Heute fungiert
die Peripherie Europas als Prellbock gegen die Migrationsströme des
überflüssigen Lebens, aber nicht nur in der Anonymität der
Kommentarfunktion im World Wide Web wird kein Zweifel daran gelassen,
dass in Kerneuropa und im Staat der Deutschen sowieso der Mensch
Material ist, dem bei Funktionslosigkeit und zudem Unautochthonität
die Halde droht. Im Schatten der europäischen Zivilisation der
Produktion vegetieren im französischen Calais hunderte von Menschen
im „Dschungel“, einer im Gestrüpp aus Plastikmüll
improvisierten Behausung – bis diese mit Planierraupen überrollt
wird und die Geflüchteten gezwungen sind, noch tiefer in den Wald zu
drängen. Im griechischen Pagani werden junge Flüchtlinge über
Monate inhaftiert – bis das Gefängnis entleert wird und die
Menschen in die Illegalität abgeschoben werden. Im italienischen
Roma harren Geflüchtete in der Kanalisation aus – aus Frucht vor
dem rassistischen Mob, Inhaftierung und Abschiebung in die libysche
Wüste. Und von den Deutschen werden jene Menschen, die das
Ressentiment als kollektiv unproduktiv, das heißt als schnorrend und
streunend identifiziert, in die Pogromhölle Kosovo abgeschoben.
Nicht nur,
dass an den Geflüchteten demonstriert wird, dass der Unterschied
zwischen kapitalproduktiver Funktionalisierung und Müllwerdung der
Menschen darin liegt, mit einem politischen Souverän identifiziert
zu sein, der für die Menschen noch anderswo Gebrauch findet als in
Kaserne und Moschee. Die selektive Asylpraxis verplombt die
Todesstille in den Despotien, in denen die europäischen Apparate
abzuschieben drohen. Gewährt man zwar den Gehetztesten unter den
Dissidenten Asyl, diktiert man doch allen anderen zu schweigen: Wer
vor der Flucht nicht gefoltert wurde, sei auch nach der Abschiebung
hiervon nicht bedroht - solange man nur schweige. Wenn an dem
deutschen Apparat die Asylersuche von geflüchteten Homosexuellen aus
dem Iran abprahlen, da es ihnen doch aufzubürden wäre, ihre
sexuelle Lust von der islamistischen Sitte zu unterdrücken, macht er
nach und nach die Lüge eines Mahmud Ahmadinejads wahr:
Homosexualität existiere nicht in der Islamischen Republik Iran. Da
scheint es fast human zu sein, dass der tschechische Apparat noch vor
kurzem Homosexuellen mit heterosexueller Pornografie konfrontiert und
dabei den Blutfluss zum Penis gemessen hat, um zu garantieren, dass
die Geflüchteten nicht über ihre Sexualität täuschen.
Und so ist
der deutsche Apparat auch immer wieder die letzte Instanz der
khomeinistischen Despotie im Iran: Roya Mosayebi floh mit ihren
beiden Söhnen im Mai 1997 vor dem Tugendterrorismus aus dem Iran.
Doch für den deutschen Apparat ist das erpresste Schweigen der
Frauen unter dem Hijab eine kulturelle Bürde, die auch Roya Mosayebi
demütig auf sich hätte nehmen müssen. Ihr Asylgesuch scheiterte,
der deutsche Apparat ordnete alsdann ihre Abschiebung an. Hierfür
wurde Roya Mosayebi aufgefordert, islamisch korrekte Fotografien von
sich abzugeben. Denn bei solchen, die mit weiblichem Haar zu
provozieren wagen, weigert sich der Apparat der Islamischen Republik,
die für die Abschiebung in den Iran gefragten Papiere auszuhändigen.
Roya Mosayebi empörte sich: Sie werde sich nie wieder dem Hijabzwang
fügen. Und so lag es an deutschen Polizeibeamten, die Gewalt der
khomeinistischen Despotie auszuführen. Sie brachen bei Roya Mosayebi
ein und zwangen sie unter physischer Gewalt, ihr Haar zu verhüllen.
