Montag, 16. März 2015

Im Gedenken an Helepçe


Wie der „Islamische Staat“ den Eziden die Entscheidung aufzwang: Konversion zum Islam oder Tod und Versklavung, sprach das Baʿth-Regime in den dunklen Tagen der Militäroperation „al-Anfal“ (1986-89), benannt nach der Koransure: „Die Beute“, ein letztes Ultimatum an die „Abtrünnigen“ in Irakisch-Kurdistan aus. Entweder fügen sie sich der irakischen Nation, mit der Konsequenz einer Zwangskasernierung unter der totalitären Kontrolle des baʿthistischen Militärs, oder sie würden aus der irakischen Nation herausfallen und als Deserteure gelten.

Der 16. März 1988 ‏steht wie kein anderes Datum für die genozidale Aggression des Baʿth-Regimes. 3.200 Tote konnten namentlich identifiziert werden; weitere unzählige Menschen starben in den Folgejahren an den Nachwirkungen der Gasattacke auf Helepçe. Die baʿthistische Todesschwadrone hatte Sarin, Tabun – Produkte aus den Laboratorien der deutschen I.G. Farben in den 1930ern – und andere Gase über die Frontstadt der irakisch-iranischen Menschenschlacht abgeworfen. Über einen süßlichen Apfelgeruch, der über der ganzen Stadt lag, berichteten die Überlebenden.

Etwa 50.000 „Abtrünnige“ wurden infolge von „al-Anfal“ hingerichtet, unzählige Weitere verschleppt. „Al-Anfal“ war keine Aufstandsbekämpfung, die an der eigenen Brutalität erblindete, sie wurde vom Baʿth-Regime als Überlebensschlacht der „arabischen Nation“ gegen die realen und halluzinierten „Abtrünnigen“ inszeniert. In der genozidalen Ermächtigung trieb das Baʿth-Regime, das sich andauernd als Objekt einer Verschwörung wähnte, die „nationale Erniedrigung“ aus. Während der achtjährigen Menschenschlacht mit dem Iran der Ayatollahs beschwor das Baʿth-Regime die irakisch-iranische Front als die „heilige arabische Ostflanke gegen die Zionisten“ (während Ayatollah Khomeini, der zumindest die geografischen Gegebenheiten hinter sich wusste, propagierte, der Pfad nach al-Quds führe über Baghdad).

Das Regime der Baʿthisten fundierte auf einer systematischen Produktion der Angst, die erzeugt wurde, um jede Illoyalität und Dissidenz niederzudrücken. So praktizierte es Amputationen und Brandmarkungen von „Kriminellen“ als Drohung an alle anderen. Im Jahr 1994 veröffentliche das Regime eine mit der 109 nummerierte Anordnung, welcher zufolge Diebe und Deserteure ein X auf die Stirn eingebrannt werden sollte. In der mit der 117 nummerierten Anordnung wurden Ärzten, die an einer kosmetischen Korrektur eines vom Regime Verstümmelten teilhaben, mit Abtrennung der Hände gedroht.

