Mittwoch, 23. Dezember 2015

Die Ära der Esedullah - Anmerkungen zur Faschisierung der Türkei


Wie jede andere Gang hat die türkische Konterguerilla die zerschossenen Fassaden im tagelang abgeriegelten Silvan in der südöstlichen Provinz Diyarbakır markiert: „Wenn du ein Türke bist, sei stolz, wenn nicht gehorche“, „Wie glücklich derjenige, der sagt: Ich bin Türke“ oder „Die Türkische Republik ist hier, wo sind die Bastarde“. Neben der Reviermarkierung des Wolfsrudels im Staatsdienst hinterlässt vor allem die Gang Esedullah, „Allahs Löwen“, ihren Namen an durchlöcherten Fassaden zuvor abgeriegelter Distrikte. In İdil in der Provinz Şırnak ergeht sich die maskierte Konterguerilla im Gebrüll „Allahu ekber“ und in Sur, dem historischen Diyarbakır, seien unter den Paramilitärs, so die Eingeschlossenen, auffällig viele bärtige Männer. Die beidseitige Drohung mit nationalisiertem Islam und islamisiertem Nationalismus spricht auch aus Erdoğan, wenn er zu den Häretikern im Südosten sagt: „Wir akzeptieren keine weitere Flagge als die unsere. Was eine Flagge ausmacht, ist das damit vergossene Blut, wenn es ein Land gibt, wofür zu sterben ist, dann ist es das Vaterland. Unsere Flagge symbolisiert das Blut der Märtyrer, der Mond die Unabhängigkeit und der Stern die Märtyrer." Die Konterguerilla ist Ausdruck der voranschreitenden Racketisierung, die Einheit ausschließlich negativ realisiert: in der Verfolgung der Abgefallenen.


Ahmet Davutoğlu, Ministerpräsident von Erdoğans Gnaden, drohte im südöstlichen Van, dass auf die Verweigerung einer demokratischen Legitimierung der Despotie seiner Muslimbrüder eine Wiederkehr der schwarzen Ära der „beyaz toros“ folgen werde. Mit den weißen Renaults verschleppten und ermordeten Todesschwadronen in den 1990ern unzählige „Bastarde“, die weder stolz waren, Türken zu sein, noch gehorchten. Die demokratische Legitimierung wurde den Muslimbrüdern nicht verweigert. Ihre perfide Strategie „Chaos oder Stabilität“ ging auf. Sie provozierten den Tod im Südosten und das Pogrom im nationalistischen Stammland, wo sie das Milieu der Grauen Wölfe absorbierten. Keine Provinz, in der sie nicht Prozente dazugewannen, auch nicht im Südosten und das nachdem sie die Dämonen vergangen zu schienender Tage erzwungen haben, inklusive täglicher Inhaftnahmen von Oppositionellen, der Abriegelung ganzer Distrikte, extra-legaler Hinrichtungen und erzwungenem Verschwinden, dem Schänden von Toten und Niederwalzen von Gräbern als Drohung an die Lebenden sowie - das kannte die schwarze Ära der „beyaz toros“ noch nicht, aber die der „Esedullah“ – suizidalen Massakern in Suruç und Ankara mit 137 Toten. Es ist die Identifikation mit dem Aggressor, die Verschmelzung von Angst und Lust, Teil eines mörderischen Apparates zu sein, auf der die demokratische Legitimierung der Muslimbrüder fundiert. Die AK Parti Erdoğans profitiert mehr als alle anderen von der systematischen Paranoia, die konstitutiv ist für die nationale Identität. Jede Kritik, jeden Protest denunziert sie als perfide Intrige von außen. Während der Revolte im Jahr 2013 konterte das Regime und sein Brüllvieh, der Protest könne nur eine Verschwörung sein, da er doch in jenem Moment aufkomme, wo die Türkei bald den letzten Zins abgezahlt und sie den “unterdrückten Völkern” den Pfad vorgetrampelt habe. Nicht anders in diesen Tagen: Die PKK ist ihnen ein terroristisches Instrument der Imperialisten, eine Strategie, um Chaos zu säen und Unterwürfigkeit zu ernten.