Dabei erlitt sie schwere Blutergüsse. Roya Mosayebi, die später
anderswo Asyl fand, ist nur eine von vielen. Nosrat Soltani, die wie
Roya Mosayebi dem Zwangsapparat eines bayrischen Bezirkes unterlag,
scheiterte mit einer Verfassungsbeschwerde. Die Zwangsanordnungen
seien rechtsmäßig, so die deutsche Justiz. Gelegentlich – und
damit ist die Humanität der Deutschen bereits ausgereizt - wird die
Praxis der Zwangshijabisierung dadurch abgeschwächt, dass digitale
Fotografien, auf denen Frauen mit unverhülltem Haar zu sehen sind,
mit Grafiksoftware manipuliert werden (1).
Das OVG
Bremen bekräftigt
am 8. Oktober 2010, dass nur jene Oppositionellen „mit asyl- oder
abschiebungsschutzrelevanten Repressionen“ bedroht seien, die „aus
der Masse oppositioneller Iraner herausgetreten sind“. Es hebt
zudem hervor, dass auch die jüngsten Unruhen daran nichts geändert
hätten. Dies entspricht der obergerichtlichen Rechtsprechung. Das
OVG sehe keine Bedrohung von Geflüchteten, die mit der
Worker-communist Party of Iran assoziiert sind, so weit sie „sich
nicht exponiert haben“. Das VG
Hamburg bezieht
sich am 26. Mai 2010 auf den BfV, um zu konkretisieren, womit man
sich denn angemessen exponiert habe: eine Bedrohung sei nur dann
anzunehmen, wenn man sich in der Führung einer Oppositionspartei
befände oder man eine wesentliche Funktion in der Opposition
einnähme. Das VG sah im konkreten Fall keine Bedrohung eines
Oppositionellen, da er „erst seit zwei Jahren“ mit der The
Constitutionalist Party of Iran assoziiert und die lokale Sektion der
CPI viel zu klein sei, das seinem Parteiamt eine Asylrelevanz zukäme.
Das VG
Darmstadt befindet
am 19. März 2010, dass die Tätowierung eines christlichen Kreuzes
den Abzuschiebenden im Iran nicht bedrohe. Dieses werde zwar den
Verdacht einer Apostasie bei dem khomeinistischen Apparat wecken und
drohe dem Betroffenen mindestens mit einem Verhör, doch allein darin
liege „noch keine unmittelbare und erhebliche Gefahr“ für das
Leben des Abzuschiebenden. Das VG bezieht sich des Weiteren auf eine
Expertise des Deutschen Orient-Instituts vom 26. Februar 1999,
demnach die Konversion eines geborenen Muslimen ein „absoluter
Tabubruch“ sei, an den auch nicht gedacht werden könne. Der
khomeinistische Apparat gestehe den Verdächtigen eine Frist ein, in
der nachgespürt werde, ob die Konversion nicht allein des
Erschleichens des Asyls bezwecken sollte. Wenn dies so sein sollte,
drohe ihm keine weitere Repression. Dem VG zufolge ist anzunehmen,
dass der Betroffene - auch „mit Blick auf die zu erwartenden
lebensbedrohenden Konsequenzen“ - im Iran nicht nach außen für
die christliche Religion werbe und somit auch nicht von Repression
bedroht werde.
Der VGH
Bayern findet
am 2. März 2010 lobende Worte für den Realismus des
khomeinistischen Apparats, der die Funktion von Exil-Organisationen
vor allem darin ausmache, „Nachfluchtgründe zu belegen“. Das VGH
zweifelt daran, dass die khomeinistische Despotie aus der Assoziation
des Klägers mit dem ZdE auf einen todernsten Abfall vom Islam
folgern würde. Dies sei vom Kläger „nicht substantiiert
dargelegt“ worden. Das OVG
Sachsen befindet
am 10. November 2009, dass das Maß des khomeinistischen
Repressionsapparats die Zuordnung des Betroffenen zu einer im Iran
relevanten Oppositionsströmung sei. Einer Expertise des Deutschen
Orient-Institutes (04.01. u. 03.02.2006) nach gebe es zurzeit keine
relevanten Oppositionsbemühungen von monarchistischen Zirkeln im
Iran. Das OVG bezweifelt folglich, dass exilierte Monarchisten nach
ihrer Abschiebung in den Iran mit Repression bedroht seien. Wenige
Monate später, am 28. Januar 2010, werden Mohammad-Reza Ali-Zamani
und Arash Rahmanipour hingerichtet, beide wurden verdächtigt mit dem
royalistischen Kingdom Assembly of Iran assoziiert gewesen zu sein.
