, vor allem in Justiz und Polizei, von wo aus sie
eine Hexenjagd gegen Traditionslaizisten und pensionierte Generäle
als vermeintliche Intriganten einer Parallelstruktur im Staat
begannen. Nach der Verfeindung zwischen Recep Tayyip und den Getreuen
des exilierten Imams und dem Hinausdrängen letzterer aus den
Apparaten entließ die Justiz die verdächtigten Verschwörer nach
für nach; manch einer von ihnen schwor danach dem Regime die Treue,
wie etwa Doğu Perinçek von der laizistisch-ultranationalistischen
Vaterlandspartei. Zugleich denunzierte Recep Tayyip nun seine
verbliebenen traditionslaizistischen Kritiker aus dem Establishment
als Intriganten einer Parallelstruktur, als Mitverschwörer des
exilierten Imams, wie etwa die mächtige Dogan Media Group. Heute ist
die zu ihr gehörige Hürriyet in die Staatsfront integriert, über
CNN Türk rief Recep Tayyip am Abend des 15. Juli zur demokratischen
Spontanität auf, während ihren Korrespondenten in Istanbul und
Ankara drohte, von der Straßenrotte gelyncht zu werden.
Wer mit wem
sich gegen wen verschwört, ist aber auch nicht entscheidend.
Wesentlich an der türkischen Katastrophe sind die Mechanismen, in
denen die nationale Einheit reproduziert wird und die
Traditionslaizisten die Opposition verraten. Die ehrwürdige
Cumhuriyet Halk Partisi, die in den westtürkischen Provinzen entlang
der Ägäis mit der Großstadt İzmir den Religiösen noch überlegen
ist, desavouiert sich selbst als Opposition. Was vom Meeting der
Cumhuriyet Halk Partisi am Taksim Meydanı am 24. Juli, das in Anzahl
der Siegestrunkenen jenes der Muslimbrüder noch übertraf, und ihrer
Teilnahme an dem faschistischen Spektakel der Staatsfront auf dem
Yenikapı Meydanı bleibt, ist die geteilte Mystifizierung des 15.
Juli als demokratische Erhebung der Volksmassen. Die historischen
Partei Mustafa Kemals erinnert ein wenig an jene iranischen
Säkularen, die aus der „Islamischen Revolution“ zwanghaft eine
Volkssouveränität herausschälten, als die Verfolgung aller
Verschiedenheit längst auch sie bedrohte. Der zentrale Ruf ihrer
Parteigänger, „Die Türkei ist laizistisch und bleibt
laizistisch“, wird so zur Täuschung darüber, dass die Türkei
einzig noch in Residuen laizistisch ist und auch diese akut bedroht
sind. Die demokratische Spontanität, auf Befehl des Führers hin und
kommuniziert durch die Moscheen, ist nicht zu abstrahieren von der
gnadenlosen Rache, die auf sie folgte. Die Traditionslaizisten
müssten es eigentlich wissen: In den Folgetagen des 15. Juli wurde
ihr jüdischer Parteigenosse Cemil Candaş in Istanbul-Şişli
ermordet, der Mörder ist weiterhin flüchtig. Die İBDA-C, so ganz
nebenbei, hatte im Jahr 1994 nach der Ermordung der Archäologin
Yasemin Cebenoyanin explizit angedroht, weitere jüdische
Intellektuelle zu ermorden.
Der
Faszination von Menschenmassen kann sich auch der ein oder andere
deutsche Korrespondent in der Türkei nicht gänzlich entziehen. Und
täuscht sich und andere über den Charakter der demokratischen
Spontanität. Die Devrimci İşçi Partisi, weniger eine Partei als ein Intellektuellenzirkel in Tradition Lew Trozkis, dagegen benennt
die Anrottungen auf den Straßen zutreffend als Schulterschluss
zwischen militarisiertem Polizeiapparat und ideologischen
Squadristen, die vielmehr den italienischen Schwarzhemden ähneln.
Die Drohung mit der Rotte integriert nunmehr alle, denen das
Phantasma vom ungeteilten Vaterland über den eigenen Verstand geht.
