Die syrische
Katastrophe ist unlängst um den türkischen Südosten erweitert.
Cizre und Sur, das historische Diyarbakır, sind kaum noch zu
unterscheiden von Halep und Homs. Eine Straße wird nach der anderen
geschlachtet, wer ausharrt und nicht flüchtet als potenzieller
Terrorist markiert. Systematisch wird Reizgas in die Gemäuer
geschossen, in denen die Eingeschlossenen ausharren. Während auf den
zerschossenen Fassaden in den eingeschlossenen Distrikten der
Schlachtruf der türkischen Staatsfront aus Grünen und Grauen Wölfen
prangt, Ermeni Piçleri: „Armenische Bastarde“, salutiert die
Konterguerilla mit Wolfsgruß in der schwerbeschädigten St. Giragos
Kathedrale in Diyarbakır.
Die türkische
Katastrophe ist längst um Syrien erweitert. In den turkmenischen
Brigaden im nordwestlichen Syrien, der Bergregion Bayır Bucak,
propagieren Graue Wölfe die völkische Erweckung eines
Großturkistans. Als jüngst ein Parteifunktionär der
panturanistischen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) aus dem
Istanbuler Distrikt Fatih in der syrischen Hölle zum Märtyrer
wurde, trugen ihn Parteikameraden als Şehit Tuğtekin, als
Wiedergeburt des Atabeg von Damaskus aus dem Jahr 1104, zu Grabe.
Ahmet Mahmut Ünlü, der berüchtigte Imam des fundamentalistischen
İsmail Ağa Cemaat, sprach das Totengebet, während Graue Wölfe ihr
Haupt senkten. Unter den Betenden auch Alparslan Çelik aus dem
östlichen Elazığ, der sich damit brüstet, einen der russischen
Piloten der abgeschossenen Sukhoi ermordet zu haben.
In Syrien
brechen die imperialen Ideologien, die diese Region systematisch
hervorbringt, ungehemmt durch. Die imperiale Aggression hüllt sich
in Unschuld und wähnt sich als ständiges Opfer imperialistischer
Verschwörung, bevor sie zur Verfolgung der Anderen schreitet. Was
diese Despotien – allen voran der
klerikalfaschistisch-militaristische Iran und die Türkei unter den
Muslimbrüdern - eint, ist die etatistische Erziehung zur
Unmündigkeit und einer alles durchdringenden Paranoia. Der Reflex,
jede empirische Uneinigkeit als eine perfide Intrige anderswoher zu
exorzieren, wird eingeprügelt mit der Drohung, selbst als Äußeres
markiert zu werden.*
Die
US-Amerikaner, jahrzehntelang in der Funktion des militanten
Souveräns des Wertgesetzes, haben wie die Europäer die
Organisierung der militanten Opposition gegen das Regime Bashar
al-Assads den türkischen Muslimbrüdern sowie Qatar und der
saudischen Despotie anvertraut, ganz so wie sie in diesen Tagen dem
klerikalfaschistischen Iran den Todesstoß derselbigen überlassen.
In der syrischen Hölle, wo das Aushungern eine zentrale Strategie
des Regimes ist und Menschen über Jahre auf wenigen
Quadratkilometern eingeschlossen bleiben, entscheidet über Loyalität
und Rekrutierung als erstes ein funktionierendes Distributionssystem
in den eingeschlossenen Distrikten. Wer die Mehlmühlen und
Brotstuben kontrolliert, erzwingt Hörigkeit. Folglich werden sie von
dem Regime Bashar al-Assads systematisch bombardiert, auf der
ständigen Verknappung des Gröbsten gründet die Macht des
militärisch-humanistischen Komplexes türkischer Muslimbrüder.