Der „Islamische Staat“ ist kein Alien im Irak, Daʿesh ist die konsequente Kontinuation der baʿthistischen Despotie, die sich dem panarabistischen Schleier entledigt hat. Der “Islamische Staat” sprießt weniger aus der Generosität saudischer Islamisten oder dem Kalkül Erdoğans – auch wenn vor allem letzteres Daʿesh voranbrachte - als aus der Saat, die die baʿthistische Despotie im Irak säte. Saddam Hussein nahm 1991 die „al-Anfal-Kampagne“ wieder auf. Nun gegen die als „Abkommen afrikanischer Sklaven“ aus der „arabischen Nation“ exkommunizierten Angehörigen der Shiah. Funktionäre und Profiteure des Baʿth-Apparates rekrutierten sich mit wenigen Ausnahmen aus den sunnitisch-arabischen Clans. Die Angehörigen der Shiah darbten in Elend, in welchem die illegale Kaderpartei Daʿwa eine „Islamische Revolution“ als Erlösung verhieß. Auf die Zugehörigkeit zur Daʿwa stand ab Ende der 1970er der Tod. Während die Söhne schiitischer Familien zu Tausenden als Frontvieh abkommandiert wurden und im wahrsten Sinne sich dem baʿthistischen Regime gegenüber als loyal bis in den Tod verhielten, kam es im schiitischen Hinterland des Iraks wieder und wieder zu Hinrichtungswellen an vermeintlichen „Abtrünnigen“ und „Kollaborateuren“. Die Menschen wurden aufgerieben zwischen der gnadenlosen Gewalt der Baʿth-Despotie und der Instrumentalisierung der Schiiten durch den khomeinistischen Iran. Nach dem US-amerikanischen „regime change“ im Jahr 2003 und der erzwungenen Entbaʿthisierung der Apparate änderten sich die Konstellationen: Nahezu ungehindert von den US-Amerikanern schnürte sich der Zugriff des Irans auf die irakische Shiah, die größte Konfession im Irak, vollends zu. Iranhörige Todesschwadronen infiltrierten den Polizeiapparat und terrorisierten die verbliebenen Sunniten in Baghdad und anderswo. Im „Irakischen Widerstand“ gegen diesen Machtverlust verschmolzen Baʿthisten mit al-Qaida zum „Islamischen Staat im Irak“.

Wer vom genozidalen “Islamischen Staat” spricht, sollte also von der Despotie der Baʿthisten und Khomeinisten nicht schweigen. Der Irak sowie Syrien - mit Ausnahme Kurdistan - ist weitflächig aufgeteilt zwischen Da'ish und der khomeinistischen Despotie und dem von ihr gehaltenen Assad-Regime. Wo heute die Todesschwadronen der Shiah einmarschieren, fürchten Sunniten um ihr Leben wie anderswo Christen und Eziden. Der pseudokritische Blick auf den “Islamischen Staat” sieht hiervon ab. Wo keine Kritik weder der islamistischen noch panarabischen Kontrarevolution erbracht werden kann, wird höchstens noch gegen die geldheckenden Kataris und die Familie al-Saud gestänkert, denen weniger ihre bösartige Ideologie - inklusive die von Europa geduldeten Hinrichtungen und Auspeitschungen von Apostaten - nachgetragen wird als ihren Zugriff auf Kapital. An den baʿthistischen Despotien Iraks (bis 2003) und Syriens sowie dem Iran der Ayatollahs fasziniert so einigen die antiwestliche Rhetorik der Schlächter. Dies gilt für antiimperialistische Ideologen als auch für deutsche Krämerseelen. Anton Eyerle, ein bayrischer Industrieller, etwa hatte in den 1980ern für seine irakischen Abnehmer einen sehr eigenartigen Service: Aus Volksempfängern, die den mobilen toxikologischen Labors mitgeliefert worden sind, dröhnte die Agitation Adolf Hitlers. Der inzwischen verstorbene Eyerle, der in Saddam Hussein einen würdigen Verbündeten gegen Juden und andere Kosmopoliten ersah, war einer jener deutschen Industriellen, die dem Baʿth-Regime die praktikabelste Variante des Mordens garantierte. Südlich von Samarra begann der Irak zu Beginn der 1980er in einer 160 Quadratkilometergroßen Sperrzone Pestizide zum „Schutz der Dattelernte“ zu produzieren. Deutsche Ingenieure tüftelten auch daran, tödliche Nervengase seriell auf Raketenköpfe zu konfektionieren. Wer als Antifaschist sich in einem solchen Ameisenvolk aus Produkivbestien wiederfindet, sollte von dem Finanzkapital zunächst schweigen (mehr sei zum Blockupy-Spetakel nicht gesagt). Nicht nur die apfelsüße Geruchsspur von Helepçe führt in deutsche Ingenieurbüros, auch an der libyschen und syrischen C-Kampagne waren deutsche Firmen beteiligt. Womöglich mordete Saddam Hussein 1988 in Helepçe, Assad 2013 in Ghouta und der “Islamische Staat” in diesem Moment in Kurdistan mit Gasen, die mit deutschem Know-how produziert worden sind. 



Solidaritätsdemonstration in Helepçe mit den Nervengas-Opfern im syrischen Ghouta (Aug. 2013, Bild: Jiyan Foundation)