Und auf Press TV, einem englischsprachigen Organ der khomeinistischen
Despotie, ersah man in jenen Tagen einen von Monarchisten und
Marxisten lancierten Dolchstoß gegen die Islamische Republik.
Das VG
Saarland sieht
am 30. Oktober 2009 keine Bedrohung, dass im Iran die „innerliche
Distanzierung“ vom Islam und das Bekenntnis zum Atheismus als
Apostasie geahndet werden. Das VG spricht zwar offen davon, dass im
Iran zurzeit lanciert wird, die Todesstrafe als angemessene Ahndung
der Apostasie auch im kodifizierten Strafrecht aufzunehmen, schließ
sich aber dem BAMF an, demnach auch ein Atheist ohne gröbere
Bedrohung im Iran leben könne, so weit er nicht nach außen hin
provoziere.
Das VG
Düsseldorf bekräftigt
am 11. März 2009, dass Homosexuelle im Iran nur dann gefährdet
seien, wenn sie ihre Sexualität nicht „im Verborgenen ausleben“.
Es zitiert zwar aus dem iranischen StGB, wonach ausgelebte
Homosexualität mit dem Tod (bei Eindringen des Penis) und
Peitschenhieben (dem Beischlaf ähnelnder Intimität) geahndet wird,
bezieht sich aber zugleich auf die Expertise des Deutschen
Orient-Instituts, wonach der khomeinistische Apparat nicht aggressiv
gegen Homosexuelle vorgehe. Es „sei eine Frage des Zufalls“, so
das Institut, als Homosexueller Objekt von Drangsalierung zu werden.
Zuvor hatte bereits das VG
Berlin (03.12.2008)
befunden, „irreversiblen“ Homosexuellen drohe keine
„asylrelevante Repression“. Es sei anzunehmen, dass die
„drakonischen Strafandrohungen“ viel mehr theoretisch seien.
Das
ist der innerste Denkmechanismus des deutschen Abschiebeapparates:
wer schweigt und sich selbst unterdrückt, indem die Rache der
khomeinistischen Despotie rational einkalkuliert wird, werde auch
nicht „mit asyl- oder abschiebungsschutzrelevanten Repressionen“
bedroht. Jede Abschiebung reproduziert somit die repressiv erpresste
Todesstille in einer Despotie wie dem Iran. Das kühle Kalkül des
deutschen Apparats: nur dem der provoziere, drohe Repression, ist
eingebettet in die Kumpanei mit der khomeinistischen Despotie: die
Kälte gegenüber dem säkularen Aufbegehren, die konkrete
Solidarität bei der Unterdrückung den jüngsten Revolten (als da
wäre etwa die Überbringung von Repressionstechnologien), die
kulturalistische Einfühlung in deren Sitte und das penetrante
Kleinreden des despotischen Charakters der Islamischen Republik (der
eliminatorische Antisemitismus, die Todesdrohungen gegen Schwule …
nichts als Theorie). Doch die Geflüchteten sind nicht bloß Objekte
von Rechtsbeugung, gegenüber denen der politische Souverän seine
eigenen sakrosankten Prinzipen verrät. Pro
Asyl folgend erhielten
aus griechischer Inhaftierung entlassene Migranten nur zu oft
vordatierte Ausreiseanordnungen. Die fünftägige Frist, um auf dem
Rechtsweg das erzwungene Ende der Flucht hinauszuzögern, war bei
Aushändigung der Anordnung um Tage überschritten. Noch daran verrät
sich, dass der Geflüchtete kein Subjekt ist, das das Recht hat,
Rechte zu haben, sondern Objekt souveräner Intrige.
