Während
das Reizgas, die Kämpfe und Panik an der ungarisch-serbischen Grenze
die syrischen Geflüchteten damit konfrontierten, dass es ihr Stigma
sein muss, Ghouta überlebt zu haben, schraubten die Deutschen an
ihrer Asylgesetzgebung, die alsbald die Mehrheit der Durchgekommenen
mit einem systematischen Aushungern bedroht:
Wer irgendwo anders in das System „Dublin III“ hineingezwungen
wurde, wird von allem ausgesperrt, was bis dahin seine physische
Existenz garantierte. Das einzige, was ihm noch gewährt wird, wäre
das Ticket dahin, wo er der Registrierung nicht entkommen konnte*,
also nach Ungarn, wo das nationalkonservative Fidesz-Regime mit jenen
konkurriert, die auf den Mordbefehl bei illegalem Grenzübertritt
drängen, oder in andere Staaten fürs Grobe. Das perfide Kalkül ist
es, den entscheidenden Prellbock wider wilder Migration außerhalb
Europas zu installieren. In türkischen, von den Europäern
finanzierten Screeningszentren sollen die noch im Transit
ausharrenden Geflüchteten aus der syrischen oder irakischen Hölle
aufgestaut werden, wo nur den wenigsten von ihnen die Gnade des Exils
zu kommen wird. Wo im türkischen Südosten das Militärregime sich
wieder erhebt, inklusive den Methoden vergangener Tage: die
Abriegelung ganzer Distrikte, tägliche Inhaftnahmen von
Oppositionellen, extra-legale Hinrichtungen und erzwungenes
Verschwinden, das Schänden von Toten und Niederwalzen von Gräbern
als Drohung an die Lebenden, wollen einige Europäer dieses Regime
der türkischen Muslimbrüder als das verabsolutieren,
wonach der europäische Abschiebeapparat und die türkische
Propaganda zugleich verlangen: zu einem Souverän, dessen väterliche
Liebe keiner zu fürchten habe - außer diejenigen, die den Vater
nicht ehren.
Ahmet
Davutoğlu konterte jüngst vor den „Vereinten Nationen“ diesem
perfiden Kalkül der Europäer mit einem noch perfideren Kalkül: In
einer endloser Prärie aus Containern in Nordsyrien, zwischen Azaz
und Cerablus, könnten demnach bis zu eine Million Menschen
aufgestaut werden. Damit würden die im türkischen Transit
ausharrenden syrischen Exilanten zur Vorrichtung gemacht werden, um
eine Anbindung von Efrîn, dem westlichsten Kanton
Syrisch-Kurdistans, an die beiden östlichen, Kobanê und Hesîçe,
zu verunmöglichen. Die Kontrolle über jene zerrissene Region
würden, sobald diese militärisch gesichert ist, Kollaborateure aus
der syrischen Menschenschlacht übernehmen – zu einigen kommen wir
noch flüchtig.
Als
im Juni die YPG, die De-Facto-Armee Syrisch-Kurdistans, die
türkisch-syrische Grenzstadt Girê Spî (arabisch: Tel Abyad)
einnahm, und in der Folge das westlich gelegene Kobanê mit dem
östlichen Serê Kaniyê vereinte, empörte sich das Regime der
türkischen Muslimbrüder, die „terroristische“ YPG zwinge bei
ihrem militärischen Vorstoß systematisch verbrüderte Turkmenen und
Araber in die Flucht. Einige der schlagkräftigsten islamistischen
Milizen - unter ihnen die mit al-Qaida verschwägerte Ahrar al-Sham,
die saudisch inspirierte Jaysh al-Islam sowie die aus dem
ideologischen Milieu der Muslimbrüder kommenden und mit Qatar
assoziierten Faylaq al-Sham und Jaysh al-Mujahedeen - erhoben in
einem Brandbrief dieselbe
Beschuldigung. Die YPG widersprach den Gerüchten wie auch die
arabischen Alliierten von der Burkan al-Furat und die vor den Kämpfen
Geflüchteten. Droht in den kommenden Tagen mit der Einnahme von
Cerablus durch die YPG das noch einzig verbliebene Nadelöhr der
islamistischen Genozideure von Daʿesh gestopft zu werden, kursieren
wieder dieselben Gerüchte. Vorgebracht werden sie von einer