Pseudo-NGOs wie die İHH und İmkander, beide aus dem Istanbuler
Distrikt Fatih, fungieren als logistische Schneise der Muslimbrüder
zur Front. Die İHH, aus dem Milieu der antilaizistischen Bewegung in
den Staat: Millî Görüş, pflegt intime Kontakte zur AK Parti
Erdoğans, sie wirbt beidseitig im Bordmagazin der staatseigenen
Turkish Airlines. An türkischen Universitäten häufen sich dagegen
die Konfrontationen,
wenn islamistische Fundraising-Organisationen Werbestände aufmachen.
An
allen Tagen findet sich in Istanbul, Gaziantep oder anderswo ein
Benefizabend für den syrischen Jihad. Mit dem Tugenddiktat „Treue
zu den Märtyrern“ ruft İmkander zum Gedächtnisabend, das Plakat
hierzu wirbt mit dem spirituellen
Haupt der Hamas Ahmed
Yasin, dem Emir
des Kaukasus-Emirats Dokka
Umarov, dem Mentor
Osamas Abdullah
Azzam. In Gaziantep unterhielt İmkander ein eigenes Charité für
jene, die in Syrien am Märtyrertod vorbeigeschrammt sind. In allen
Ehren halten die türkischen Muslimbrüder den kaukasischen Jihad,
sie verehren Şamil Basayev, den Blutsäufer von Beslan, und machen
Beerdigungen tschetschenischer Jihadisten im Istanbuler Distrikt
Fatih zu Aufmärschen gegen den „Şeytan“ Putin. Die honorige
İHH gedenkt in
diesen Tagen auf Twitter und anderswo Ibn al-Chattab „Komutan
Hattab“, ein saudischer Reisender tscherkessischer Abstammung und
Weggefährte Osamas, der in Afghanistan, Tadschikistan und im
Kaukasus dem Jihad gedient hat. Von ihm kursierten in den 1990er
Jahren Snuffmovies, in denen er Feinden des Emirats die Hälse
durchschneidet.
Es
ist nicht der „Islamische Staat“, dem der türkische Benefiz
vorrangig gilt. Es ist ein Milieu irgendwo zwischen den Muslimbrüdern
und der traditionellen al-Qaida, in dem auch panturkistische
Heilsversprechen keimen. In der Grenzprovinz Idlib ist es die Jaysh
al-Fatah, eine Militärallianz von Jabhat al-Nusra und Ahrar al-Sham,
die auf die türkische Flanke vertraut. In Latakia panturkistische
Brigaden mit Volontärs aus dem völkischen Milieu der Grauen Wölfe.
Im strategisch sensiblen Distrikt Azaz an der syrisch-türkischen
Grenze verlor die protürkische Jabhat al-Sham, die Levante Front, in
den vergangenen Tagen Tel Rifat an die YPG, die de-facto-Armee
Syrisch-Kurdistans, sowie an die mit ihr verbrüderten
multiethnischen Jaysh al-Thuwar. Die Militärkoalition Jabhat al-Sham
besteht vor allem aus der Islamischen Front, der saudisch-hörigen
Asala wa-al Tanmiya und der quietistisch-salafistischen Harakat Nour
al-Din al-Zenki. Im Spätherbst 2013 haben diese, mit der syrischen
al-Qaida, die Institutionen der syrischen Exil-Opposition als
illegitim und „konspirative Unternehmung“ denunziert und die
Sharia, die Despotie des religiösen Gesetzes, als einzig legitimes
Fundament des Staatswesens behauptet.
"Vereint
für die Etablierung des Islamischen Staates", Graffiti in Tel
Rifat (ANHA)
Die
Konstellationen des kaukasischen Jihads aus den 1990ern ähneln grob
denen in Syrien. Die Bösartigkeit jener, die den Syrern die Sharia
aufzwingen, trifft auf die Gnadenlosigkeit einer militaristischen
Despotie, die mit ihrer Strategie der Teppichbombardements Bashar
al-Assad als ihren syrischen Kadyrow stabilisiert. Sie ähneln aber
noch mehr der irakischen Katastrophe. Die islamisierte Opposition
funktioniert nach derselben Logik einer konfessionalistischen
Eskalation, die der khomeinistische Iran im Irak verfolgt.