So brachte der traditionslaizistisch-ultranationalistische Boulevard
Sözcü jüngst das Gerücht zu
zirkulieren, dass abtrünnige Generäle und Offiziere zur PKK
desertiert seien. Die zuvor noch als oppositionell geltende Gazette
schmeichelt auch der jüngsten Männerliaison zwischen Recep Tayyip
Erdoğan und Vladimir Putin und enttarnt Europäer und US-Amerikaner
hinter den Abtrünnigen im Südosten.
Die
Katastrophenpolitik liegt also nicht darin, dass Recep Tayyip die
„Volkssouveränität“ als wesentliche demokratische Institution
zerschlüge und sich als absoluter Monarch erhöbe. Die Katastrophe
liegt in der spezifischen Reproduktion des Nationalen, die durch die
zunehmende Jihadisierung des türkischen Wahns noch weiter eskaliert.
„Sie sind Juden geworden. Sie sind Armenier geworden. Sie sind
Plünderer geworden. Sie waren nie Kinder des Vaterlandes“, war
eine der favorisierten Denunziationen der Staatsloyalen während der
Proteste um den Gezi Park. Auch heute enttarnt die paramilitärische
Männerrotte Osmanlı Ocakları, die ideologische Präsidentengarde,
Fethullah Gülen als „Armenier“, während ihm anderswo eine
„jüdische Mutter“ und ein „armenischer Vater“ nachgesagt
werden.
Die
Aufmärsche ritualisieren das Aufgehen des einzelnen Leibes in der
Nation, die Identifikation mit der Kollektivbestie. Was demonstriert
wird, ist Hörigkeit und Verachtung für das Leben. Die Gesänge,
„Sage es und wir töten, sage es und wir sterben“, mit denen das
Brüllvieh seinen Übervater in der Revolutionsnacht empfing,
sprechen für einen fundamentaleren militaristischen Coup: die
Kasernierung der Mündigkeit und den Märtyrertod als Funktion des
islamisierten Citoyens – oder eben, wie Recep Tayyip sagte, die
„Gläubigen als unsere Soldaten“. Die „Partei der Großen
Einheit“, ein paramilitärischer Rudel Grüner Wölfe, fordert
unterdessen auf großflächigen Plakatwänden die Hinrichtung der
„verräterischen Hunde“, während Kadir Topbaş, der
Molochschulze Istanbuls, die hinzurichtenden Abtrünnigen auf einem
„Gräberfeld der Vaterlandsverräter" zu beerdigen vorhat:
„Die, die vorbeigehen, sollen sie verfluchen. Jeder, der dort
hingeht, soll sie verfluchen“. In den Strafphantasien kommt der
faschistische Souverän ganz zu sich. „Wir werden sie so brutal
bestrafen, dass sie flehen werden: 'Lasst uns sterben, damit wir
erlöst werden.' Wir werden sie zwingen, uns anzuflehen“, füttert
Nihat Zeybekçi, Muslimbruder in Ministerwürden, die
vergeltungshungrige Rotte an.
Es dauert
nunmehr ein ganzes Jahr an: das Schänden von Leichen, das
demonstrative Hissen der türkischen Flagge auf Ruinen, die
Selbstporträts Siegestrunkener vor zertrümmertem Mobiliar, die
Unterwerfungsaufforderungen an den Fassaden. Die Militäraktionen im
Südosten werden durchgeführt als Reconquista, als Demütigung und
Rache. Ideologie und Militanz der Grauen Wölfe, die über die
Konterguerilla eine reale Parallelstruktur im Staat ausmachen, sind
wirkmächtiger als je zuvor und doch schrumpft ihre Mutterpartei, die
Milliyetçi Hareket Partisi, dahin. Der Muslimbruder Recep Tayyip hat
sich als der authentischere Rudelführer im Staatsracket behauptet
als der uncharismatische Parteifunktionär Devlet Bahçeli, der bei
dem Istanbuler Spektakel für „ Demokratie und Märtyrer“
wenigstens noch als Adjutant des „Oberkommandierenden“ Recep
Tayyip auftreten und der Einheitsideologie das Element „Blut und
Boden“ hinzufügen durfte: „Die Erde wird erst durch das Blut der
Märtyrer zum Vaterland“. Die Grauen Wölfe haben ihren eigenen
Opfermythos gegenüber den höheren Militärs. Das Regime des
Generals Kenan Evren ging im Jahr 1980 gegen sie ähnlich gnadenlos
vor wie gegen ihre kommunistischen Todfeinde. Die militanten
Antikommunisten fühlten sie um den Ruhm für ihren Dienst am Staat
betrogen.