panturanistischen Organisation exilierter syrischer Turkmenen mit
Sitz in Istanbul und eigenem militärischen Flügel in der syrischen
Hölle. Ihr Repräsentant Abdurrahman Mustafa begrüßteden
Vorschlag von Ahmet Davutoğlu, in der Region um Azaz und Cerablus
Flüchtende zu konzentrieren, ausdrücklich als Prellbock wider der
„terroristischen“ YPG. Beschwören diese turkmenischen
Nationalisten noch die Einheit Syriens, ist ihre Ideologie ein
Abgleich des völkischen und islamistischen Ideologieamalgam der
Grauen Wölfe. Ihr Batı Türkmeneli („Östliches Turkmenistan“)
greift von Idlib über Halab und Rakka nach al-Hasakah, die Namen der
Brigaden und Bataillone ihres militärischen Flügels bezeugen die
neuosmanische Regression. Benannt sind sie nach Sultan Murad,
Abdülhamit Han, Fatih Sultan Mehmed und Yıldırım Bayezid. Mit
Burak Mişinci schloss sich ihnen ein Grauer Wolf aus Istanbul an, in
seinen Abschiedsworten beschwor er
den Wunsch, in Syrien Aleviten und Armenier zu enthaupten. Zu seiner
Märtyrerbeerdigung in Maltepe im anatolischen Istanbul kamen auch
Parteifunktionäre der MHP; das Banner, unter dem sich die Trauernden
einfanden, trug die Drohung: „Auch wenn unser Blut fließt, der
Sieg gehört dem Islam“. Wie in der türkischen
Verschwörungsindustrie, in der systematisch die phantasierten und
realen Feinde des Vaterlands aus dem Islam exkommuniziert, also zu
'Krypto-Juden' oder 'camouflierten Christen' transformiert werden,
wird in diesem panturanistischen Milieu die PKK als getarnte
Nachfolgeorganisation der armenischen Rachebrigade Asala denunziert.
Die Region um
Azaz und Cerablus, wo nach Ahmet Davutoğlu ein Teil der syrischen
Flüchtenden konzentriert werden soll, entspricht der Pufferzone, die
das türkische Regime der Muslimbrüder gegenüber den US-Amerikanern
und Europäern einfordert. Die noch zu anrüchige Jabhat al-Nusra,
die offizielle Filiale von al-Qaida in der syrische Hölle, übertrug
inzwischen die Kontrolle einiger ihrer Territorien an die Sultan
Murad Brigade, die in den Koalitionen „Fatah Halab“ und „Ansar
al-Sharia“ mit al-Nusra, Ahrar al-Sham, Jaysh al-Islam, Faylaq
al-Sham sowie weiteren islamistischen Brigaden kooperiert. Vereint
drohen sie im Moment den YPG-kontrollierten Distrikt Sheikh Maqsood
im nördlichen Halab auszuhungern. In einer Fatwa identifiziert die
Fatah Halab die YPG als Kuffar, als „Ungläubige“.
Neben
den Turkmenen-Brigaden sind Ahrar al-Sham, Jaysh al-Islam und Faylaq
al-Sham die zentralen Kooperationspartner des Regimes der türkischen
Muslimbrüder. Jaysh
al-Islam und Jaysh
al-Mujahedeen haben
der Türkei ihre konkrete Solidarität wider der „Ungläubigen“
der PKK ausgesprochen, Ahrar
al-Sham schloss
sich der Forderung nach einer Pufferzone an, die YPG und Daʿesh
aussperren soll. Die Ideologie dieser Nationaljihadisten integriert
sich in den nicht nur kolportierten Schlafruf „Christen nach
Beirut, Alawiten ins Grab“. Zahran Alloush, Kommandant der Jaysh
al-Islam, propagierte noch zu Ramadan 2013 die Reinigung Syriens von
den „Rafida“, „den Ablehnenden“ wie die Angehörigen der
Shiah verächtlich genannt werden, von „Nusairiern“, die von der
Assad-Despotie in Geiselhaft gehaltene religiöse Minorität der
Alawiten, sowie von „Feueranbetern“, den Zoroastriern. Die
religiöse Minorität der Alawiten, so Alloush, sei ungläubiger als
Juden und Christen, was ihn nicht davon abhält, Konkurrenten
innerhalb des Islams als Juden zu enttarnen. Inzwischen hat Alloush
seine Rhetorik ein wenig abgeschwächt - auch die Jaysh al-Islam
kalkuliert im Schatten von Daʿesh auf eine Funktion bei der
'Stabilisierung' Syriens.