Es
ist nicht der „Islamische Staat“ aka Daʿish, dem die russische
Aggression vorrangig gilt. Es ist aber gelogen, jene sunnitischen
Jihadisten, die in diesen Tagen Aleppo verlieren, unter einen anderen
Namen zu rufen. Und es ist bösartig, jene, die von diesen Jihadisten
bis aufs Äußerste bedrängt werden, eines Dolchstoßes an der
syrischen Opposition zu beschuldigen. Die Levante Front hat noch im
vergangenen Jahr begonnen, das kurdische Sheikh Maqsood im nördlichen
Aleppo auszuhungern. Ihre Artillerie schießt blind
unter dem Mordgebrüll „Allahu Akbar“ in die Enklave der
Ungläubigen. Ahrar al-Sham, als stärkster Teil der Islamischen
Front vorherrschend in dieser Militärkoalition, bedrängt mit der
syrischen al-Qaida, Jabhat al-Nusra, den eingeschlossenen Kanton
Syrisch-Kurdistans Afrin. Die Fatah Halab, die wesentliche
Operationszentrale in Aleppo, denunzierte die YPG längst vor dem
territorialen Einbruch der islamisierten Opposition als „Ungläubige“
und „Feinde der Religion“.**
Gegen
die YPG wird mitunter moralisiert als hätte man dem Mythos von
Rojava als revolutionäre Kommune blind geglaubt. Natürlich ist es
kühles Kalkül, den russischen Bombardements zu folgen, daraus aber
das Gründungsmoment einer Dolchstoßlegende zu machen, nach der eine
demokratische Opposition, die unter den Militanten in Aleppo längst
nicht mehr existiert, von der YPG aufgerieben werde, ist ein
rhetorisches Anschmiegen an Erdoğans Bemühen, die Region zwischen
Azaz und Cerablus unter islamistischer Kontrolle zu halten. Der
deutschsprachige Analyseblog bikoret
khatira hat
als einer der wenigen erkannt, dass der Vorstoß der YPG von Afrin
aus nach Osten weniger der islamistischen Levante Front gilt als dem
Regime Bashar al-Assads und der Hezbollah. Diese stieß in den
vergangenen Tagen massiv im Distrikt Azaz vor und droht die
gleichnamige türkisch-syrische Grenzstadt einzunehmen. Ein von der
Hezbollah kontrolliertes Azaz würde Afrin auf Dauer vom östlichen
Syrisch-Kurdistan abschneiden, eine direkte Konfrontation mit dem
Iran und seinen Satelliten dagegen wäre selbstmörderisch. Wie es
aussieht, liegt darin der jüngste Vorstoß der YPG begründet. In
diesem Moment nähert sich die YPG unter dem Donnern der türkischen
Artillerie Dabiq, knapp 20 Kilometer von Tel Rifat, beherrscht vom
„Islamischen Staat“. Einem apokalyptischen Hadith zufolge werden
in Dabiq – das Fanzine der jihadistischen Genozideure ist hiernach
benannt - die Armeen der Muslime am Ende der Menschheit mit den
Feinden der Religion konfrontiert.
Währenddessen beschuldigt das
Regime Assads die YPG, eine Passage für
militante Oppositionelle von Idlib durch Afrin ins nördliche Aleppo
aufgemacht zu haben. Quwwat Suriya al-Dimuqratiya (QSD), die
Militärkoalition der YPG mit arabischen, turkmenischen und
assyrisch-christlichen Verbänden, zufolge hätten
sich ihr in Tel Rifat Brigaden der aufgeriebenen FSA angeschlossen.