Die
Muslimbrüder wollten vom ersten Tag an den Staat erobern, darüber
konnte auch der europäische Fetisch von der Stabilität nicht
täuschen. Nicht aber, dass es so kommen musste und auch nicht, dass
es unabänderlich wäre. Doch die jungen Freundinnen und Freunde, die
sich Moralprediger vom Leib halten, die tagtäglich gegen das
Abschnüren des eigenen Atems ankämpfen, sind wahrlich – und dass
vom ersten Tag an – allein gelassen. Diyarbakır, Suruç, Ankara –
der „Islamische Staat“ massakrierte Hunderte aus der säkularen
Opposition und doch blieb einzig bei einem Räuspern. Noch
unverhohlener trat diese Empathielosigkeit zu Tage, als eine
Staatsfront aus Grünen und Grauen Wölfen jene südöstlichen
Distrikte, in denen in der jüngeren Vergangenheit der Zugriff der
Nationalen und Frömmler wenn auch nicht gebrochen aber doch
abgeschwächt werden konnte, der syrischen Hölle eingemeindet hat. Es
dauert nunmehr ein ganzes Jahr an, dass Hunderte von staatskritischen
Menschen, unter denen sich so einer mancher für die Soziale Ökologie
eines Murray Bookchin oder die revolutionäre Liberalität eines
Oskar Wilde interessiert wie sich die Jugend in Dinslaken-Lohberg
oder Frankfurt-Sossenheim für al-Qaida Merchandising, zum Schweigen
gebracht werden. Zehra Doğan, Vildan Atmaca, Şermin Soydan, Hurşit
Külter sind Namen nur einiger - zwangsexiliert, inhaftiert,
„verschwunden“. Spätestens da begann der eigentliche Verrat. Im
Diyarbakır, wo es im Zentrum noch ein Leichtes ist, die jüdische
Philosophin Ágnes Heller oder die Literatur der Kritischen Theorie
auf Türkisch zu bekommen, werden es wieder die Hizbullah und andere
Feinde des Denkens sein, die sich dieser Atmosphäre der Angst und
Verfolgung annehmen.
Das Unglück,
sich in einer Masse von Konkurrenten vorzufinden, überträgt die
Demokratie der Märtyrer, in nationalen Wahn. In der Identifikation
mit dem Reis-i Cumhur, dem Führer Tayyip Recep, eignen sich jene,
die nichts haben, die grobe Gewalt der Masse an. Das zentrale
Instrument der Muslimbrüder ist das Kitzeln der narzisstischen
Kränkung, dass Größenwahn und Wirklichkeit sich nicht decken, zur
nationalen Psychose. Als ein Produkt aus der Konkursmasse der
osmanischen Rumpfmonarchie konnte die Türkische Republik nie
konsequent mit den Mythen und Gerüchten brechen, die um das
erzwungene Ende ihrer imperialen Geltung rankten. Die Paranoia von
der Teilung des Vaterlandes ist das konstitutive Moment türkischer
Ideologie und sie entspricht dem Zwang zur nationalen Homogenität in
Ansehung der Krisenhaftigkeit der eigenen Staatlichkeit.
Das
Ausagieren am Objekt, das Erniedrigen und Bestrafen der
Volksverräter, bleibt dabei, mit Ausnahmen wie den Lynchmorden an
abtrünnigen Soldaten, verstaatlicht. Dafür, dass dies alles andere
als garantiert ist, stehen die Tage demokratischer Spontanität: In
Istanbul marschierte das Brüllvieh in das alevitische Gazi
Mahallesi, wo es auf Barrikaden und eine entschlossene Jugend traf.
Im ostanatolischen Malatya erhielt die Lynchrotte, aufgehetzt in der
Moschee, den Marschbefehl, sich in das alevitische Paşaköşkü
Mahallesi aufzumachen, auch hier hielt man die Verfolger auf Distanz.