Protest nach dem Massaker in Ankara: „Wir kennen den Mörder“ (Ufuk Koşar/NarPhotos)

Wie die Militärdiktatur vom 12. September 1980 die Hörigen mit der Angst vor einem Andauern der Pogrome und politischen Morde aus den vorangegangenen Jahren erzog, so disziplinieren die Muslimbrüder mit der Drohung, dass ohne erzwungene Stabilität die ökonomische Karriere ein abruptes Ende findet. Die Asphaltierung des Hinterlandes entspricht der Ermächtigung, das Hinterland anderswo – in den Distrikten der Abgefallenen - niederzuwalzen. Und noch als über den Asphalt gezogene Leiche ist einem im Südosten der Verdacht eingebrannt, das Vaterland zu bedrohen. Was an den Muslimbrüdern Angstschauer provoziert aber auch fasziniert, ist die Gewalt, die Gräben zu schütten und mit ihnen jede Dissidenz.

Auf den Staatszweck verpflichtet entspricht ihre Ideologie dem Zwang zur nationalen Homogenität in Ansehung der Krisenhaftigkeit der eigenen Staatlichkeit. Ihr Feind war nie der Staat Atatürks, es war die Säkularisierung, die sie als atheistische Entartung und Einfallsschleuse kommunistischer Subversion im Dienst jüdischer Konspirativität denunzierten. Wider Marx kursierten unter Grauen und Grünen Wölfen in den turbulenten Jahren vor der Grabesruhe der Militärdiktatur des 12. Septembers 1980 vor allem die Schriften eines Necip Fazıl Kısakürek, der selbst eine laizistische Jugend genoss und auf die renommierte Pariser Universität Sorbonne ging, bevor er seine religiöse Erweckung erlebte. Seine Schrift „Judentum-Freimaurerei-Wendehalsigkeit“ (Yahudilik-Masonluk-Dönmelik) und andere aus diesem Erweckungsmilieu entsprechen der türkischen Variante der „Protokolle“, sie gleichen dem Judenhass eines Theodor Fritschs oder Erich Ludendorffs (1). Den inneren Feind markierte Necip Fazıl in seiner Schrift „Die irrigen Abweichungen vom rechten Pfad“ (Doğru Yolun Sapık Kolları) aus dem Jahr 1978 in der religiösen Minorität der Aleviten, die er empfahl wie Unkraut herauszureißen. Das Jahr 1978 war das Jahr antialevistischer Pogrome, Rudelführer der Pogromisten waren Graue Wölfe. Sie identifizierten Aleviten mit kommunistischer Agitation und Dolchstoß. Necip Fazıl ist nach Erdoğan einer der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts, ein Idol seiner eigenen und aller folgenden Generationen. Eine weitere Schrift aus dem Jahr 1969, „Die religiösen Unterdrückten der vergangenen Epoche“ (Son Devrin Din Mazlumlari), hätte, so Erdoğan, sein Leben geändert. Necip Fazıl skizziert darin den jungtürkischen Coup gegen den Blutsultan Abdülhamid II. – sein Hamidiye Regime ermordete in den Jahren 1894–1896 über hunderttausend vor allem armenische Christen - als Intrige von Juden und Freimaurern.

Die Grauen Wölfe spüren dem Gerücht aggressiv nach, das der republikanischen Idee nachhängt: dass diese die Nation von Blut und Boden abstrahiere und somit empfänglich mache für kosmopolitische und individualistische Keime. So terrorisierten sie in den 1970ern selbst noch Staatsbedienstete, die mit zu viel Haut provozierten. Anders als bei den Grauen Wölfen ist das historische Substrat der Muslimbrüder nicht die Türkisierung als zentrales Moment des Modernisierungsregimes. Es ist vielmehr die beschädigte Modernisierung selbst, die sie als Erweckungsbewegung provozierte.

