Die syrische
Katastrophe endet in einem Kühltransporter, abgestellt an der
österreichischen A4, keine 50 km südöstlich von Wien. Die 71
Erstickten hatten die Todesroute, die den Geflüchteten einzig noch
blieb, nahezu bewältigt, sie kenterten nicht in ihren Nussschalen,
schlugen nicht auf schroffem Felsen auf und ertranken nicht wie viele
andere in einer der türkisch-griechischen Meerengen, sie wurden auch
nicht – wenn sie das Meer mieden - von bulgarischen Grenzpolizisten
zu Tode geprügelt. Angekommen in Ungarn zogen sie der drohenden
Inhaftierung die riskante Schleusung durch Kriminelle vor. Das Ungarn
des völkischen Fidesz-Regimes, das im Inneren eine Bedrohung seiner
'nationalen Identität' aus Krone, Pfeil und Kreuz durch
'zigeunerische Untermenschen' und 'jüdisch-bolschewistische
Übermenschen' halluziniert, militarisiert währenddessen seine
Grenze zu Serbien, um der äußeren Bedrohung durch das flüchtige
Leben beizukommen. In einer Transitzone sollen die Geflüchteten
inhaftiert werden, so lange wie der Souverän über ihre
'Asylrelevanz' befindet. Jenen aber, die Grenzzaun oder
Stacheldrahtbarriere beschädigen, droht langjährige Haft. „Pro
Asyl“ dokumentierte wieder und wieder die Zustände in ungarischer
Flüchtlingshaft. Es scheint als hätte der Souverän alles so
eingerichtet, um den Geflüchteten bleibend einzuhämmern, dass
Flucht nach Ungarn nur als Erstarren des Lebens zu haben ist: das
fixierte Mobiliar, das den Blick nach außen brechende Stahlgeflecht,
die physischen Drangsalierungen durch die Schließer. Einzig die
systematische Verabfolgung von Opioiden und Hypnotika versprechen für
einen Moment, der Enge zu entfliehen.
Die deutsche
Reaktion auf das flüchtige Leben, die in vermeintliche Antagonismen
zerspringt: in mitleidvolles Streicheln und ungehemmte Aggression,
gründet auch in der spezifischen Organisation des europäischen
Migrationsregimes. Es waren vor allem die Deutschen, die –
beginnend mit dem „Asylkompromiss“ im Jahr 1993, der Honorierung
der Pogrome in den vorangehenden Jahren - ein System installiert
haben, in dem die Staaten der europäischen Peripherie als Prellbock
wider wilder Migration fungieren. Selbst Gaddafis Libyen und andere
Diktaturen wurden und werden hierzu getätschelt. Noch in der ersten
Jahreshälfte 2011, als der Umschlag der Revolte gegen das
Baʿth-Regime in die syrische Katastrophe bereits sich androhte,
rekurrierten die deutschen Apparate noch auf ein Abkommen mit der
Despotie Assads zwecks Abschiebung Geflüchteter nach Syrien.
Abschiebungen syrischer Geflüchteter innerhalb des Dublin II-Systems
wurden noch jüngst, auch nach Ungarn, durchgeführt. Die Empörung
eines Sigmar Gabriel über die pogromlüsterne Anrottung in der
sächsischen Provinz - „Das sind die eigentlichen Undeutschen."
- muss auch als Drohung verstanden werden. Denn es werden weiterhin
keine autochthonen Undeutschen sein, die von nächtlichen Razzien
aufgesucht werden, nicht sie werden durch Furcht vor einer drohenden
Abschiebung um den Schlaf gebracht. Es wird weiterhin jene treffen,
die die Deutschen dazu provozieren, „Undeutsche“ zu werden,
diejenigen also, die an dem dünnhäutigen Antlitz der Zivilisation
kratzen: die Geflüchteten selbst.
Die
Kulisse der neuen deutschen Freundlichkeit gegenüber Geflüchteten
ist folgende: In sichtlicher Absprache mit dem Fidesz-Regimes werden
jene in Kontingenten empfangen, die sowieso nicht in Ungarn zu halten
und noch weniger nach Syrien abzuschieben sind – denn Syrien
existiert nicht mehr. Während im ungarischen Bicske gedroht wird,
Internierung oder Abschiebung, und in Röszke, angrenzend zu Serbien,
die nächsten Geflüchteten von der ungarischen Polizei mit Tränengas
hinter die Barriere gepfercht werden, akkumulieren die Deutschen
Moralin für die folgenden Bösartigkeiten wie eine
flächendeckende Militärkampagnegegen
Schleuser, die diese nur zu noch riskanteren Manövern drängen wird.