„Mit
Diskriminierung macht man keinen Staat“, so Pro
Asyl,
ohne Zweifel eine der honorabelsten Assoziationen in Solidarität mit
dem flüchtigen Leben, die dann doch nur dem politischen Souverän
verdächtigt, er suspendiere seinen eigenen innersten Kern: die
abstrakte Gleichheit der Menschen. Und so reproduziert sich noch in
den seltenen Momenten von Zärtlichkeit die Ideologie des
Kapitalverhältnisses. Zwar ist es unter dem Diktat des Kapitals nur
fair, der zähsten Flucht illegaler Migranten aus der Grauzone des
Rechts in die Subjektform zu sekundieren, indem man sie als
Konkurrenten annimmt, doch reproduziert sich im Appell an den
politischen Souverän unweigerlich der täuschende Schein jenes
totalitären Verhältnisses, das das flüchtige Leben als
überflüssiges produziert.
Nicht die
Menschen sind die authentischen Autoren ihres Lebens, Würde und
Bürde der Subjektivität erfährt das Individuum nur durch die
autoritär-repressive Vergleichung durch das Dritte von Kapital und
Staat hindurch: indem es die Arbeitskraft gegenüber seiner
Individualität objektiviert und sie als die ihm einzig eigene Ware
vermarktet; indem es also seine Bedürfnisse in die
Wertform transkribiert, sich als treuer Hirte der Ware Arbeitskraft
verhält und vom politischen Souverän zur Konkurrenz domestiziert
wird. Wie die konkret so verschiedenen Dinge des Lebens zur Ware
synthetisiert werden, so die Menschen zur Gattung der Warenbrüter.
Das Kapital ist es, das vom Sinnlichen der Menschen abstrahiert, in
der Vergleichung vom Individuellen an ihnen absieht und sie als
fungible Exemplare der kapitalisierten Gattung konstituiert. Mit
allen anderen - als Rechtssubjekte - gleich, also lebende Äquivalente
zu den Nächsten zu sein, aber zugleich durch alle anderen - als
Marktsubjekte oder: Konkurrenten - verüberflüssigt zu werden, ist
das Verhängnis der Individuen als kapitalkonstituierte Subjekte. Die
kapitalisierte Sozietät, so Horkheimer und Adorno, „ist beherrscht
vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es
auf abstrakte Größen reduziert.“ (2) Sie denunziert als Schein,
„was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht“. Das
kapitalkonstituierte Subjekt aber geht nicht nur in der Eins auf, es
ist in der Konkurrenz null und nichtig, absolut fungibel, das heißt:
nicht individuell, sondern der Gattung nach bestimmt; es kann also
durch andere Exemplare gleicher Gattung und derselben Menge in jedem
Moment ersetzt werden.
Die
konstitutive Fungibilität der Subjekte bricht sich rasend Bahn, wo
die kapitalisierte Sozietät die Produktivkräfte zwar unentwegt durch noch jede Krise hindurch revolutioniert und so die menschliche
Arbeitskraft mehr und mehr verüberflüssigt, aber eben jene Subjekte
nicht einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden wagen, die Arbeit
als unser Elend für alle Menschen kraft der technischen Revolution
auf ein Minimum zu drücken, viel mehr ihnen der stumme Zwang als
herrischer Vater eines jeden Gedankens eingehämmert ist: Arbeit ist
nicht nur das Medium ihrer sozialen Qualität, sie ist Selbstzweck,
ein Wert an sich. Dass himmelschreiend Irrationale an dem
Kapitalverhältnis verrät sich daran, dass noch jene, die ihr Leben
dem Benefiz gewidmet haben, den revolutionären Gedanken, den Hunger,
also die Bedürfnisse der Menschen zum einzigen Movens von Produktion
zu machen, als teuflisch austreiben.