Nicht,
dass das Regime Bashar al-Assads und die khomeinistische Despotie
Iran, die Syrien als ihre „35ste Provinz, eine strategische
Provinz“ (so der wortmächtige Mullah Mehdi
Taeb)
markiert hat, eine andere Opposition zugelassen hätten. Im
sektiererischen Furor sind die Mujahedeen der Shiah – Hezbollah,
Qods-Pasdaran, Asa'ib Ahl al-Haq, Kata'ib Sayyid al-Shuhada, Ansar
Allah -, die der klerikalfaschistische Iran in die syrische Hölle
abkommandiert hat, der salafistischen Konkurrenz kaum unterlegen, im
Hass auf die Juden und die 'Kuffar' und in der Akkumulation des Todes
sowieso nicht. Wo diese schiitische Daʿesh uneingeschränkt
herrscht, in weiten Teilen Baghdads oder Tehran, verfolgen sie
unnachgiebig alle, die als lebende 'Beleidigung des Islam'
identifiziert werden: vermeintliche Homosexuelle, unverschleierte
Frauen, junge Liebespärchen. Es liegt in ihrer Strategie, den
konfessionellen Konflikt systematisch zu eskalieren. Der
khomeinistische Iran verfolgt mit dieser Eskalation, sich als
Souverän des schiitischen Halbmondes, der durch eine aggressive
Missionierung bis nach Syrien gestreckt wird, zu installieren. Daʿesh
fungiert dem Iran hierbei als sunnitischer Komplementär. Der Iran
führt indessen direkte Gespräche mit dem Feind über das Abstecken
Syriens nach Konfessionen und strategischem Interesse. In der Türkei
trafen sich Iraner mit Ahrar al-Sham, um zu einem Ausgleich zu kommen
bei dem beidseitigen Aushungern der von Ahrar al-Sham und Jabhat
al-Nusra gehaltenen strategisch sensiblen Ruine Zabadani und den in
Idlib liegenden schiitischen Exklaven al-Fuaa und Kafariya. Eine
Verständigungscheiterte,
so Ahrar al-Sham, an dem Assad-Regime.
Einen
Tag bevor Ahmet Davutoğlu vor den „Vereinten Nationen“
ausführte, dass das flüchtige Leben doch noch eine Funktion haben
kann, sprach der
türkische Ministerpräsident im ehrwürdigen Waldorf Astoria vor
Gästen aus der türkischen Diaspora Amerikas. Davutoğlu forderte
diese auf, den Kampf zu führen gegen die „armenische, griechische
und jüdische Lobby“, die sich gegen das türkische Vaterland
verschworen hätten. Im neunundneunzigsten Jahr nach dem Genozid an
den anatolischen Christen hat Daʿish nicht nur aus Mosul, wohin
einst die Todesmärsche führten, die letzten Christen und Eziden
ausgestoßen, im neunundneunzigsten Jahr nach dem Genozid an den
anatolischen Christen, in dessen Schatten auch den Eziden in
Diyarbakır und Batman, in Urfa und Mardin nichts anderes bevorstand
als Schlachtung oder Flucht, wurde nicht nur Şengal, dessen Gebirge
vielen Eziden und assyrischen Christen das Überleben versprach, zum
Grab gemacht. In dem neunundneunzigsten Jahr wurden nicht nur
die assyerisch-christlichen Überlebenden dieses Genozids im Khabur
Tal im nordöstlichen Syrien zu Geißeln. In diesem
neunundneunzigsten Jahr vergeht auch kein Tag, wo in der Türkei
nicht zwanghaft die empirische Uneinigkeit auf die Toten und
Überlebenden projiziert wird, wo systematisch die Paranoia, die
Ermordeten und Verleugneten könnten aus ihren Gräbern aufstehen und
als pseudokonvertierte Christen und Juden Rache nehmen und den Spalt
ins imaginierte Vaterland schlagen, gekitzelt wird.
