Wie
jede andere Gang hat die türkische Konterguerilla die zerschossenen
Fassaden im tagelang abgeriegelten Silvan in der südöstlichen
Provinz Diyarbakır markiert:
„Wenn du ein Türke bist, sei stolz, wenn nicht gehorche“, „Wie
glücklich derjenige, der sagt: Ich bin Türke“ oder „Die
Türkische Republik ist hier, wo sind die Bastarde“. Neben der
Reviermarkierung des Wolfsrudels im Staatsdienst hinterlässt vor
allem die Gang Esedullah, „Allahs Löwen“, ihren Namen an
durchlöcherten Fassaden zuvor abgeriegelter Distrikte. In İdil in
der Provinz Şırnak ergeht sich die maskierte Konterguerilla im
Gebrüll „Allahu ekber“ und in Sur, dem historischen Diyarbakır,
seien unter den Paramilitärs, so die Eingeschlossenen, auffällig
viele bärtige Männer. Die beidseitige Drohung mit nationalisiertem
Islam und islamisiertem Nationalismus spricht auch aus Erdoğan, wenn
er zu den Häretikern im Südosten sagt: „Wir akzeptieren keine
weitere Flagge als die unsere. Was eine Flagge ausmacht, ist das
damit vergossene Blut, wenn es ein Land gibt, wofür zu sterben ist,
dann ist es das Vaterland. Unsere Flagge symbolisiert das Blut der
Märtyrer, der Mond die Unabhängigkeit und der Stern die Märtyrer."
Die Konterguerilla ist Ausdruck der voranschreitenden Racketisierung,
die Einheit ausschließlich negativ realisiert: in der Verfolgung der
Abgefallenen.
Ahmet
Davutoğlu, Ministerpräsident von Erdoğans Gnaden, drohte im
südöstlichen Van, dass auf die Verweigerung einer demokratischen
Legitimierung der Despotie seiner Muslimbrüder eine Wiederkehr der
schwarzen Ära der „beyaz toros“ folgen werde. Mit den weißen
Renaults verschleppten und ermordeten Todesschwadronen in den 1990ern
unzählige „Bastarde“, die weder stolz waren, Türken zu sein,
noch gehorchten. Die demokratische Legitimierung wurde den
Muslimbrüdern nicht verweigert. Ihre perfide Strategie „Chaos oder
Stabilität“ ging auf. Sie provozierten den Tod im Südosten und
das Pogrom im nationalistischen Stammland, wo sie das Milieu der
Grauen Wölfe absorbierten. Keine Provinz, in der sie nicht Prozente
dazugewannen, auch nicht im Südosten und das nachdem sie die Dämonen
vergangen zu schienender Tage erzwungen haben, inklusive täglicher
Inhaftnahmen von Oppositionellen, der Abriegelung ganzer Distrikte,
extra-legaler Hinrichtungen und erzwungenem Verschwinden, dem
Schänden von Toten und Niederwalzen von Gräbern als Drohung an die
Lebenden sowie - das kannte die schwarze Ära der „beyaz toros“
noch nicht, aber die der „Esedullah“ – suizidalen Massakern in
Suruç und Ankara mit 137 Toten. Es ist die Identifikation mit dem
Aggressor, die Verschmelzung von Angst und Lust, Teil eines
mörderischen Apparates zu sein, auf der die demokratische
Legitimierung der Muslimbrüder fundiert. Die AK Parti Erdoğans
profitiert mehr als alle anderen von der systematischen Paranoia, die
konstitutiv ist für die nationale Identität. Jede Kritik, jeden
Protest denunziert sie als perfide Intrige von außen. Während der
Revolte im Jahr 2013 konterte das Regime und sein Brüllvieh, der
Protest könne nur eine Verschwörung sein, da er doch in jenem
Moment aufkomme, wo die Türkei bald den letzten Zins abgezahlt und
sie den “unterdrückten Völkern” den Pfad vorgetrampelt habe.