Bedrängt werden die Aleviten noch von ganz anderen. Nach der Serie
suizidaler Massaker des „Islamischen Staates“ im vergangenen Jahr
gegen Oppositionelle und den hinausgezögerten Zugriffen des
Staatsapparats auf dessen Schläferzellen wurden auf dem Laptop eines
seiner Logistiker, Yunus Durmaz, die Namen und Adressen jener
gefunden, die Daʻish in der Türkei zur Annihilation ausersehen hat:
allen anderen voran die alevitischen
Gemeinden im
hinteren Anatolien, also dort, wo auch der Nebenmann mit Pogrom droht
– sowie explizit Vermählungsfeiern kurdischer Familien in
Gaziantep.
Die
„Strategie des Islamischen Staates“ nun darin auszumachen, die
Türkei zu spalten, ignoriert das Offensichtlichste: die Massaker in
Diyarbakır, Suruç und Ankara betrafen nicht nur ausschließlich
Oppositionelle, die suizidalen Bestien reisten auch zuvor ungehindert
von den Staatsapparaten nach Syrien ein und aus und etablierten in
der anatolischen Provinz eigene Rekrutierungsbüros. Die Familien der
Mörder rannten gegen die Ignoranz des Staates an, sie denunzierten
in aller Konsequenz ihre abtrünnigen Söhne bei der Polizei, doch
der Staat schien nicht daran interessiert zu sein, das jihadistische
Moloch zu stopfen.
Noch in den
ersten Tagen der Revolte gegen die Despotie Bashar al-Assads ist die
Furcht vor einer kurdischen Eigenstaatlichkeit ein entscheidender
Faktor türkischer Syrien-Politik. So zögerten die türkischen
Muslimbrüder zunächst auch, sich gegen Bashar al-Assad zu wenden:
Schien doch der Zugriff des Regimes auf Syrisch-Kurdistan am
schwächsten und drohte in einem instabilen Syrien ein ähnliches
Szenario wie im Nordirak. Doch der Ausblick, dass mit dem Ende Bashar
al-Assads ein weiterer Staat in die neo-osmanische Einflusssphäre
integriert werden könnte, drängte die türkischen Muslimbrüder
schließlich noch zur entschlossenen Parteinahme. Durch die Türkei
fließt bis heute die logistische und materielle Ader syrischer
Nationaljihadisten sowie al-Qaidas und ihrer ideologischen Derivate.
Flankiert vom türkischen Souverän hat eine Parallelstruktur
außerparlamentarischer Muslimbrüder, wie die berüchtigte İHH,
einen militärisch-“humanistischen“ Komplex begründet, inklusive
Benefizabende, auf denen die Traditionslinie vom Mentor
Osamas Abdullah Azzam über das spirituelle Haupt
der Hamas Ahmed Yasin bis hin zum kaukasischen Emir Dokka
Umarov gezogen wird. Es ist ein Milieu, in dem auch panturkistische
Großmachtphantasien keimen und so beschriften in Aleppo Brigaden
Grauer Wölfe ihre Artilleriegeschosse mit den Namen nationaler
Idole: wie Muhsin Yazıcıoğlu etwa, Gründer der „Partei der
Großen Einheit“ und Hauptinitiator des antialevitischen Pogroms
von Maraş.
In diesen
Tagen, an denen sich die türkischen Muslimbrüder mit Russen und
Iranern auf das Gröbste verständigen, könnte man denken, dass die
offene Flanke für den sunnitischen Jihad gegen die „Majus“ und
„Rafida“ - womit Iraner und syrische Alawiten als verborgene
Zoroastrier und Ablehner der reinen Tradition, der ahl as-sunna,
denunziert werden – abgeschwächt wird. Doch alles andere als das:
Die syrischen Taliban der Ahrar al-Sham, die Halsabschneider der
Harakat Nour al-Din al-Zenki und andere Offshoots des Todes können
weiterhin auf ihr türkisches Peshawar entlang der Grenze vertrauen.
Ganz so wie ihre schiitischen Komplementäre auf den Iran, der mit
den Qods-Pasdaran und der Hezbollah direkten Zugriff auf die
Kommandohöhe des Regimes Bashar al-Assads hat. Morden und Aushungern
in Aleppo und anderswo halten an – denn worauf es in Syrien am
wenigstens ankommt, ist das Leben eines Syrers oder einer Syrerin.