Noch der
nationalistische Furor als ideologisches Echo der Konterguerilla
kommt nur ganz zu sich selbst, wo er die dem Vater Treulosen unter
den Kurden, die Verräter an der propagierten türkisch-kurdischen
Brüderlichkeit, als getarnte Armenier oder Pseudokonvertiten
markiert. Während in diesen Tagen die Militärpolizei durch das
zerschossene Cizre patrouilliert und durch das Chassis dröhnt: „Ihr
seid alle Armenier, ihr seid armenische Bastarde" ist der
Schlachtruf der islamisierten Nationalisten im einstigen Istanbuler
Christenviertel Şişli, wo am 19. Januar 2007 Hrant Dink ermordet
worden ist, „Wir verwandeln Şişli in ein armenisches Gräberfeld“.
Özcan
Alper begibt sich als Regisseur in die vergangenen Tage der Türkei,
die nicht enden wollen. Seine jüngste cineastische Kritik an dieser
andauernden Katastrophe, „Memories
of the Wind“ (Rüzgarın
Hatıralar), beginnt im Jahr 1942 in Istanbul. Seine Hauptfigur Aram,
ein armenischer Kommunist und Publizist, ist einer der wenigen
Überlebenden der Massaker und Deportationen in den Jahren 1915 bis
1923, die in den Folgejahren einer Zwangstürkisierung ohne Hoffnung
auf Assimilierung unterworfen waren. Sie galten, wie die Juden,
höchstens als Kanun Türkü, „gesetzliche Türken“, mit dem
ihnen eingebrannten Stigma, keine Muslime von Geburt zu sein. In
Folge von Kampagnen wie Vatandaş Türkçe konuş („Landsmann,
sprich türkisch“) hetzte und prügelte das nationalistische
Brüllvieh Menschen mit untürkischem Zungenschlag und drang ins
jüdische Charité Istanbuls ein, um die hebräische Inschrift
herauszuschlagen. Vor allem das kosmopolitische Pera, das heutige
Beyoğlu, sowie Izmir, die „Stadt der Ungläubigen“ (gavur
şehri), provozierten mit ihren Kirchen und Synagogen.
Dieses
nationalistische Milieu, brachte alsdann auch Faszination für die
nationalsozialistische Erweckung der Deutschen hervor.** Cevat Rıfat
Atilhan, der 1964 den Vorsitz des Kongresses Islamischer Staaten
übernahm, reiste Ende 1933 auf Einladung Julius Streichers nach
München, schrieb selbst für den „Stürmer“ und gründete mit
Milli İnkılap („Nationale Revolution“) eine eigene türkische
Variante dieser pornofaschistischen Gazette des Judenhasses. Die
antisemitische Hasskampagne der Milli İnkılap 1934 traf sich mit
den Plänen des Türkisierungsregimes Mustafa Kemals. Ein
Deportationsgesetz vom 10. Juni 1934 markierte verschiedene Zonen für
verschiedene Strategien der Menschenverschiebung. Ende Juni 1934
wurde in Folge dessen und flankiert durch eine Boykottkampagne und
weitere systematische Drangsalierungen den Juden aufgezwungen, aus
dem türkischen Thrakien zu flüchten. Manche zogen bis nach
Barcelona, andere harrten vorerst in Istanbul aus. Mörderisch traf
das Deportationsgesetz die alevitische Region Dersim, wo die
Türkisierung in 50 kg schweren Bomben anflog.
Die
Atmosphäre im einst kosmopolitischen Istanbul, in dem der Publizist
Aram lebt, ist bedrückend. Im Mai 1941, während des deutschen
Vormarsches auf dem Balkan, wurden über Nacht christliche und
jüdische Männer zwischen 25 und 45 Jahren nach Zentralanatolien
deportiert, wo sie in Steinbrüche oder zum Ausheben von Gräben
gezwungen wurden. Der Aufruf zum Dienst am Volk sprach ausschließlich
von gayri müslimleri, „Nicht-Muslimen“. Auf die
Zwangsrekrutierung folgte am 12. November 1942 die Varlık Vergisi,
eine Extrabesteuerung mit völlig unterschiedlichen
Berechnungsschlüsseln für Muslime, Christen, Juden und Konvertiten.