Nicht anders in diesen Tagen: Die PKK ist ihnen ein terroristisches
Instrument der Imperialisten, eine Strategie, um Chaos zu säen und
Unterwürfigkeit zu ernten.
Protest nach
dem Massaker in Ankara: „Wir kennen den Mörder“ (Ufuk
Koşar/NarPhotos)
Wie die
Militärdiktatur vom 12. September 1980 die Hörigen mit der Angst
vor einem Andauern der Pogrome und politischen Morde aus den
vorangegangenen Jahren erzog, so disziplinieren die Muslimbrüder mit
der Drohung, dass ohne erzwungene Stabilität die ökonomische
Karriere ein abruptes Ende findet. Die Asphaltierung des Hinterlandes
entspricht der Ermächtigung, das Hinterland anderswo – in den
Distrikten der Abgefallenen - niederzuwalzen. Und noch als über den
Asphalt gezogene Leiche ist einem im Südosten der Verdacht
eingebrannt, das Vaterland zu bedrohen. Was an den Muslimbrüdern
Angstschauer provoziert aber auch fasziniert, ist die Gewalt, die
Gräben zu schütten und mit ihnen jede Dissidenz.
Auf den
Staatszweck verpflichtet entspricht ihre Ideologie dem Zwang zur
nationalen Homogenität in Ansehung der Krisenhaftigkeit der eigenen
Staatlichkeit. Ihr Feind war nie der Staat Atatürks, es war die
Säkularisierung, die sie als atheistische Entartung und
Einfallsschleuse kommunistischer Subversion im Dienst jüdischer
Konspirativität denunzierten. Wider Marx kursierten unter Grauen und
Grünen Wölfen in den turbulenten Jahren vor der Grabesruhe der
Militärdiktatur des 12. Septembers 1980 vor allem die Schriften
eines Necip Fazıl Kısakürek, der selbst eine laizistische Jugend
genoss und auf die renommierte Pariser Universität Sorbonne ging,
bevor er seine religiöse Erweckung erlebte. Seine Schrift
„Judentum-Freimaurerei-Wendehalsigkeit“
(Yahudilik-Masonluk-Dönmelik) und andere aus diesem Erweckungsmilieu
entsprechen der türkischen Variante der „Protokolle“, sie
gleichen dem Judenhass eines Theodor Fritschs oder Erich Ludendorffs
(1). Den inneren Feind markierte Necip Fazıl in seiner Schrift „Die
irrigen Abweichungen vom rechten Pfad“ (Doğru Yolun Sapık
Kolları) aus dem Jahr 1978 in der religiösen Minorität der
Aleviten, die er empfahl wie Unkraut herauszureißen. Das Jahr 1978
war das Jahr antialevistischer Pogrome, Rudelführer der Pogromisten
waren Graue Wölfe. Sie identifizierten Aleviten mit kommunistischer
Agitation und Dolchstoß. Necip Fazıl ist nach Erdoğan einer der
wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts, ein Idol seiner eigenen und
aller folgenden Generationen. Eine weitere Schrift aus dem Jahr 1969,
„Die religiösen Unterdrückten der vergangenen Epoche“ (Son
Devrin Din Mazlumlari), hätte, so Erdoğan, sein Leben geändert.
Necip Fazıl skizziert darin den jungtürkischen Coup gegen den
Blutsultan Abdülhamid II. – sein Hamidiye Regime ermordete in den
Jahren 1894–1896 über hunderttausend vor allem armenische Christen
- als Intrige von Juden und Freimaurern.
Die Grauen
Wölfe spüren dem Gerücht aggressiv nach, das der republikanischen
Idee nachhängt: dass diese die Nation von Blut und Boden abstrahiere
und somit empfänglich mache für kosmopolitische und
individualistische Keime. So terrorisierten sie in den 1970ern selbst
noch Staatsbedienstete, die mit zu viel Haut provozierten. Anders als
bei den Grauen Wölfen ist das historische Substrat der Muslimbrüder
nicht die Türkisierung als zentrales Moment des
Modernisierungsregimes. Es ist vielmehr die beschädigte
Modernisierung selbst, die sie als Erweckungsbewegung provozierte.