Es versteht
sich von selbst, dass dieser Freundlichkeit auch der Umschlag in Hass
und Verfolgung inhärent ist. Im Volksgehäuse der Deutschen verlangt
es nicht nach einer faschistischen Massenorganisation oder einer
paramilitärischen Bande wie die ungarische Magyar Gárda oder
ähnlichem. Wo sich um den Wert der Immobilie gefürchtet wird, um
die Integrität des Vorgartens oder die Mobilität des Hundes,
organisiert sich die soziale Kälte ganz von selbst. Aus ihr spricht
die unbändige Angst vor der drohenden Verwilderung des
Arbeitskraftcontainers, vor der eigenen Entkapitalisierung wie der
Entstaatlichung. Die Geflüchteten provozieren mit dem Ausblick, was
auch der nationalisierten Gattung droht und für viele auch längst
Realität ist: die Menschenschlacht um die noch letzten
Funktionsstellen. Es ist eben nicht das Andersartige an den
Geflüchteten, das den Hass der Autochthonen provoziert, es ist viel
mehr die ihnen von den ökonomischen Naturgesetzen eingebrannte
Ähnlichkeit zu dem als unwert denunzierten Leben: es ist ihnen die
böse Prophezeiung der eigenen Fungibilität vor dem Kapital. In der
sächsischen und brandenburgischen Provinz, wo auch den Nationalen
nicht viel anderes bleibt als SGB II oder Landflucht, besteht die
Enttäuschung über den Staat („Merkel, du Fotze“) darin, dass
sie ihn mit den Geflüchteten teilen müssen. Sie fordern, als
Kurtisanen des 'verborgenen Staates', dass die Liebe des Vaters
allein ihnen gilt - und mag die einzige amouröse Geste des Souveräns
darin bestehen, dass dieser ihnen vorführt, dass es anderen noch
elendiger ergeht. Mit der Abfolge von Bränden da, wo auch nur in
Planung ist, Geflüchtete unterzubringen, den „Wir sind das
Volk“-Aufmärschen des Brüllviehs und den Pogromdrohungen in der
Kommentarfunktion mögen nur die Allerwenigsten auch dazu übergehen,
die physische Ausstoßung der Anderen, schlussendlich ihre
Abschiebung in den Tod, selber auszuführen. Sie alle aber fordern
eine noch gnadenlosere Reaktion auf das flüchtige Leben ein als die
vorherrschende, die Geflüchtete auf Routen zwingt, die für viel zu
viele ein früheres Ende haben als auf der A4. Während die Opfer,
die qualvoll Erstickten und die an die Strände Angespülten, noch
betrauert werden, wird strengstens darauf geachtet, dass die
Überlebenden nicht zu viel Generosität erhaschen und auch sie ihr
Opfer erbringen. Nicht nur Ungarn inhaftiert systematisch
Geflüchtete. Die jüngsten Gesetzesänderungen ermöglichen es auch
hier, der Mehrheit der Geflüchteten in Haft zu nehmen. Der Umstand,
über einen anderen Staat der Dublin II-Verordnung eingereist zu sein
und sich durch die Weiterflucht der dort hinauszögernden Prüfung
der 'Asylrelevanz' entzogen zu haben, oder das Aufbringen von Geld
für einen Schleuser, begründen eine Inhaftnahme. Folglich ist die
ungarische Transitzone, in der die Geflüchteten in das Dublin
II-Systems eingespeist werden, auch im Interesse der Deutschen. Auch
ohne Haft wird den Angekommenen der Eindruck eingeprägt, dass der
Unterschied zwischen Dresden und Dohuk mehr in der Feindseligkeit der
Autochthonen liegt als in den Zuständen bei der Verwahrung der
Geflüchteten. So werden systematisch noch die gröbsten Normen der
WHO missachtet. Und auch wenn keiner dadurch abzubringen ist, die
Demütigungen auf sich zunehmen, wer morgendlich durch Einschläge
von Tonnen explodierendem Metallschrott aus dem Schlaf geküsst wird,
so soll der Verfolgte wenigstens spüren, dass sein Tod in Halep oder
Homs kosteneffizienter wäre.
Ohne die
konkrete Solidarität vieler mit den jüngst Angekommenen
herabzuwürdigen oder zu leugnen, Betreuung auf Deutsch heißt, mit
wenigen Ausnahmen, Zwangsintegration in ein karitatives Milieu, das
einzig und allein sich selbst Zweck ist und an den Geflüchteten
demonstriert, dass Subjektivität ein Privileg ist. Als sich im
Januar 2012 nach dem Suizid von Mohammad Rahsepar Geflüchtete
überregional selbstorganisierten, war es jenes staatstragende
Betreuungsmilieu, das jede politische Selbstartikulation denunzierte.