Eine Hasskampagne karikierte in diesen Tagen Juden als „Schieber“
und „Täuscher“, wo es doch die wuchernde Militarisierung und
staatlichen Zwangsaufkäufe waren, die eine horrende Inflation
heraufbeschwörten. In Istanbul mussten 90 Prozent der Steuerschuld
von Christen und Juden aufgebracht werden, die systematisch in den
ökonomischen Ruin gezwungen wurden. Es waren ausschließlich die
Namen der jüdischen und christlichen Steuerpflichtigen, die
öffentlich angeschlagen wurden. Wer nicht zahlen konnte, wurde ins
östliche Aşkale deportiert, wo mit Steineschleppen oder
Schneeschaufeln die Schuld beglichen werden konnte.
Arams
Steuerschuld übertrifft den Wert seiner Druckpressen. Nachdem das
nationalistische Brüllvieh ihn und seine Genossen überfiel, drängt
ein Freund Aram, Istanbul zu verlassen. In Şavşat, an der
türkisch-georgischen Grenze liegend, wird er von Mikail und seiner
jüngeren aber nicht weniger mysteriösen Frau Meryem in einer im
Wald eingegrabenen Berghütte untergebracht. Mikail warnt vor der
Flucht in die Sowjetunion. Auch dort wäre er ein Fremder, ein der
Spionage Verdächtigter. Regisseur Özcan Alper erinnert im Gespräch
an Zabel Yesayan, eine armenische Überlebende des Genozids und
Kommunistin aus Istanbul, die 1937 im sowjetischen Exil
„separatistischer Tendenzen“ beschuldigt und 1943 in Sibirien
ermordet wird. Nachdem zur Abschreckung einige Ackermänner als
russische „Spione“ verhaftet werden, ist auch das Dorf im Tal von
Paranoia und Angst beherrscht. Das Ausharren Arams im dichten Wald,
die zermürbenden Regenfälle, das ständige Donnern ohne Aufbrechen
der dunkel durchzogenen Wolken erzeugen eine physische und psychische
Bedrückung als hätten Natur und Politik sich gegen den Flüchtenden
verschworen. Walter Benjamin, den Özcan Alper wie Adorno, Zweig und
andere Exilanten in Rüzgarın Hatıralar zitiert, hat im Exil der
Starre sein Leben beendet. Flucht ohne Entkommen.
Im Gespräch
erzählt Özcan Alper von der Struma, ein rumänischer
Passagierdampfer, der am 15. Dezember 1941 mit 769 jüdischen
Flüchtenden im Bosporus liegen bleibt. Eine defekte Maschine
blockiert jedes Manövrieren. 70 Tage liegt die Struma vor Istanbul,
am Rumpf bannt die verzweifelte Bitte nach Exil. Die nationalistische
Journaille dagegen spricht von gewissenlosen Schleusern und
kalkuliertem Schiffbruch. Am 25. Februar 1942 - die Briten weigerten
sich, Einreisezertifikate für Palästina auszustellen - wird die
Struma aus dem Bosporus abgeschleppt. Die Türkei überlässt sie dem
Meer. Nachdem ein verirrter Torpedo sie traf, sinkt die Struma, ein
einziger der jüdischen Flüchtenden überlebt.