Der
Modernisierungsauftrag des osmanischen Rumpfstaates bestand als
erstes darin, aus den empirischen Menschen eine Nation zu
konstituieren. Das Türkisierungsregime entschied die zentrale Frage,
woraus diese zu machen ist, im Genozid. Im Jahr der Republikgründung
1923 wurde schließlich aller „verwaiste“ Besitz der ermordeten
und geflüchteten Armenier konfisziert. Dieser vorletzte Schritt des
Genozids – der letzte, die Schuldprojektion auf die Ermordeten,
dauert an - war zugleich das Gründungsmoment der türkischen
Bourgeoisie mit laizistischen Familiendynastien wie Koç und Sabancı.
Doch jenes Establishment profitierte nicht nur von der ökonomischen
'Islamisierung', es eignete sich auch mehr und mehr die Kultur der
ermordeten Ungläubigen an. Necmettin Erbakan, Gründer der
Erweckungsbewegung „Milli Görüş“ und politischer Ziehvater
Erdoğans, war getrieben vom Hass auf dieses Establishment der
Abgefallenen; ein Hass, der rationalisiert werden konnte durch die
reale Konzentration der Industrie und Kreditmaschinerie auf einige
wenige westtürkische Monopolisten. Er propagierte den stillen Marsch
durch die Institutionen, die Übernahme der Industriekammern im
Interesse einer initialen Akkumulation eines grünen Kapitals im
stehengebliebenen Anatolien. Seine Schriften waren durchzogen von
einer schweren narzisstischen Kränkung, dass das türkische
Vaterland, als Nabel des gewaltigen Osmanlı İmparatorluğu,
herabgewürdigt werden konnte zur blutleeren wie gottlosen
laizistischen Republik. Seine Großmachtphantasie war bei ihm wie
selbstverständlich mit deutscher Ideologie durchtränkt. Die Krise
ist Erbakan zufolge, der 1953 an einer deutschen Technischen
Universität promovierte und bis zu seinem Tod der technischen
Detailverliebtheit der Deutschen und ihrer „Ernsthaftigkeit und
Organisiertheit“ schmeichelte, dem Kapital nur künstlich
eingepflanzt. Es sei der Zins, der sie in die Produktion hineintrüge
und als Nadelöhr kommunistischer Subversion fungiere. Sein zentraler
Ruf - „Wieder eine große Türkei“ - sollte folglich durch
religiöse Erbauung der entfremdeten Muslime und einer forcierten
Industrialisierung realisiert werden.
Beide
Kontrabewegungen, Graue wie Grüne Wölfe, brüteten noch in ihren
ersten Tagen imperialistische Gegenstrategien wider die
universalistische Drohung mit der Moderne aus. Dass die Flagge mit
dem einen Halbmond die einzige ist, die Erdoğan legitim ist, ist
gelogen. Die ideologische Kaderschmiede Erdoğans: die Osmanlı
Ocakları, die nicht nur namentlich von dem faschistischen
Idealistenrudel der Grauen Wölfe, Ülkü Ocakları, inspiriert ist,
tritt unter einer anderen Flagge als der republikanischen auf: Auf
dem Grün des Islam prangt für jeden Kontinent, auf dem die
osmanischen Imperialisten zu anderen Tagen Territorien beherrschte,
ein Halbmond. In dem Intro jeder größeren Ansprache grüßt Erdoğan
„seine Brüder“ in Sarajevo, Kosovo, Ramallah und anderen
Gegenden, auf die der Schatten vergangener osmanischer Größe
schielt. Die Grauen Wölfe dagegen adressierten ihre Identifikation
entlang völkischer Kriterien, ihr Osmanlı İmparatorluğu steht als
Büyük Türkistan, als ein „Großturkistan“, wieder auf. Das
antiimperialistische Gejaule der Wölfe, der zwanghafte Reflex, jede
innere Uneinigkeit als Kabale von außen zu exorzieren, verrät: sie
projizieren ihr aggressives Inneres auf ein Äußeres.