Beide, die
Türkei und der Iran, beschwören einmütig die territoriale
Integrität Syriens und adressieren dies als Drohung an jene, die dem
obskurantistisch-faschistischen Irrsinn durchbrechen und
einer Säkularität ohne panarabisch verbrämter Konfessionalisierung
gerecht werden. Wie ansonsten nur die Europäer sprechen die
türkischen Muslimbrüder inzwischen über den Iran als zentralen
Stabilitätsfaktor in Syrien und dem Irak (neben den Russen und ihnen
selbst natürlich), während das Schlachten in Aleppo und anderswo
kein Ende nimmt. Agitierte Recep Tayyip zuvor noch die ihm Hörigen
als „Generation, die Damaskus und Jerusalem erobern wird“ und
„Nachkommen Selahaddin Eyyubi“, dem dies im zwölften Jahrhundert
gelang, und gilt Bashar al-Assad jedem Muslimbrüder weiterhin als
„Şeytan“, wird selbst noch diesem eine Funktion in einem
befriedeten Syrien zugestanden. Und während der türkische
Nachrichtendienst MİT in Nordsyrien als logistische Guerilla für
den sunnitischen Jihad fungiert – und mit der Liwa Sultan Murad
seine eigene Brigade hat –, reist dessen Führung nach Damaskus zur
Sondierung beidseitiger Interessen. Auf das Kompliment an den Iran
hin, einer türkischen Staatsvisite in die klerikale Despotie und den
Gesten der Beschwichtigung gegenüber dem Regime Bashar al-Assad
folgte dessen Aggression gegen das multiethnische al-Hasakah im
nordöstlichen Syrisch-Kurdistan, wo bis zu ihrer erzwungenen
Kapitulation noch Residuen des Regimes ausharrten. Dabei ist eine
direkte Absprache wenig realistisch. Das Regime der Hizb al-Ba‘ath,
selbst ideologisch ausgehöhlt durch die Iranisierung der ihm loyalen
Militanten, hat in al-Hasakah beständig dann militärische
Konfrontationen provoziert, wenn der „Islamische Staat“ im
Nordosten territorial einzubrechen drohte. Die Existenz von Daʿish
ist nach wie vor das Kalkül des Regimes, einerseits
Syrisch-Kurdistan in seiner Zersprengtheit zu halten und andererseits
sich selbst als Stabilitätsfaktor gegenüber US-Amerikanern und
Europäern anzuempfehlen. Es mag aber auch nur der vorherrschende
Chauvinismus des Arabisierungsregimes der Hizb al-Ba‘ath, der
Partei der nationalen Wiedergeburt, sein, der zu Provokationen
gegenüber der selbstbewusst gewordenen Minorität drängt.
Der
nationalchauvinistische Boulevard in der Türkei produziert indessen
wie verrückt Verschwörungsgerüchte über „einen Plan: Kurdischer
Staat“ als Vorstufe zu einem „Großisrael“. Synchron zur
türkisch-iranischen Kumpanei gegen die einzige säkulare Hoffnung
für Syrien integrieren sich in der Türkei die traditionellen
Nationalisten in die Staatsfront. „Es gibt keinen Unterschied
zwischen IŞİD, FETÖ und PKK. Sie wollen die Muezzine zum Schweigen
bringen, unsere Fahne senken, unser Vaterland teilen und unser Volk
spalten“, heißt es bei Recep Tayyip. „FETÖ“, der „Islamische
Staat“, die Abtrünnigen im Südosten sind alles Instrumente einer
einzigen perfiden Verschwörung gegen die Türkei, heißt es ganz
ähnlich bei Sözcü oder der „religionskritischen“ Aydınlık,
den Agitatoren unter den Soldaten Mustafa Kemals.