Die
Katastrophe nimmt keine Ende, sie akkumuliert andauernd Tod und
Elend. Mit food porn auf Facebook oder Twitter feiern Graue und Grüne
Wölfe den Tod in Ankara. 106 Menschen rissen die Detonationswellen
mit in den Tod, unzählige andere, die unten den Verstümmelten ihre
Freunde und Genossen erkannten, die vergebens auf die Brustkörbe der
Leblosen eindrückten oder dürftig Blutungen stillten, werden von
diesem Tod ihr ganzes Leben verfolgt werden. Die
Polizei feierte indessen
den Tod mit Reizgas. Einen Tag vor dem Massaker in Ankara ließ sich
in Rize ein anderer Schwerkrimineller feiern, den alleinig seine
Verstrickung in die organisierte Kriminalität des Souveräns vor
lebenslänglicher Haft bewahrt hat. Dieser Sedat Peker, ein Grauer
Wolf, rief zur Treue gegenüber der AK Parti auf und machte mit
der einen Hand den Wolfsgruß und mit der anderen den Gruß der
Muslimbrüder, die vier gespreizten Finger. „Wenn Armee und Polizei
müde werden“, so Peker, „werden wir auf der Straße sein. Dann
wird Blut in Strömen fließen.“ Diese Amalgamierung von
nationalistischer und islamistischer Ideologie schielt nicht auf
einige mehr Prozente am Urnengrab, sie droht allen anderen mit dem
Grab, die aus dieser halluzinierten Einheit ausscheren. Die von Peker
beschworene Einheit zwischen Muslimbrüdern und Grauen Wölfen
existiert nicht in irgendeinem positiven Sinne, AKP und MHP sind sich
als Konkurrenten Feinde, die Einheit wird allein konkret in der
Verfolgung der Anderen: den antinationalistischen Inkarnationen der
„armenischen, griechischen und jüdischen Lobby“. Nach Diyarbakır
am 5. Juni und Suruç am 20. Juli mit 37 Ermordeten war es am 10.
Oktober in Ankara das schwerste Massaker innerhalb weniger eines
halben Jahres, das die Opposition traf. Seit dem Massaker in Ankara
kommt es in allen größeren türkischen Städten zu Boykottaktionen
und Protestmärschen. Ihre Rufe sind
„Faşizme karşı omuz omuza" („Schulter an Schulter gegen
den Faschismus“) und „Katil devlet“ („Mörder Staat“).
Lassen wir sie nicht allein.
** Die
Karriere des deutschen „Unternehmens Barbarossa“ zur finalen
Annihilation der 'jüdisch-kommunistischen Verschwörung' und
anschließenden Germanisierung des ausgehungerten und verbrannten
Ostens Europas provozierte auch wieder den panturanistischen Wahn in
der Türkei. Durch die türkische Repräsentanz in Berlin eingeführt,
schlug Nuri Paşa, Bruder des Armenierschlächters Enver Paşa, den
Deutschen vor, turkstämmige Muslime unter den internierten
Rotarmisten zu rekrutieren. Teile dieser Turkistanischen Legion, mit
16 Bataillone integriert in die 162. Infanterie-Division, harrte noch
im Mai 1945 in Berlin aus als die Türkei längst mit den Deutschen
gebrochen hatte. Während hinter der Front die Vernichtung der
europäischen Juden, Roma und Sinti mit der perfidesten Akribie
ausgeführt worden ist, tummelten sich in Berlin deutsche
Orientalisten und Turanisten mit einer Schwäche für 'erwachende
Völker' sowie deren Pseudorepräsentanten wie das
„Nationalturkestanische Einheitskomitee“. Auf Direktive des
Blutsäufers Heinrich Himmler wurde der Qur'an nach Andeutungen
durchsucht, die dazu hätten dienen können, den Muslimen Adolf
Hitler als Nachfolgeprophet Mohammeds nahezubringen. Nach Ernst
Kaltenbrunner, dem Vorgesetzten Adolf Eichmanns, traf dies auf die im
Qur'an vorhergesagte „Wiederkehr des Lichtes des Propheten“ zu.
Am 6. Dezember 1943 gestand Himmler nüchtern ein, dass „der Führer
weder als Prophet noch als Mahdi“ gelten könne, viel mehr ähnle
er den „im Koran vorhergesagte(n) wiedergekehrte(n) Isa“, also
Jesus, der „wie der Ritter Georg, den am Ende der Welt
erscheinenden Riesen und Judenkönig Dadjdjal besiegt“ (Dajjal:
„Täuscher", eine Figur in der islamischen Eschatologie, die
vor dem „Tag der Auferstehung“ erscheine). Von deutschen
Orientalisten eingewiesene Frontimame wurden den muslimischen
Bataillonen zugeteilt. Eine solche war unter dem Kommando von Harun
al-Rashid, einem konvertierten Österreicher, an der Zerschlagung des
jüdischen Aufstandes im Ghetto von Warszawa beteiligt. Harun
al-Rashid wurde nach 1945 Esoterikautor über Wünschelruten und die
Schädlichkeit von Erdstrahlen für Pflanzen.
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