Anders
die Muslimbrüder, die als Panislamisten Türken und Kurden bei
territorialer Integrität des einen Vaterlandes unter dem Banner des
Islam einigen wollen. Staatsbedienstete erzogen Generationen an
Kindern, die vor ihren Lehrern anderes sprachen als Türkisch, mit
Prügel und dem Schwur: "Wie glücklich derjenige, der sagt: Ich
bin Türke", unter den Muslimbrüdern dagegen bringen die
Staatsimame den Qur'an in Kurmancî unter die Frommen. Was das Regime
der Muslimbrüder in diesen Tagen in den abgeriegelten Distrikten des
Südostens verfolgt, ist nicht der staatsloyale Kurde, der betet und
buckelt und sich über das Urnengrab beugt. Die ersten Distrikte und
Provinzen, die Erbakans Milli Selamet Partisi 1973 und 1977 an sich
nahmen, lagen im Südosten. Noch heute halten die Muslimbrüder
Provinzen wie Bingöl, Elazığ und Şanlıurfa, wo die feudale
Organisiertheit in Aşirets eng verwebt ist mit dem
Repressionsapparat, das Dorfschützersystem Koruculuk Sistemi ist
Teil der Konterguerilla sowie der organisierten Kriminalität. Das
Regime der Muslimbrüder verfolgt jene, die Misstrauen provozieren,
für anderes als für „die Generation von 1071“ einzustehen (2).
Es kommt über die Religion zu denselben Konsequenzen für die
Abgefallenen des Vaterlandes. Wie nur der eine Gott existiert, so
haben auch nur ein Staat, eine Flagge, eine Partei zu existieren.
„Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette,
die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten“, so
die berüchtigte Aussage Erdoğans, für die er sich im Jahr 1998
noch vor Gericht zu verantworten hatte, aus der in diesen Tagen, wo
Militär und Justiz auf eine Funktion heruntergebracht sind, viel
mehr das Aufgehen islamistischer Ideologie im Staat, dieser
verwundeten Kollektivbestie, spricht. Das Gerücht, das die
Muslimbrüder zur Propaganda machen, fingiert Oppositionelle zu
Ungläubigen, Feinden Gottes und „Fremden unter uns“ (Erdoğan).
So empört sich Erdoğan vor seinem Brüllvieh im Südosten, dass die
Opposition sage: 'Jerusalem den Juden', also die Ummah verrate, und
Zarathustras Philosophie als wahre Religion propagiere. Indessen
schreitet die Nazifizierung der Propaganda voran: Jüngst wurde vom
seriösen „Kanal A“ der Einmarsch türkischer Militärs in die
irakische Provinz Mosul mit dem Gerücht flankiert,
dass einige 'neutralisierte' Kader der PYD Davidsterne trugen.
Euphorisiert
durch die Erfolge der ideologischen Brüder in Tunesien und Ägypten
brach das türkische Regime Ende des Jahres 2011 radikal mit Bashar
al-Assad, nachdem es zuvor noch befürchtet hatte, dass eine
Schwächung Assads einer Stärkung der PYD gleichkäme. Vor allem mit
Qatar beschleunigte es die Militarisierung und Islamisierung der
Opposition. Neben der AK Parti selbst sind es NGOs aus dem
ideologischen Milieu der Muslimbrüder wie die berüchtigte İHH, die
aus den Grenzprovinzen Hatay, Kilis und Gaziantep ein türkisches
Peshawar machten. In der Grenzprovinz Idlib ist es die Jaysh
al-Fatah, eine Militärallianz von Jabhat al-Nusra und Ahrar al-Sham,
die auf eine logistische Flanke der türkischen Muslimbrüder
vertrauen kann. Ihre jüngste Affäre ist das Ahrar al-Sham Offshoot
Jaysh al-Sham, das von sich behauptet, sich ausschließlich aus
Syrern zu rekrutieren. Dies ist inzwischen das wesentliche Kriterium
dafür, wer Potenzial zum Stabilitätsfaktor hat und wer nicht.