Am 24. August
marschierte schließlich türkisches Militär und loyale syrische
Mujahidin in das Grenzstädtchen Cerablus ein, das Daʿish zuvor noch
jahrelang als logistisches Nadelöhr in das türkische Peshawar, dem
nahen Gaziantep, diente. Wer sich noch an die ungestört grinsenden
Genozideure erinnert kann, die vor türkischer Beflaggung am
Grenzübergang Cerablus – Karkamış feixten, ahnte da bereits,
dass die türkische Entschlossenheit, das Grenzstädtchen
einzunehmen, jemand ganz anderem gilt als Daʿish. Eine direkte
Konfrontation blieb in Cerablus folglich auch aus. Daʿish
konzentriert seine Übergebliebenen inzwischen an der Front zum
geteilten Feind, südlich von al-Hasakah attackiert sie die Hêzên
Sûriya Demokratîk, eine US-amerikanisch flankierte Militärkoalition
um die Yekîneyên Parastina Gel, der de-Facto-Armee
Syrisch-Kurdistans, der assyrisch-christlichen Mawtbo Fulhoyo
Suryoyo und der multiethnischen Jaysh al-Thuwar von der „Freien
Syrischen Armee“. In der Geisterstadt Cerablus schwirren indes jene
Mujahidin aus, die anderswo längst aufgerieben sind oder sich der
Übermacht der syrischen al-Qaida und ihrer Derivate andienen: Die
mit den syrischen Muslimbrüdern assoziierte Faylaq al-Sham; die
„salafistisch-quietistische“ Bewegung Nour al-Din al-Zenki, die
jüngst ein Feindeskind die Kehle durchschnitt; die Jabhat
al-Shamiya, eine Militärkoalition unter Führung der syrischen
Taliban von Ahrar al-Sham; die panturkistische MİT-Brigade Sultan
Murad sowie nationaljihadistische Affiliate der in sich zersprengten
„Freien Syrischen Armee“ wie Liwa Muntasir Billah und Jaysh
al-Nasr. Wie im türkischen Südosten kursieren die ersten
Selbstporträts Grauer und Grüner Wölfe mit gespreizten Fingern –
oder von türkischen Militärs im Schulterschluss mit Bärtigen. Es
sind nahezu dieselben Akteure, die seit Längerem die kurdische
Enklave Şêxmeqsûd im nördlichen Aleppo unter dem ewig gleichen
Gebrüll „Allahu Ekber“ terrorisieren – einzig die syrische
al-Qaida fehlt.
Der
türkische Ministerpräsident von Führers Gnaden, Binali Yıldırım,
sprach dann als erster unverhohlen aus, wem der Einmarsch nach
Cerablus schlussendlich gilt. Es war die Befreiung von Manbij durch
die Yekîneyên Parastina Gel, der den türkischen Einmarsch
erzwungen habe. Unvergessen die Freude der Befreiten, die das Ende
der Despotie mit dem Gröbsten feierten, dem Verbrennen des Niqab,
den der „Islamische Staat“ zwangsverordnete, oder einer
Bartrasur. Für die Türkei aber rückte mit einem befreiten Manbij
die Bedrohung näher. Favorisiere die Türkei auch ein Syrien ohne
Bashar al-Assad, so Binali Yıldırım, müsse sie doch akzeptieren,
dass er ein russischer Protegé sei und eine Befriedigung Syriens sei
abhängig von einer Verständigung mit Russen und Iranern –
andernfalls träten „terroristische Organisationen“ wie eben jene
Selbstverteidigungsbrigaden Syrisch-Kurdistans hervor. Ein Kommandant
der Jabhat al-Shamiya spricht indessen
die Stoßrichtung des türkischen Einmarsches aus: die Eroberung von
al-Bab, um dort den Abtrünnigen vorzukommen. In der Konsequenz ist
die Teilnahme der mächtigsten Nationaljihadisten des nördlichen
Syriens – mit Ausnahme der syrischen al-Qaida – an dem türkischen
Militäreinmarsch auch eine indirekte Entscheidung für das Regime
Bashar al-Assads. Nach dem Vormarsch der Regimeloyalisten in der
Provinz Aleppo zu Beginn des Jahres, reorganisierten sie sich in
Azaz, unweit zur türkischen Grenze. Sie kamen ihren Glaubensbrüdern
nicht in der Schlacht um Aleppo bei, viel mehr instruierte sie der
türkische MİT in der Einnahme von Cerablus und der militärischen
Absicherung des Korridors Cerablus – al-Rai – Azaz.