Genossen aus Würzburg haben hierzu alles gesagt.
Es
fällt auf, dass in diesen Tagen kaum jemand über die Fluchtgründe
spricht, als wäre die Tortur, die unzählige erleiden, eine
Naturkatastrophe, und keine von Menschen gemachte Hölle. Doch keine
Kritik des Hasses auf die Geflüchteten und des Systems ihrer
Aussperrung und Verwahrung ohne Kritik der Zustände, die die Flucht
so vieler erzwingen. Der Exodus vor allem von Syrern nach Europa
fällt in einen Moment, wo jenes Regime, das - auch wenn nicht allein
– aus Syrien eine Hölle gemacht hat, sich mehr und mehr jeder
konkreten Kritik entziehen kann. Unter der Patronage Bashar al-Assads
installierte sich in Syrien eine Despotie der Rackets, deren
Loyalität einzig darin gründet, dass diese vom Regime selbst
ermächtigt sind, zu morden und zu plündern. Diese regimeloyalen
Rackets, von denen die Hezbollah das größte ist, sowie die mit
ihnen konkurrierenden islamistischen Banden wie Ahrar al-Sham, Jabhat
al-Nusra, Jaysh al-Islam sowie natürlich Daʿesh haben
eine politische
Ökonomie der Haft installiert,
in der nicht nur die säkulare Opposition verschwand: An die 200.000
Menschen wurden in den vergangenen Jahren verschleppt und ihre
Angehörigen erpresst, mehr als 11.000 Menschen sind in den Fängen
ihrer Folterer gestorben. Jene Despotie, die das Regime des Bashar
al-Assad 'stabilisiert', also dieser Staatsleiche militärisch,
ökonomisch und ideologisch Atem einprügelt und mit der saudischen,
katarischen und türkischen Konkurrenz Syrien wie zuvor den Irak ins
konfessionelle Schlachten hineingerissen hat, gilt in der ganzen
deutschen Nahost-Politik als der Stabilitätsgarant in dieser
einzigen Blutlache: die Islamische Republik Iran. Die vor allem auch
von den Deutschen verfolgte Aufhebung des Sanktionsregimes sichert
dem Iran und der Hezbollah, diesem Satellit der khomeinistischen
Despotie, die Finanzierung ihrer Präsenz und somit des Mordens in
Syrien.
Indessen
kehrt im Südosten der Türkei der permanente Ausnahmezustand wieder
ein, der in den 1990ern in vielen Dörfern nichts als verbrannte Erde
hinterließ. Ausgangssperren werden durchbrochen durch Razzien der
Militärpolizei und standrechtliche Hinrichtungen. Betroffen ist vor
allem die Provinz Şırnak, angrenzend an das östliche
Syrisch-Kurdistan, sowie Diyarbakır, Muş und Ağrı. Die jüngste
Eskalation folgte auf das Massaker von Suruç, der Grenzstadt zu
Kobanê, wo am 20. Juli ein islamistischer Suizidbomber über 30
junge Menschen einer sich als kommunistisch verstehenden
Wiederaufbaubrigade mit in den Tod riss. In der Folge trat das
türkische Regime der AK Parti Erdoğans nach einem Jahr des Weigerns
der US-amerikanisch geführten Militärkoalition gegen den
„Islamischen Staat“ bei. Nicht, dass das türkische Regime der AK
Parti das erste war, das in Syrien eine Pseudofront mit Daʿesh, so
das arabische Akronym für den „Islamischen Staat“, aufgemacht
hat, um jemand ganz anderen zu schädigen. Die Methode Erdoğans
erinnert an das Regime Assads, das noch zu Beginn der Revolte gegen
die Despotie des Baʿth-Apparates hunderte von islamistischen
Rädelsführern mit dem Kalkül amnestierte, diese würden die
Opposition mehr schädigen als es selbst bedrohen und natürlich um
das Alibi zu haben für das gnadenloses Vorgehen gegen jede
Dissidenz. Wie sein Vater Hafez, der im Schatten der Zerschlagung
einer Erhebung von Muslimbrüdern im Februar 1980 in Hama, auch die
anderweitige, säkulare Opposition aufrieb, begräbt Bashar al-Assad
ganze Stadthälften Syriens unter explorierendem Metallschrott,
hungert die Überlebenden aus und gibt das Leben unzähliger
Zwangsrekrutierter hin ohne Daʿesh empfindlich zu schwächen. Noch
zu Beginn der Attacken auf Kobanê im vergangenen Jahr hieß es von
der YPG, der De-Facto-Armee Syrisch-Kurdistans, dass Daʿesh die
Akzeptanz des Baʿth-Regimes hat.