Doch ein
regime change hin zu einem sunnitischen Satellitenstaat bleibt aus
und die Aussicht Erdoğans, in Damaskus zu beten, schwindet. Weder
das Regime Bashar al-Assads noch die islamisierte Opposition können
die syrische Katastrophe für sich entscheiden. Wo es nicht der
explodierende Stahlschrott mit Todesgrüßen Assads oder Putins ist,
ist es die Rivalität um die Beute oder die Methoden einer Ökonomie
der Geiselhaft, die Syrien weitflächig mehr und mehr von Menschen
entleeren. Wo es Bashar al-Assad an Rekruten fehlt, sind es
Mujahedeen der Shiah aus dem Irak, dem Libanon und anderswo sowie
afghanische Zwangsrekruten, mit denen die khomeinistische Despotie
Iran sich seinen Satelliten, ein Rumpfstaat Typ „Südlibanon“,
erzwingt.
Während
Erdoğans neo-osmanische Expansion in Syrien strauchelt, hat sich
entlang der türkisch-syrischen Grenze ein säkulares
Syrisch-Kurdistans behauptet, das augenblicklich der Despotie der
Muslimbrüder die gröbste Provokation ist. Ahmet Davutoğlu droht
der YPG, der de-Facto-Armee Syrisch-Kurdistans, ausdrücklich vor
einem Überqueren des Euphrat und der Einnahme von Cerablus, der
einzig verbliebenen Grenzstadt unter Kontrolle von Daʿish. Damit
diese Drohung auch ankommt, wird das östlich vom Euphrat liegende
Tel Abyad wieder und wieder von türkischer Artillerie gekitzelt.
Dass die US-Amerikaner darüber rätseln wie sie Daʿish ohne die YPG
aus Cerablus herausdrängen können, um das türkische Regime nicht
zu reizen, sagt nahezu alles über die tödliche Farce der aus mehr
als 40 Staaten bestehenden Koalition gegen den einen Pseudostaat
Daʿish. Es sind noch nahezu hundert Kilometer entlang der
türkisch-syrischen Grenze, die Daʿish weiterhin unbelästigt
kontrolliert, ihre logistische Ader und das Nadelöhr für ihre
Todesschwadrone. Eine solche ermordete am 30. Oktober Ibrahim Abd
al-Qader und seinen Freund Fares Hamadi in Urfa. Der Ermordete war
Mitbegründer von „Raqqa is Being Slaughtered Silently“, der
letzten verbliebenen Opposition in Raqqa. Wenn in diesen Tagen der
europäischen und US-amerikanischen Politik eine Kontinuität zu
konstatieren wäre, dann ihre Einfühlung in die Interessen derer,
die am perfidesten töten, und allein aufgrund ihrer Eignung als
Totengräber als Stabilitätsgaranten identifiziert werden. Nichts
anderes heißt es, wenn etwa in Teheran die Munich Security
Conference, das deutsche Luxuslabel in der internationalen
Diplomatie, unter der Causa die „Bewältigung regionaler Krisen“
konferiert, wo doch der khomeinistische Iran Syrien als seine „35ste
Provinz, eine strategische Provinz“ (Mehdi Taeb) okkupiert (3).