Der frühere
Oberbehilfshaber des türkischen Militärs İlker Başbuğ – auch
ihn verfolgte die Justiz im Jahr 2012 als einen der
Ergenekon-Verschwörer, nach vorzeitigem Haftende versöhnte er sich
mit den Muslimbrüdern – fordert in der traditionslaizistischen
Hürriyet dazu auf, bis nach Manbij und al-Bab vorzustoßen. Einzig
so könne eine Quasi-Staatlichkeit in Syrisch-Kurdistan verunmöglicht
werden. Başbuğ spekuliert auf eine Absprache zwischen Ankara und
Moskau: Aleppo gegen Cerablus – Manbij - al-Bab – Azaz. Denn für
Bashar al-Assad und Vladimir Putin sei die Grenzregion von geringerer
Relevanz.
Jahrelang
eskalierten die Türkei und ihre alliierten Monarchien am Arabischen
Golf einerseits, der khomeinistische Iran und das Regime der Hizb
al-Ba‘ath andererseits die ohnehin angereizte Konfessionalisierung
Syriens; jahrelang übernahmen türkische und katarische Muslimbrüder
die Organisierung der militanten Opposition als Jihadisierung
derselbigen und gewährt die Türkei – ja, nach wie vor – der
syrischen al-Qaida und ihrer ideologischen Derivate ein logistisches
Refugium. Dass der türkische Ministerpräsident die syrische
Katastrophe mit hunderttausenden Geschlachteten und unter Trümmern
Begrabenen in jenen sieht, die ihre militante Organisierung als
Frauenbefreiung und Selbstverteidigung zivilisatorischer Residuen
verstehen, mag da äußerst konsequent sein.
Dabei gilt
auch einigen Freunden der „syrischen Revolution“ die Partiya
Yekitîya Demokrat (PYD) und ihr militärischer Flügel, die
Yekîneyên Parastina Gel, als anrüchig; auch wenn es weniger die
realen Begebenheiten in Syrien zu sein scheinen, in denen ihr
Unbehagen gründet, als eigene Befindlichkeiten. So redet man doch
vor allem von sich selbst – oder konkreter: von jenen, mit denen
man nichts gemein haben möchte. Der „Rojava Revolution“ scheinen
sie entweder nachzutragen, die falschen Freunde zu haben, oder aber
selbst doch irgendwie ein Relikt sozialistischer
Modernisierungsideologie zu sein, die in Nicaragua und anderswo so
brutal gescheitert ist. Die „Freie Syrische Armee“ dagegen
interessiert kaum jemanden aus jenem ideologischen Klüngel,
gegenüber dem man Distinktion gewinnt, aber eben darin auf ihm
bezogen bleibt. Sie eignet sich also für die eigene Mythenbildung*
um eine von allen verratende „demokratische Opposition“, die
unter den Militanten in Nordsyrien doch längst nicht mehr existiert.
Jaysh al-Tahrir, Hamza Division, Jaysh al-Nasr – die
„quietistischen“ Mujahidin der „Freien Syrischen Armee“, die
man als das ganz Andere zu al-Qaida und Daʿish ausgemacht hat, sind
Teil der türkischen Aggression. Das Gerücht über den Dolchstoß
verschleiert die eigentliche Katastrophe: die Säkularen Syriens sind
nicht nur vom ersten Tag mit den aggressivsten Feinden von Aufklärung
und Mündigkeit alleingelassen, es wird auch regungslos zugesehen,
wie die Türkei und der Iran, die Stabilitätsgaranten vor dem
Herren, noch die letzte Hoffnung zugrunde richten.