Das türkische
Regime der AK Parti spricht, anders als Assad, unverhohlen aus, wer
ihr eigentlicher Feind ist. Noch wenige Tage bevor am 16. Juni die
YPG die türkisch-syrische Grenzstadt Girê Spî einnahm, um
einerseits so das westlich gelegene Kobanê an das östliche Serê
Kaniyê anzubinden und andererseits die Rattenlinie der genozidalen
Jihadisten vom türkischen Akçakale nach Raqqah zu kappen, empörte
sich Recep Tayyip Erdoğan, die Militärkoalition gegen Daʿesh würde
als Airforce der „terroristischen“ YPG und ihrer politischen
Flügels, der PYD, fungieren. Girê Spî war bis dahin das Nadelöhr
der Jihadisten, ihr Frontvieh gelangte vor allem von hier aus in die
syrische und irakische Hölle. Nachdem die YPG Girê Spî einnahm und
die beiden Kantone Syrisch-Kurdistans Kobanê und Cizirê vereinigte,
drohte Erdoğan schlussendlich am 26. Juni, dass sie eine
Staatsgründung in Nordsyrien nie zulassen würden. Aus den
Propaganda-Apparaten des Regimes hieß es, die PYD sei als
Organisation bedrohlicher als Daʿesh. Einen Tag zuvor hatte eine
Selbstmord-Kolonne den Tod wieder nach Kobanê gebracht und mehr als
150 Menschen mitgerissen. Die schweren Detonationen erfolgten unweit
vom türkischen Grenzübergang Mürşitpınar, kaum anders möglich
als dass die Mörder an den blinden Augen des türkischen Militärs
vorbei nach Kobanê eindrangen.
Es irrt, wer
Daʿesh einzig auf eine perfide Verschwörung und Proxy-Armee eines
Anderen reduziert. Die Tradition des türkischen „derin devlet“,
der organisierten Kriminalität des Souveräns, islamistische
Frömmler als Konterbande zu instrumentalisieren, gründet nicht
allein in Kalkül, vielmehr in der konkreten Atmosphäre der
Islamisierung der Türkei. In den 1990ern war es die sich im Südosten
der Türkei organisierende Hizbullahî Kurdî, eine Konspiration von
sunnitischen Bewunderern des Ayatollah Khomeini und der „Islamischen
Revolution“ im Iran, die unter der Absolution des türkischen
Souveräns sich zum militanten Jihad verschwor. Während die
Hizbullah sich in strengreligiösen Dörfern des Südostens eingrub,
Oppositionelle verschwinden ließ, eine unterirdische Folterhölle
erschuf und 'unkeusche' Frauen mit Säure verätzte, verbrannte im
zentralanatolischen Sivas im Juli 1993 eine islamistische Horde –
mehr als einige Militante - unter Rufen wie „Die laizistische
Republik erstand in Sivas, in Sivas wird sie gestürzt“, „Wir
sind die Soldaten Mohammeds“ und „Muslimische Türkei“ die als
Ungläubige markierten Gäste eines alevitischen Kulturfestivals.
Necmettin Erbakan, der politische und ideologische Ziehvater
Erdoğans, verhöhnte die Verbrannten als Schuldige, sie hätten
„unhöflich über den Glauben der Nation gesprochen“. Für nicht
wenige aus der AK Parti begann in Sivas ihre Karriere. Sie vertraten
die in ihren religiösen Gefühlen verletzten Pogromisten, die der
noch nicht islamisierten Justiz zugeführt wurden. „Für unsere
Nation soll es segenbringend sein“ würdigte Erdoğan im März 2012
die Entscheidung des 11. Strafgerichtshofs in Ankara, die Morde seien
nun verjährt, ausstehende Haftbefehle gegen die Pogromisten
aufgehoben.