Der Modernisierungsauftrag des osmanischen Rumpfstaates bestand als erstes darin, aus den empirischen Menschen eine Nation zu konstituieren. Das Türkisierungsregime entschied die zentrale Frage, woraus diese zu machen ist, im Genozid. Im Jahr der Republikgründung 1923 wurde schließlich aller „verwaiste“ Besitz der ermordeten und geflüchteten Armenier konfisziert. Dieser vorletzte Schritt des Genozids – der letzte, die Schuldprojektion auf die Ermordeten, dauert an - war zugleich das Gründungsmoment der türkischen Bourgeoisie mit laizistischen Familiendynastien wie Koç und Sabancı. Doch jenes Establishment profitierte nicht nur von der ökonomischen 'Islamisierung', es eignete sich auch mehr und mehr die Kultur der ermordeten Ungläubigen an. Necmettin Erbakan, Gründer der Erweckungsbewegung „Milli Görüş“ und politischer Ziehvater Erdoğans, war getrieben vom Hass auf dieses Establishment der Abgefallenen; ein Hass, der rationalisiert werden konnte durch die reale Konzentration der Industrie und Kreditmaschinerie auf einige wenige westtürkische Monopolisten. Er propagierte den stillen Marsch durch die Institutionen, die Übernahme der Industriekammern im Interesse einer initialen Akkumulation eines grünen Kapitals im stehengebliebenen Anatolien. Seine Schriften waren durchzogen von einer schweren narzisstischen Kränkung, dass das türkische Vaterland, als Nabel des gewaltigen Osmanlı İmparatorluğu, herabgewürdigt werden konnte zur blutleeren wie gottlosen laizistischen Republik. Seine Großmachtphantasie war bei ihm wie selbstverständlich mit deutscher Ideologie durchtränkt. Die Krise ist Erbakan zufolge, der 1953 an einer deutschen Technischen Universität promovierte und bis zu seinem Tod der technischen Detailverliebtheit der Deutschen und ihrer „Ernsthaftigkeit und Organisiertheit“ schmeichelte, dem Kapital nur künstlich eingepflanzt. Es sei der Zins, der sie in die Produktion hineintrüge und als Nadelöhr kommunistischer Subversion fungiere. Sein zentraler Ruf - „Wieder eine große Türkei“ - sollte folglich durch religiöse Erbauung der entfremdeten Muslime und einer forcierten Industrialisierung realisiert werden.

Beide Kontrabewegungen, Graue wie Grüne Wölfe, brüteten noch in ihren ersten Tagen imperialistische Gegenstrategien wider die universalistische Drohung mit der Moderne aus. Dass die Flagge mit dem einen Halbmond die einzige ist, die Erdoğan legitim ist, ist gelogen. Die ideologische Kaderschmiede Erdoğans: die Osmanlı Ocakları, die nicht nur namentlich von dem faschistischen Idealistenrudel der Grauen Wölfe, Ülkü Ocakları, inspiriert ist, tritt unter einer anderen Flagge als der republikanischen auf: Auf dem Grün des Islam prangt für jeden Kontinent, auf dem die osmanischen Imperialisten zu anderen Tagen Territorien beherrschte, ein Halbmond. In dem Intro jeder größeren Ansprache grüßt Erdoğan „seine Brüder“ in Sarajevo, Kosovo, Ramallah und anderen Gegenden, auf die der Schatten vergangener osmanischer Größe schielt. Die Grauen Wölfe dagegen adressierten ihre Identifikation entlang völkischer Kriterien, ihr Osmanlı İmparatorluğu steht als Büyük Türkistan, als ein „Großturkistan“, wieder auf. Das antiimperialistische Gejaule der Wölfe, der zwanghafte Reflex, jede innere Uneinigkeit als Kabale von außen zu exorzieren, verrät: sie projizieren ihr aggressives Inneres auf ein Äußeres.

Anders die Muslimbrüder, die als Panislamisten Türken und Kurden bei territorialer Integrität des einen Vaterlandes unter dem Banner des Islam einigen wollen. Staatsbedienstete erzogen Generationen an Kindern, die vor ihren Lehrern anderes sprachen als Türkisch, mit Prügel und dem Schwur: "Wie glücklich derjenige, der sagt: Ich bin Türke", unter den Muslimbrüdern dagegen bringen die Staatsimame den Qur'an in Kurmancî unter die Frommen. Was das Regime der Muslimbrüder in diesen Tagen in den abgeriegelten Distrikten des Südostens verfolgt, ist nicht der staatsloyale Kurde, der betet und buckelt und sich über das Urnengrab beugt. Die ersten Distrikte und Provinzen, die Erbakans Milli Selamet Partisi 1973 und 1977 an sich nahmen, lagen im Südosten. Noch heute halten die Muslimbrüder Provinzen wie Bingöl, Elazığ und Şanlıurfa, wo die feudale Organisiertheit in Aşirets eng verwebt ist mit dem Repressionsapparat, das Dorfschützersystem Koruculuk Sistemi ist Teil der Konterguerilla sowie der organisierten Kriminalität. Das Regime der Muslimbrüder verfolgt jene, die Misstrauen provozieren, für anderes als für „die Generation von 1071“ einzustehen (2). Es kommt über die Religion zu denselben Konsequenzen für die Abgefallenen des Vaterlandes. Wie nur der eine Gott existiert, so haben auch nur ein Staat, eine Flagge, eine Partei zu existieren. „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten“, so die berüchtigte Aussage Erdoğans, für die er sich im Jahr 1998 noch vor Gericht zu verantworten hatte, aus der in diesen Tagen, wo Militär und Justiz auf eine Funktion heruntergebracht sind, viel mehr das Aufgehen islamistischer Ideologie im Staat, dieser verwundeten Kollektivbestie, spricht. Das Gerücht, das die Muslimbrüder zur Propaganda machen, fingiert Oppositionelle zu Ungläubigen, Feinden Gottes und „Fremden unter uns“ (Erdoğan). So empört sich Erdoğan vor seinem Brüllvieh im Südosten, dass die Opposition sage: 'Jerusalem den Juden', also die Ummah verrate, und Zarathustras Philosophie als wahre Religion propagiere. Indessen schreitet die Nazifizierung der Propaganda voran: Jüngst wurde vom seriösen „Kanal A“ der Einmarsch türkischer Militärs in die irakische Provinz Mosul mit dem Gerücht flankiert, dass einige 'neutralisierte' Kader der PYD Davidsterne trugen.