Während die europäische Politik der klerikalen Despotie Iran als
„Stabilitätsgaranten“ schmeichelt, sperrt sie Geflüchtete vor
diesem Regime systematisch aus. Einige hundert blieb die
griechisch-mazedonische Grenze tagelang versperrt –
bis die griechische Polizei sie nach Athen verschleppte, von wo aus
ihnen die Abschiebung droht.
Während
neue Militärallianzen präsentiert werden – allein die exklusiv
islamische Koalition unter Führung Saudi-Arabiens umfasst 34 Staaten
-, ist Daʿish nach wie vor die Alibifunktion, um das Wesentliche zu
unterlassen. Dem westlichsten Kanton Syrisch-Kurdistan, Efrîn, droht
ähnliches wie Kobanê. Die syrisch-türkische Grenze ist hier
abgeriegelt, zu passieren ist sie im nächst gelegenen Azaz, das zur
Hälfte von der Jabhat al-Nusra kontrolliert wird. Der syrische
Branch von al-Qaida bedrängt mit Ahrar al-Sham Efrîn wie auch das
von der YPG gehaltene Sheikh Maqsood im nördlichen Halab. In einer
Fatwa identifiziert die Fatah Halab, eine lokale Militärkoalition,
die YPG als Kuffar, als „Ungläubige“. Es sind im Moment einzig
die Kantone Syrisch-Kurdistans, in dem der konfessionelle Irrsinn –
parteiübergreifend - durchbrochen wird, wo auf das Dröhnen der
Artillerie nicht ein verrohtes „Allahu Akbar“ folgt. Es mag
diesem Europa kulturrelativistischer Projektionen befremdlich sein,
wenn sich Frauen unter dem Kampfruf „Jin, Jiyan, Azadî“, „Frau,
Leben, Freiheit“, militant verschwören. Dem Regime der
Muslimbrüder ist es eine einzige Provokation, auch weil die
militante Jugend im eigenen Südosten mit „Autonomie“ droht.
Nicht zufällig liegt der Fokus der türkischen Konterguerilla vor
allem auf die Distrikte nah an Syrisch-Kurdistan: Nusaybin, Dargeçit,
Silopi und Cizre sowie – dahinter liegend - Diyarbakır und Silvan.
In Folge der intensivierten Militäroperationen wurden in einigen
dieser Distrikte die Autonomie ausgerufen. Und auch in Okmeydanı,
einem alevitisch geprägten Mahalle Istanbuls keine fünf Kilometer
von Taksim, werden die Straßen von der militanten Jugend, Yurtsever
Devrimci Gençlik Hareketi (YDG-H), kontrolliert, die Polizei
beschränkt sich hier noch darauf, Kanister an Reizgas in der
Dunkelheit zu entleeren. In Cizre, Silopi und anderswo im Südosten
hebt die YDG-H systematisch Gräben aus, um es der Konterguerilla zu
verunmöglichen, in den engen, verschachtelten Gassen voranzukommen.
Doch wo diese ausgesperrt ist, zerstört sie aus der Distanz
Strommasten, Trafostationen und Wasserdepots. Von Hügeln aus wird
die Munition geleert, ihre Sniper machen jede Bewegung auf den
verwaisten Straßen zum erlebten Nahtod. Dera und Homs grüßen in
jenen Tagen, wenn auch noch nicht dergleichen enthemmt, auch aus
Nusaybin und Cizre. Die Verhaftungen von Kommunalpolitikern und
anderen Oppositionellen dauern indessen an, jüngst wurden einige
Überlebende des Massakers von Suruç verhaftet und wieder und wieder
kommt es zu Toten bei Razzien auch in Istanbul, wieDilek
Doğan und Dilan
Kortak.
Die
europäische Flanke
Wo in diesen
Tagen aus dem militarisierten Distrikten circa 200.000 Menschen
geflüchtet sind, ist es das Kalkül der Europäer, den
entscheidenden Prellbock wider wilder Migration außerhalb Europas zu
installieren: In türkischen, von den Europäern finanzierten
Screeningszentren sollen die noch im Transit ausharrenden
Geflüchteten aus der syrischen oder irakischen Hölle aufgestaut
werden, wo nur einigen von ihnen die Gnade des Exils zu kommen wird.