Einen
knappen Monat nach dem Massaker an den Satirikern von Charlie Hebdo
reiste eine Delegation aus Syrisch-Kurdistan - unter ihnen die
Kommandeurin der Yekîneyên Parastina Jin in Kobanê, Nesrin
Abdullah, sowie die Co-Vorsitzende der Partiya Yekitîya Demokrat,
Asya Abdullah – nach Paris. Eingehakt mit den Überlebenden von
Charlie Hebdo traten sie auf die Straße, wo am 7. Januar 2015 der
„Islamische Staat“ gnadenlos zuschlug, und schworen, die Toten
des Massakers zu rächen. Die Delegation gedachte auch
vor dem jüdischen Kaschrus-Markt Hyper Cacher den Ermordeten. Mit
begrenztem Erfolg hatten die Angereisten zuvor selbst konkrete
Solidarität eingefordert und daran erinnert, dass sie die
universalen Werte der einen Gattung
Menschheit und nicht allein sich gegen die Genozideure von Daʿish
verteidigen. Als am 16. Juni 2015 die Yekîneyên Parastina Gel und
ihre arabischen Alliierten das Grenzstädtchen Tel Abyad von Daʿish
befreiten, kursierten als erstes die Bilder von Frauen, die ihren
Gesichtsschleier verbrannten, einige rissen sich auch jeglichen
Schleier vom Haupt. Die Türkei drohte indessen mit Artillerie. In
Manbij wiederholten sich die Bilder – und die Drohungen. Wer Jahr
für Jahr angesichts der Bilder protestierender Frauen am 8. März
1979 in Teheran in Nostalgie schwelgt, wird, so droht es, in einigen
Jahren wieder hinreichend Bildmaterial haben. Solidarität mit der
Yekîneyên Parastina Gel heißt nicht, aus dem Gröbsten eine
Heilsideologie zu machen und zu ignorieren, dass auch dieser
Organisation die Tendenz, dass ein Abstraktes – das Nationale –
zum Selbstzweck wird, nicht völlig fremd ist. Es ist die
Verteidigung einer Hoffnung, die etwa darin Ausdruck findet, wie
Befreiung gefeiert wird.
Eine
Kämpferin der YPJ zerstört im befreiten al-Hawl ein Plakat, auf dem
die Ganzkörperverschleierung angeordnet wird.
*
Viele der Gerüchte, die PYD hätte die syrische Opposition verraten,
sind Teil der Propaganda jener arabischen Nationalchauvinisten und
völkischen Panturanisten, denen die Verdächtigten nie als anderes
galten als Abtrünnige des Vaterlandes und Ungläubige; den einen
sind sie eine getarnte Haganah, den anderen die Nachfolger der
armenischen Rachebrigade ASALA. Wenn das Regime der Hizb al-Ba‘ath
und eine Mehrheit innerhalb der Opposition etwas teilen, dann die
Mystifizierung Syriens als erhabene arabische Nation. Eines der
Gerüchte besagt, dass die Yekîneyên Parastina Gel systematisch
Araber und Turkmenen aus den von Daʿish befreiten Territorien
hinausdrängt. Selbst das der traditionellen Opposition verpflichtete
Syrian Observatory for Human Rights widersprach entschieden den von
der Türkei und ihren verbrüderten Militanten erhobenen
Verdächtigungen. Temporäre Aussperrungen von Arabern oder Turkmenen
aus ihren Dörfern, so SOHR, gründen in der militärischen
Absicherung der befreiten Territorien, wo noch Sprengfallen lauern
oder die Bedrohung andauert, dass suizidale Kommandos von Daʿish
wieder einsickern könnten. Nach der mit der „Freien Syrischen
Armee“ affiliierten Brigade Thuwar al-Raqqa entscheiden sich
auch Familien gegen einen Verbleib, da Angehörige noch loyal zu
Daʿish stehen. Natürlich existieren auch antiarabische
Ressentiments, genährt durch das Arabisierungsregime der Hizb
al-Ba‘ath, doch von einer Systematik zu sprechen, ist allein in der
Erinnerung daran, dass tagtäglich Araber etwa aus Aleppo ins
kurdische Afrin flüchten, absurd.
Streift das
Gerücht der Kollaboration durchaus einen historischen Fakt - dem
jahrelangen vom Regime instrumentalisierten und im Jahr 1998
beendeten Exil Abdullah Öcalans in Syrien -, ignoriert es nicht nur
die Repression, die auf die spätere Gründung der illegalen Partiya
Yekitîya Demokrat folgte. Die Gerüchte akkumulieren viel mehr alle
nationalen Ressentiments gegenüber den Verfolgten des
Arabisierungsregimes der Hizb al-Ba‘ath: die PYD als skrupellose
Profiteurin der „syrischen Revolution“. Als hätte sie nicht
allen Grund, einer Opposition zu mißtrauen, die nicht nur in
Abhängigkeit zur Türkei steht, darüber hinaus in weiten Teilen
auch nicht mit der nationalchauvinistischen Ideologie des Regimes
gebrochen hat. Und als wäre die – ohnehin brüchige –
militärische Passivität gegenüber Bashar al-Assad nicht der Grund,
dass in Qamishlo oder al-Hasakah noch nicht Straße für Straße
geschlachtet worden sind.
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