Euphorisiert durch die Erfolge der ideologischen Brüder in Tunesien und Ägypten brach das türkische Regime Ende des Jahres 2011 radikal mit Bashar al-Assad, nachdem es zuvor noch befürchtet hatte, dass eine Schwächung Assads einer Stärkung der PYD gleichkäme. Vor allem mit Qatar beschleunigte es die Militarisierung und Islamisierung der Opposition. Neben der AK Parti selbst sind es NGOs aus dem ideologischen Milieu der Muslimbrüder wie die berüchtigte İHH, die aus den Grenzprovinzen Hatay, Kilis und Gaziantep ein türkisches Peshawar machten. In der Grenzprovinz Idlib ist es die Jaysh al-Fatah, eine Militärallianz von Jabhat al-Nusra und Ahrar al-Sham, die auf eine logistische Flanke der türkischen Muslimbrüder vertrauen kann. Ihre jüngste Affäre ist das Ahrar al-Sham Offshoot Jaysh al-Sham, das von sich behauptet, sich ausschließlich aus Syrern zu rekrutieren. Dies ist inzwischen das wesentliche Kriterium dafür, wer Potenzial zum Stabilitätsfaktor hat und wer nicht.

Doch ein regime change hin zu einem sunnitischen Satellitenstaat bleibt aus und die Aussicht Erdoğans, in Damaskus zu beten, schwindet. Weder das Regime Bashar al-Assads noch die islamisierte Opposition können die syrische Katastrophe für sich entscheiden. Wo es nicht der explodierende Stahlschrott mit Todesgrüßen Assads oder Putins ist, ist es die Rivalität um die Beute oder die Methoden einer Ökonomie der Geiselhaft, die Syrien weitflächig mehr und mehr von Menschen entleeren. Wo es Bashar al-Assad an Rekruten fehlt, sind es Mujahedeen der Shiah aus dem Irak, dem Libanon und anderswo sowie afghanische Zwangsrekruten, mit denen die khomeinistische Despotie Iran sich seinen Satelliten, ein Rumpfstaat Typ „Südlibanon“, erzwingt.