Ende Januar schlug die berüchtigte Spezialität Bashar al-Assads,
explorierender Stahlschrott, auch in Sheikh Maqsood im nördlichen
Aleppo ein. Es wird womöglich die Drohung sein,
dass zwischen einer direkten Kornfrontion allein Russen und
US-Amerikaner stehen. Anders als deutsche Politiker, die bei dem Iran
einzig an Stabilität, Kulturdialog und Konjunkturhoch für die
Kranindustrie denken, hat die Partiya Yekitîya Demokrat, die
Initiatorin der YPG, wieder und wieder den Iran als Hauptaggressor
neben der türkischen Despotie genannt. Wo die militanten Sidekicks
der Muslimbrüder und die salafistisch-jihadistischen Bataillone
aufgerieben werden, stößt nicht eine irgendwie noch
multikonfessionelle Armee Syriens vor, es ist die Internationale der
Ayatollahs, koordiniert durch Hezbollah und Qods-Pasdaran. Sie sind
die Komplementäre zur Islamischen Front, nicht ihre Opposition. Der
entscheidende Unterschied zwischen ihnen liegt darin, dass die
khomeinistische Despotie als das akzeptiert ist, was den
salafistisch-jihadistischen Emiraten und Pseudokalifaten ohne
Hermes-Kredite und europäischem Kulturdialog verweigert wird: die
Akzeptanz als Stabilitätsgarant, als Komplize.
Das Gerücht
über den Dolchstoß verschleiert die eigentliche Katastrophe: die
Säkularen Syriens sind vom ersten Tag mit den aggressivsten Feinden
von Aufklärung und Mündigkeit alleingelassen. Während die
türkische Staatsfront die syrische Katastrophe um den eigenen
Südosten erweitert und inzwischen selbst mit schwerer Artillerie der
Jabhat al-Nusra, Ahrar al-Sham und indirekt auch Daʿish (indem sie
den Vorstoß der YPG auf Cerablus blockt) beikommt, finanzieren die
Deutschen die türkische Kollaboration mit der syrischen al-Qaida zur
Repatriierung Geflüchteter. Und während die iranischen
Qods-Pasdaran vorankommen, Syrien als „35ste Provinz“ des Irans
(Mullah Mehdi Taeb) einzunehmen, sind sich die Deutschen einzig noch
über Vertragsklauseln bei der technologischen Modernisierung der
khomeinistischen Despotie und über das perfekte Timing der Einladung
von Hasan Ruhani als Staatsgast uneins. Wenn deutsche Politiker und
andere am Iran Interessierte heute noch über die dezidiert säkulare
Revolte aus dem Jahr 2009 sprechen, dann mit dem Unbehagen, dass eine
solche die Grabesruhe irgendwann wieder stören könnte.
* Die
khomeinistische Despotie im Iran etwa verfolgt in der religiösen
Minorität der Bahá'í eine solche halluzinierte Inkarnation des
Dolchstoßes. Nach der „Islamischen Revolution“ wurde mit über
200 Hinrichtungen die Organisationsstruktur der Bahá'í gänzlich
gesprengt, über 10.000 Menschen zwang es ins Exil. In der Teheraner
Metro und anderswo klären, wie im vergangenen Jahr, großflächige
Plakate über die Bahá'í auf. Sie seien „Spione und Agenten
imperialistischer Mächte“ und „propagieren Unmoral“. Wieder
und wieder wurden Bahá'í als Apostaten hingerichtet; Verhaftungen
von Oppositionellen werden weiterhin damit begründet, dass die
Verdächtigten im konspirativen Kontakt zu Bahá'í gestanden hätten.
** In der
Fatah Halab koordinieren Jabhat al-Sham, einschließlich: Ahrar
al-Sham und Jaysh al-Islam, mit den salafistisch-jihadistischen Fajr
al-Khilafah Bataillonen sowie sunnitisch-konservativen, vorübergehend
US-amerikanisch finanzierten Brigaden wie Liwa Fursan al-Haqq ihre
Militäraktionen.
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