Was die
Pogromisten und ihre Aufhetzer von einer Organisation des genozidalen
Jihads wie Daʿesh scheidet, ist das spezifisch nationale Gehäuse
ihrer Ideologie. Unter der Modernisierungsdiktatur Mustafa Kemals in
die konspirative Stille der Tarikats gezwungen, war es seine
antikommunistische Funktion, die den Islam als politische Ideologie
nach und nach rehabilitierte. Die türkische Variante der
Muslimbrüder scharrte sich in jenen Jahren um Mehmet Zait Kotku, den
Imam der Iskenderpaşa Moschee in Istanbul-Fatih. Necmettin Erbakan,
der 1970 die „Partei der nationalen Ordnung“ (Milli Nizam Partisi
– MNP) und 1973 in deren Nachfolge die „Partei des nationalen
Heils“ (Milli Selamet Partisi - MSP) gründete, bekannte sich zu
ihm und folgte seinen Empfehlungen. Ebenso Korkut Özal, Parteifreund
Erbakans und Bruder des Ministerpräsidenten von Gnaden der
Militärdiktatur, Turgut Özal, unter dem sich Ende der 1980er das
ideologisierte Akkumulationsregime der Islam Holdings etablierte. Zu
den noch jüngeren Gefolge des Imams des Tarikats der Nakşbendiyye
gehörten Recep Tayyip Erdoğan, Abdullah Gül und Bülent Arinç,
die Gründer der AK Parti. Kotku predigte, die durch die
Säkularisierung „geschwächte“ Moral wieder zu festigen und den
Marsch durch die Institutionen anzutreten. Von einen revolutionären
Islam, wie er 1979 im Iran das Regime des Shah Pahlavi umwälzte,
distanzierte Kotku sich. Die von ihm verfolgte stille Infiltration
würde irgendwann in einem wahrhaft 'islamischen Staat' enden. Die
andere Variante des politischen Islam, die Grauen Wölfe mit ihrer
„Partei der nationalistischen Bewegung“ (Milliyetçi Hareket
Partisi – MHP), dagegen zwang die Religion in ein völkisches
Korsett, sie nationalisierten den Islam mit ihren panturkistischen
Mythen. In der Verfolgung von 'Abtrünnigen' und 'Ungläubigen' waren
Graue Wölfe in jenen Jahren der Konkurrenz noch voraus. Vor allem
Aleviten bekamen dies zu spüren. Auf den Staatszweck verpflichtet
entspricht die Ideologie der beiden dem Zwang zur nationalen und
religiösen Homogenität in Ansehung der Krisenhaftigkeit der eigenen
Staatlichkeit. Dem Kapitalzweck unterworfen sind sie besessen davon,
dem Abstrakten der ökonomischen Sphäre ein Antlitz aufzuzwingen,
also darin, das real Abstrakte zu personalisieren. Es ist nicht die
formelle Gleichheit vor dem Souverän, nach der sie brüllen, es ist
viel mehr die kollektive Unterwerfung aller unter einen außerhalb
ihnen liegenden Zweck: der staatsoffizielle Aufruf, die Nation mehr
zu lieben als sich selbst, wurde unter dem Diktat der AK Parti
inzwischen nachgerüstet durch ein „Allahu Akbar“. Die empirische
Uneinigkeit im Inneren, die jedem ins Auge springt, exorzieren sie
als perfide Kabale von außen. Die Inkarnationen eines solchen
Verschwörungswahn finden sich in den allseits halluzinierten
'Kryptojuden' oder in den 'getarnten Armeniern'. So wurde in den
1990ern kolportiert, dass viele im Südosten getötete Guerilleros
noch eine Vorhaut am Penis trugen, also Christen seien. Und so
existiert inzwischen eine eigene Industrie, die 'Dönme' enttarnt,
angebliche Konvertiten, die ihren Übertritt zum Islam nur fingieren,
um in der Tarnung die 'jüdische Verschwörung' voranzutreiben.
Inspiration
findet Erdoğan nach eigener Aussage bei dem Vordenker eines
„Islamischen Großen Osten“ (İslami Büyük Doğu), Necip Fazıl
Kısakürek. In „Judentum-Freimaurerei-Wendehalsigkeit“
(Yahudilik-Masonluk-Dönmelik) rekapituliert Necip Fazıl die
„Protokolle“, jene Hetzschrift der russischen Zarendespotie zur
Denunziation sozialrevolutionärer Umtriebe als jüdische
Verschwörung. In seinem Traktat „Die irrigen Abweichungen vom
rechten Pfad“ (Doğru Yolun Sapık Kolları) aus dem Jahr 1978 –
jenem Jahr als es zu antialevitischen Pogromen mit mehr als hundert
Toten allein in Maraş kam – rieft Necip Fazıl dazu auf, die
religiösen Minoritäten – Aleviten und Eziden - wie Brennnesseln
auszureißen. Am Todestag des Pogromaufhetzers am 25. Mai 2013
ernannte Erdoğan in einer parlamentarischen Fraktionssitzung Necip
Fazıl zu einem der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts, als Idol
seiner eigenen und aller folgenden Generationen. Der Konflikt der
Aleviten mit dem Mehrheitsislam ist kein Phänomen vergangener Tage.