Während Erdoğans neo-osmanische Expansion in Syrien strauchelt, hat sich entlang der türkisch-syrischen Grenze ein säkulares Syrisch-Kurdistans behauptet, das augenblicklich der Despotie der Muslimbrüder die gröbste Provokation ist. Ahmet Davutoğlu droht der YPG, der de-Facto-Armee Syrisch-Kurdistans, ausdrücklich vor einem Überqueren des Euphrat und der Einnahme von Cerablus, der einzig verbliebenen Grenzstadt unter Kontrolle von Daʿish. Damit diese Drohung auch ankommt, wird das östlich vom Euphrat liegende Tel Abyad wieder und wieder von türkischer Artillerie gekitzelt. Dass die US-Amerikaner darüber rätseln wie sie Daʿish ohne die YPG aus Cerablus herausdrängen können, um das türkische Regime nicht zu reizen, sagt nahezu alles über die tödliche Farce der aus mehr als 40 Staaten bestehenden Koalition gegen den einen Pseudostaat Daʿish. Es sind noch nahezu hundert Kilometer entlang der türkisch-syrischen Grenze, die Daʿish weiterhin unbelästigt kontrolliert, ihre logistische Ader und das Nadelöhr für ihre Todesschwadrone. Eine solche ermordete am 30. Oktober Ibrahim Abd al-Qader und seinen Freund Fares Hamadi in Urfa. Der Ermordete war Mitbegründer von „Raqqa is Being Slaughtered Silently“, der letzten verbliebenen Opposition in Raqqa. Wenn in diesen Tagen der europäischen und US-amerikanischen Politik eine Kontinuität zu konstatieren wäre, dann ihre Einfühlung in die Interessen derer, die am perfidesten töten, und allein aufgrund ihrer Eignung als Totengräber als Stabilitätsgaranten identifiziert werden. Nichts anderes heißt es, wenn etwa in Teheran die Munich Security Conference, das deutsche Luxuslabel in der internationalen Diplomatie, unter der Causa die „Bewältigung regionaler Krisen“ konferiert, wo doch der khomeinistische Iran Syrien als seine „35ste Provinz, eine strategische Provinz“ (Mehdi Taeb) okkupiert (3). Während die europäische Politik der klerikalen Despotie Iran als „Stabilitätsgaranten“ schmeichelt, sperrt sie Geflüchtete vor diesem Regime systematisch aus. Einige hundert blieb die griechisch-mazedonische Grenze tagelang versperrt – bis die griechische Polizei sie nach Athen verschleppte, von wo aus ihnen die Abschiebung droht.

Während neue Militärallianzen präsentiert werden – allein die exklusiv islamische Koalition unter Führung Saudi-Arabiens umfasst 34 Staaten -, ist Daʿish nach wie vor die Alibifunktion, um das Wesentliche zu unterlassen. Dem westlichsten Kanton Syrisch-Kurdistan, Efrîn, droht ähnliches wie Kobanê. Die syrisch-türkische Grenze ist hier abgeriegelt, zu passieren ist sie im nächst gelegenen Azaz, das zur Hälfte von der Jabhat al-Nusra kontrolliert wird. Der syrische Branch von al-Qaida bedrängt mit Ahrar al-Sham Efrîn wie auch das von der YPG gehaltene Sheikh Maqsood im nördlichen Halab. In einer Fatwa identifiziert die Fatah Halab, eine lokale Militärkoalition, die YPG als Kuffar, als „Ungläubige“. Es sind im Moment einzig die Kantone Syrisch-Kurdistans, in dem der konfessionelle Irrsinn – parteiübergreifend - durchbrochen wird, wo auf das Dröhnen der Artillerie nicht ein verrohtes „Allahu Akbar“ folgt. Es mag diesem Europa kulturrelativistischer Projektionen befremdlich sein, wenn sich Frauen unter dem Kampfruf „Jin, Jiyan, Azadî“, „Frau, Leben, Freiheit“, militant verschwören. Dem Regime der Muslimbrüder ist es eine einzige Provokation, auch weil die militante Jugend im eigenen Südosten mit „Autonomie“ droht. Nicht zufällig liegt der Fokus der türkischen Konterguerilla vor allem auf die Distrikte nah an Syrisch-Kurdistan: Nusaybin, Dargeçit, Silopi und Cizre sowie – dahinter liegend - Diyarbakır und Silvan. In Folge der intensivierten Militäroperationen wurden in einigen dieser Distrikte die Autonomie ausgerufen. Und auch in Okmeydanı, einem alevitisch geprägten Mahalle Istanbuls keine fünf Kilometer von Taksim, werden die Straßen von der militanten Jugend, Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi (YDG-H), kontrolliert, die Polizei beschränkt sich hier noch darauf, Kanister an Reizgas in der Dunkelheit zu entleeren. In Cizre, Silopi und anderswo im Südosten hebt die YDG-H systematisch Gräben aus, um es der Konterguerilla zu verunmöglichen, in den engen, verschachtelten Gassen voranzukommen. Doch wo diese ausgesperrt ist, zerstört sie aus der Distanz Strommasten, Trafostationen und Wasserdepots. Von Hügeln aus wird die Munition geleert, ihre Sniper machen jede Bewegung auf den verwaisten Straßen zum erlebten Nahtod. Dera und Homs grüßen in jenen Tagen, wenn auch noch nicht dergleichen enthemmt, auch aus Nusaybin und Cizre. Die Verhaftungen von Kommunalpolitikern und anderen Oppositionellen dauern indessen an, jüngst wurden einige Überlebende des Massakers von Suruç verhaftet und wieder und wieder kommt es zu Toten bei Razzien auch in Istanbul, wieDilek Doğan und Dilan Kortak.