Einige wenige Stunden nachdem sich das Regime mit den Europäern über
den Wert dieser Funktion geeinigt haben – allein den Deutschen ist
sie 500 Millionen € wert -, wurden die ersten 1.300 Flüchtenden
verhaftet. Eine Chance auf Screening ihrer „Asylrelevanz“ haben
sie nicht, was ihnen bevorsteht ist die Abschiebung nach Syrien, in
den Irak oder Iran. Mit Push-backs direkt an der türkisch-syrischen
Grenze und Abschiebungen in jene syrischen Territorien, die von Ahrar
al-Sham und Jabhat al-Nusra kontrolliert werden, werden al-Qaida und
ihre Offshoots zu verlängerten Funktionsträgern der
europäisch-türkischen Dezimierungspolitik, die ab dem 8. Januar
2016 mit der Visapflicht für Syrer institutionalisiert wird. Mit der
Gewissheit, dass der drohende Tod sie hinhält oder sie in letzter
Konsequenz physisch dezimiert, zwingt die europäisch-türkische
Kollaboration die Geflüchteten auf die noch riskanteren Routen.
Beinahe gleicht dies einem perfiden europäischen Kalkül, sich
zwischen dem Tod in Halab oder im namenlosen Meer, zwischen
Schrapnell oder Überfahrt in einer Nussschale zu entscheiden. Nicht
aber, dass in Folge dessen weniger flüchten werden. Um den
türkischen Patrouillen entlang der türkisch-griechischen Meerengen
zu entkommen, entscheiden sich mehr und mehr Flüchtende für die
Überfahrt nach Anbruch der Dunkelheit und riskieren bedrohliche
Umwege.
Diejenigen,
die überleben – noch sind es 50 auf jeden Toten -, treffen auf ein
Europa, das der Türkei der Muslimbrüder so unähnlich nicht ist. Im
Jahr 1997 traf sich Necmettin Erbakan - einige Wochen nach dem
sanften Coup des Militärs - in seiner Sommerresistenz in Altınoluk
an der türkischen Ägäis mit Jean-Marie Le Pen. Details der
Unterredung wurden nicht veröffentlicht, einzig, dass sich beide
über eine engere Kooperation verständigt hätten. Der Franzose Le
Pen erklärte, dass ihn das Erstarken des Islam in der Türkei
erfreue und darin auch ein Gewinn für das Nationale liege (4). Nach
Erbakans Niederlagen gegen das Militär manövrierten ihn seine
Ziehsöhne Erdoğan und Gül ins Abseits, er verstarb im Jahr 2011.
Der exzentrische Übervater der französischen Front National,
Jean-Marie Le Pen, wurde von seiner leiblichen Tochter Marine
innerhalb der Partei isoliert. Doch das ideologische Milieu der
beiden ist dasselbe geblieben. Das höchste ist diesem der Staat als
Familie, die Gewalt des Souveräns als väterliches Patriarchat,
Zwang als Kultur. Konsequent ist da die Feinderklärung von
Jean-Marie Le Pen an die Kosmopoliten von Charlie Hebdo nach dem
Massaker vom 7. Januar 2015, die Satiriker hätten einen
„anarchistisch-trotzkistischen Geist, der die politische Moral
zersetzt“. Kaum wahrgenommen wurde, weil der kalte,
kulturrelativistische Blick dem totalitären Anspruch der Despotie
auf geschlossene Einheit gleicht, dass in Ankara von jungen
Militanten eine Solidaritätsdemonstration für die Toten des
Massakers vom 7. Januar abgehalten wurde. Als sich in ihrer Nähe
islamistische Freunde des Todes aufstellten, wurden diese
augenblicklich in die Flucht geschlagen.
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