Die Proteste gegen das Regime der AK Parti als auch die Repression
gegen die säkulare Opposition haben längst einen konfessionellen
Charakter angenommen. Dem türkischen Repressionsapparat zufolge
waren knapp 80 Prozent der während der Proteste im Jahr 2013
Inhaftierten Aleviten, alle Toten der Oppositionsproteste im selbigen
Jahr waren aus alevitischen Familien wie auch viele der jüngst
Ermordeten in Suruç. Die Aleviten trieb zunächst das feudale Elend
aus ihren Dörfern in die nächst größeren Städte und die Pogrome
Ende 1970er, die anschließende Militärdiktatur und schlussendlich
die Politik der verbrannten Erde im Südosten in die Diaspora. Heute
sind es in Afşin, Elbistan oder Gürün, wo einst viele Aleviten
lebten, bis zu 90 Prozent Treugesinnte der AK Parti und MHP, die sich
über das Urnengrab beugen. Dagegen sind es in Istanbul und Ankara
eben jene von alevitischen Immigranten geprägten mahalleler wie Gazi
Mahallesi, Okmeydanı, Nurtepe und Tuzluçayır, die nicht zu
befriedigen sind.
Grüne und
Graue Wölfe verfolgen in der religiösen Minorität der Aleviten,
die noch unter osmanischer Despotie sozialrevolutionären Umtrieben
verdächtigt war, den Verrat an der Einheit. Sie halluzinieren im
Juden die Gegenidentität zur eigenen nationalen Identität, die
selbst ein Abstraktum ist, das nur durch eine sich zentralisierende
und zum Staat konspirierende Gewalt konkretisiert werden kann. So
befanden sich Muslimbrüder und Graue Wölfe folglich auch nicht in
radikaler Opposition zur formal laizistischen Modernisierungsdiktatur
in Berufung auf Mustafa Kemal, sie waren viel mehr die gnadenlosesten
Exekutoren eines solchen Regimes, dessen Fundament die Gräber der
ausgeplünderten, ermordeten und verleugneten Armenier sind. Es war
die durch Mord erzwungene Homogenisierung Anatoliens in den
dahinschwindenden Jahren des osmanischen Rumpfstaates, die
Reduzierung der Christen auf eine verschwindend kleine Minorität,
die zur stillen Prämisse der Republik geworden ist. Es war die
Teilhabe an Ausplünderung und Ermordung der anatolischen Christen,
die das fromme Milieu mit der Modernisierungsdiktatur im Voraus
versöhnte. Jene Koalition, die Mustafa Kemal um sich scharte, war
einzig geeint durch die Furcht davor, dass die Islamisierung des
armenischen und griechischen Besitzes sich rächen könnte, sobald
die Kumpanei zwischen Bürokrat und Militär einerseits und Ağa und
Şeyh andererseits ein Ende hat. Es ist auffällig, dass es vor allem
Provinzen sind, in denen entweder vor 1915 viele Armenier lebten oder
in denen bis in die 1970er Jahre noch viele alevitische Dörfer
existierten, wo heute Grüne und Graue Wölfe unumstrittene
Rudelführer sind. Das stille Wissen um Mord und Pogrom, die
heißblütige Teilhabe daran oder mindestens das verschämte
Ausschweigen darüber scheint sie an jene zu ketten, die aus den
Mördern Opfer machen und aus den Ermordeten Verschwörer.