Die europäische Flanke

Wo in diesen Tagen aus dem militarisierten Distrikten circa 200.000 Menschen geflüchtet sind, ist es das Kalkül der Europäer, den entscheidenden Prellbock wider wilder Migration außerhalb Europas zu installieren: In türkischen, von den Europäern finanzierten Screeningszentren sollen die noch im Transit ausharrenden Geflüchteten aus der syrischen oder irakischen Hölle aufgestaut werden, wo nur einigen von ihnen die Gnade des Exils zu kommen wird. Einige wenige Stunden nachdem sich das Regime mit den Europäern über den Wert dieser Funktion geeinigt haben – allein den Deutschen ist sie 500 Millionen € wert -, wurden die ersten 1.300 Flüchtenden verhaftet. Eine Chance auf Screening ihrer „Asylrelevanz“ haben sie nicht, was ihnen bevorsteht ist die Abschiebung nach Syrien, in den Irak oder Iran. Mit Push-backs direkt an der türkisch-syrischen Grenze und Abschiebungen in jene syrischen Territorien, die von Ahrar al-Sham und Jabhat al-Nusra kontrolliert werden, werden al-Qaida und ihre Offshoots zu verlängerten Funktionsträgern der europäisch-türkischen Dezimierungspolitik, die ab dem 8. Januar 2016 mit der Visapflicht für Syrer institutionalisiert wird. Mit der Gewissheit, dass der drohende Tod sie hinhält oder sie in letzter Konsequenz physisch dezimiert, zwingt die europäisch-türkische Kollaboration die Geflüchteten auf die noch riskanteren Routen. Beinahe gleicht dies einem perfiden europäischen Kalkül, sich zwischen dem Tod in Halab oder im namenlosen Meer, zwischen Schrapnell oder Überfahrt in einer Nussschale zu entscheiden. Nicht aber, dass in Folge dessen weniger flüchten werden. Um den türkischen Patrouillen entlang der türkisch-griechischen Meerengen zu entkommen, entscheiden sich mehr und mehr Flüchtende für die Überfahrt nach Anbruch der Dunkelheit und riskieren bedrohliche Umwege.

Diejenigen, die überleben – noch sind es 50 auf jeden Toten -, treffen auf ein Europa, das der Türkei der Muslimbrüder so unähnlich nicht ist. Im Jahr 1997 traf sich Necmettin Erbakan - einige Wochen nach dem sanften Coup des Militärs - in seiner Sommerresistenz in Altınoluk an der türkischen Ägäis mit Jean-Marie Le Pen. Details der Unterredung wurden nicht veröffentlicht, einzig, dass sich beide über eine engere Kooperation verständigt hätten. Der Franzose Le Pen erklärte, dass ihn das Erstarken des Islam in der Türkei erfreue und darin auch ein Gewinn für das Nationale liege (4). Nach Erbakans Niederlagen gegen das Militär manövrierten ihn seine Ziehsöhne Erdoğan und Gül ins Abseits, er verstarb im Jahr 2011. Der exzentrische Übervater der französischen Front National, Jean-Marie Le Pen, wurde von seiner leiblichen Tochter Marine innerhalb der Partei isoliert. Doch das ideologische Milieu der beiden ist dasselbe geblieben. Das höchste ist diesem der Staat als Familie, die Gewalt des Souveräns als väterliches Patriarchat, Zwang als Kultur. Konsequent ist da die Feinderklärung von Jean-Marie Le Pen an die Kosmopoliten von Charlie Hebdo nach dem Massaker vom 7. Januar 2015, die Satiriker hätten einen „anarchistisch-trotzkistischen Geist, der die politische Moral zersetzt“. Kaum wahrgenommen wurde, weil der kalte, kulturrelativistische Blick dem totalitären Anspruch der Despotie auf geschlossene Einheit gleicht, dass in Ankara von jungen Militanten eine Solidaritätsdemonstration für die Toten des Massakers vom 7. Januar abgehalten wurde. Als sich in ihrer Nähe islamistische Freunde des Todes aufstellten, wurden diese augenblicklich in die Flucht geschlagen.


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