Die
Paranoia, die Ermordeten und Verleugneten könnten aus ihren Gräbern
aufstehen und als pseudokonvertierte Christen, als Dönme oder
armenische Diaspora Rache nehmen und den Keil ins imaginierte
Vaterland treiben, ist in der Türkei das Bindeglied zwischen den
Ideologien. Als Ausdruck verdrängter und projizierter Schuld findet
sie sich bei jenen, die sich auf Mustafa Kemals Modernisierungsregime
berufen, wie die streng laizistische „Vaterlandspartei“ (Vatan
Partisi), wie bei der türkischen Variante der Muslimbrüder. Es
beherrscht sie ein Verschwörungswahn, bei dem vor allem der
Staatspräsident selbst es sich nicht verkneifen kann, diesen
penetrant zu äußern: Denunzierte Erdoğan die Proteste im Jahr 2013
als eine Verschwörung von Zins-Lobby, jüdischer Diaspora und
Plünderern gegen die ökonomische Karriere der Türkei unter der AK
Parti, so sein Parteifreund Metin Metiner den militanten Widerstand
in Syrisch-Kurdistan gegen Daʿesh als den„Knüppel“,
um die Türkei als regionale Ordnungsmacht zu sabotieren. Der
göttlichen, paranoiageschwängerten Ordnung aus Koran und Kapital
hat sich Erdoğan noch in jungen Jahren gewidmet. Als Funktionär der
Akıncılar Derneği, der Jugendorganisation der MSP, inspirierte ihn
Necip Fazıl zum Abfassen des antisemitischen Dramas Mas-Kom-Yah:
„Freimaurer-Kommunisten-Juden“. Hierin erzählt der Dramatiker
Erdoğan von dem Riss zwischen einem türkischen Fabrikanten namens
Ayhan Bey und seinem Sohn, der die Türkei als junger Mann verlässt
und in der Fremde der Religion abtrünnig wird. Überschattet wird
der familiäre Konflikt vom Aufbegehren der unter dem Diktat Ayhan
Beys stehenden Malocher, die in ihrem glückseligen Elend
aufgewiegelt werden von einem sich als türkischer Moslem tarnenden
jüdischen Kommunisten, der sie schlussendlich zum Mord an den
frommen Bey aufhetzt. Das Theaterensemble Erdoğans, in dem sich auch
der prominente Istanbuler Funktionär der AK Parti, Atilla Aydıner,
einfand, zog es zur Ausführung dieser Variante der antisemitischen
Dolchstoßlegende bis 1980, dem Jahr der anbrechenden
Militärdiktatur, durch die ganze Türkei. Noch in den 1960ern
verschmolzen völkischen Panturanisten mit islamistischen Frömmlern
zur „Vereinigung für den Kampf gegen den Kommunismus“ (Mücadele
Dernekleri), die ähnlich wie Erdoğans Theaterensemble, nur gröber:
mit physischer Gewalt, eine jüdische Verschwörung von Atheisten,
„Zins-Lobby“ und kommunistischen Agitatoren zu zerschlagen
verfolgte. Die Beschwörung nationaler Einheit ging über in die
Repression wider jedem sozialen Aufbegehren: In ihrem Zentralorgan
wurden Streikaktionen als „verräterische Bewegung“, lanciert
„von kommunistischen und freimaurerischen Agitatoren im Interesse
des internationalen jüdischen Kapitals”, denunziert, während ihr
militanter Flügel in den bleiernen Jahren zwischen 1975 und 1980
über 5.000 Menschen, verfolgt als kommunistisches Gespenst,
ermordete.
Diese
Konkurrenz der Verfolger dauert an. Noch während der Proteste gegen
die türkische Flanke der genozidalen Jihadisten bei der Einkreisung
von Kobanê im vergangenen Jahr waren es vor allem Graue Wölfe und
im Südosten die Hizbullahis, die Oppositionelle als “Abtrünnige”
hetzten und ermordeten. Nach dem Massaker von Suruç verhöhnte
Devlet Bahçeli, Parteivorsitzender der MHP, die Ermordeten und
Überlebenden. Sie wären, so der Rudelführer, aus Falschheit und
ohne moralische Integrität nach Kobanê aufgebrochen. Und in diesen
Tagen sind es wieder Graue Wölfe, die wie jüngst in Gaziantep die
Aushändigung der Leichen getöteter „Separatisten“ fordern, um
diese zu schänden und zu verbrennen. Während sie den
nationalistischen Hass zu eskalieren drohen, zu Pogromen gegen
Binnenimmigranten aufstacheln und den türkischen Soldaten als
Prototyp des 'wahren Muslim' beschwören, rufen sie auf
Märtyrerbeerdigungen getöteter Soldaten „Mörder AKP“, um die
noch stärkere Konkurrenz zu denunzieren: einerseits händige die AK
Parti für ihr eigenes Interesse die 'Söhne des Vaterlands' dem
Feind aus, andererseits sei ihre Reaktion gegenüber den
'Separatisten' noch zu sanft. Ihr Schlachtruf ist in diesen Tagen:
"Wir wollen keine Militäroperation, wir wollen Massaker."
Anders als bei der HDP – denn inhaftierte und ermordete Kurden und
Kommunisten sind weitgehend akzeptiert – sprengt die AK Parti die
ultranationalistische Konkurrenz der Grauen Wölfe nicht mit
Repression, viel mehr mit gekonnten Eingriffe in deren inneren
Fehden. So wird inzwischen über einen Parteiübertritt von Tuğrul
Türkeş spekuliert, dem Sohn des verstorbenen Rudelführers und
Gründers der Grauen Wölfe Alparslan Türkeş. Die AK Parti hat ihn
vorerst zum stellvertretenden Ministerpräsidenten gemacht. Eine Nähe
existiert zudem zur „Partei der Großen Einheit“ (Büyük Birlik
Partisi – BBP), der nächst größeren Partei aus der Bewegung der
Grauen Wölfe. Aus ihren Reihen ernannte die AK Parti Yalçın Topçu,
vormals Parteivorsitzender der BBP, zum Kultusminister. Mit der BBP
trafen sich die Muslimbrüder bereits 1993
in Sivas.
Die Grauen Wölfe, deren Parteibüro an das ausgebrannte Otel Madimak
grenzte, hinderten die Eingeschlossenen daran, der Todesbrunst zu
entkommen, während die Parteifreunde Erdoğans die Pogromisten
agitierten und ihre Mordlust zur Selbstverteidigung erhoben.
„Chaos
oder Stabilität“, droht das Regime der AK Parti und beschwört,
falls sich doch gegen sie entschieden wird, den Tod. Taner Yildiz,
Muslimbrüder in Ministerwürden, sinnt es danach, „als Märtyrer
für Vaterland, Religion und Nation zu sterben“ - überlässt diese
Ehre aber natürlich anderen, während Erdoğan in gepanzerter
Karosse vorfährt und den Hinterbliebenen getöteter Soldaten
gratuliert: „Welches Glück für seine Familie, welches Glück für
seine Angehörigen (als Märtyrer gestorben zu sein).“ Es sind
überproportional viele Soldaten, deren Familien aus dem kurdischen
Südosten sind, die zum Militärdienst in die Provinzen des
de-Facto-Ausnahmezustandes abkommandiert werden. Ihr Tod, so das
perfide Kalkül, prügele den Hinterbliebenen wieder Staatsloyalität
ein und bringe sie gegen die Guerilla auf. Der nächste Urnengang
droht so zu einem noch größeren Grab zu werden als in den Vortagen
des 7. Juni, an denen weit mehr als hundert Angriffe, Lynchmorde und
pogromähnliche Hetzjagden, Oppositionelle und Sympathisanten der HDP
trafen.
Während
das Regime der AK Parti jene bombardiert, die als einzige konsequent
den vor Daʿesh fliehenden Eziden und Assyrern beigekommen sind,
richtet die khomeinistische Despotie in Iranisch-Kurdistan über jede
militante Opposition. Jüngst nahm sie Behruz Alkhani das Leben,
hingerichtet als „Feind Allahs“, so der Schuldspruch der
khomeinistischen Justiz. Sie warf ihm vor, der „Partei für ein
freies Leben in Kurdistan“ (Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê –
PJAK) anzugehören. Bei aller Konkurrenz und dem konfessionellen
Graben so feindselig sind sich das türkische Regime der Muslimbrüder
und die khomeinistische Despotie nicht. Ayatollahs Khamenei erster
Repräsentant in Ankara, Alireza Bigdeli, hat Ende
Juni hervorgehoben,
worin sich beide Regime treffen: im Kampf gegen eine säkulare
Staatlichkeit in Syrisch-Kurdistan ("The establishment of a
Kurdish state is dangerous and a conspiracy against Turkey," so
Bigdeli). Türkisches Kapital fließt zudem in Milliarden in den
Iran.
Im
ganzen vergangenen Jahr haben die in Syrisch-Kurdistan kämpfenden
Säkularen nach dem Gröbsten gefragt, um Daʿesh, Jabhat al-Nusra
und andere Blutsäufer auf Distanz zu halten. Es wurde ihnen
verweigert. Auch die Familie des kleinen Aylan, der mit seinem Bruder
und seiner Mutter auf der Flucht nach Kos ertrank, zog die Todesroute
einem Leben in der Ruine Kobanê vor, der selbst Metalldetektoren zum
Aufspüren von nicht explodierten Sprengfallen vorenthalten wird.
Allein gelassen werden auch jene, die anhaltend in Baghdad gegen die
Konfessionalisierung des Iraks und somit auch gegen die
khomeinistischen Despotie protestieren.
Noch blieb ihr Ruf - "No to Sunni government, no to Shia
government. Yes to secular state." - ohne tödlichen Konter, es
sollte nicht gewartet werden bis die Bluthunde des Irans - Asa'ib Ahl
al-Haq, Badr Korps, Kata'ib Hezbollah – zubeißen.
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