Dem Elend
flüchtender Menschen beizukommen, indem man den politischen Souverän
an seinen eigenen innersten Kern erinnert: die Abstraktion des
Individuums zum Subjekt kapitalistischer Akkumulation, ist nicht nur
naiv, viel mehr noch verrät sich darin, dass noch im Moment des
Aufbegehrens dies im Namen des totalitären Äquivalentsprinzips
geschieht. Es ist der Staat, der die kapitalkonstituierte Gattung
wieder aufhebt und die Gleichen nach den halluzinogenen Kriterien von
Blut und Boden, also in Nationen und Völker sortiert. Egalität als
innerster Kern der kapitalisierten Sozietät resultiert aus dem
Zwang, unter den Charakter der Ware gezwungen zu werden, also aus der
Gleichförmigkeit der konkret so verschiedenen Dinge als Waren.
Ignorant gegenüber allen in völkischen Mythen und rassistischen
Gerüchten gehüteten Differenzen, identifiziert das Kapital die
Individuen zwar allein als seine potenziellen Verwertungssubjekte,
doch diese drohen an der Abstraktion zu scheitern, die das Kapital an
ihnen vornehmt: „die Gleichheit muß konkret, als Konkretes
nachvollzogen werden können – oder sie bleibt auch im Bewußtsein
das, was sie ist: ein von außen Aufgezwungenes, schlecht
Abstraktes.“ (3) Subjektivität bedarf der Identifikation mit Staat
und Nation. Erst in der Nation kann „das Unvergleichbare als
Gleiches phantasiert werden“. Nation heißt, „Unmittelbarkeit zu
behaupten, wo in Wahrheit alles vermittelt ist.“ (4) In ihr wird
das schlecht Abstrakte zwar nur vorgetäuscht aber allein dadurch
konkretisiert: der Zwang, unter der Warenform zu verschwinden, wird
im Phantasma der national identischen Individuen nachempfunden und
alsdann zur kollektiven Unsitte gemacht.
Umso mehr die
subjektivierten Individuen in der Vergleichung mit ihrer
konstitutiven Fungibilität konfrontiert werden, desto mehr dorren
sie nach dem politischen Souverän, der sie von den einen
Konkurrenten trennt und mit den anderen zu einer Nation einstampft.
Der Staat soll es sein, der ihre Austauschbarkeit, die ihnen wie ein
Stigma eingebrannt ist, zu stunden hat, der ihre kapitale
Wertigkeit vortäuscht. Dass der Staat die Arbeitskraft
nationalisiert und alsdann protegiert und die Arbeitskraftvehikel auf
sich selbst als einzige Appellationsinstanz einschwört, ist somit
die stille Prämisse sozialen Friedens. Zwar kann der
zwangsdemokratisierte Staat der Deutschen die Arbeitskraftvehikel
nicht von der Panik kurieren, fungibel, also an und für sich
überflüssig zu sein, doch zumindest versiegelt er ihr Privileg als
Deutsche kapitalproduktiv sich zuerst betätigen zu dürfen. Noch im
AsylbLG verrät sich dieser Artenschutz nationaler Arbeitskraft. Es
erhält das flüchtige Leben nur soweit, dass es nicht vor unseren
Augen dahinsiecht. Die Wartung des Körpers unterliegt allein der
Administration: so muss der Geflüchtete zunächst einen konkreten
Wartungsbedarf geltend machen, bevor er einen Arzt aufsuchen darf.
Die Hoffnung auf ein Ende des konkreten Leidens ist der Gnädigkeit
des Sachbearbeiters unterworfen, aber was anderes ist sein Körper
als eine Sache ohne dass von ihr - als gestundete Arbeitskraft -
Gebrauch gemacht wird. So werden in Thüringen kariöse Zähne nur
mit Zahnzement provisorisch gefüllt und bei einem Andauern des
Schmerzes gezogen. Und das VG Gera befindet, dass einer schweren
Hüftgelenksnekrose mit Opiaten nicht aber mit einem chirurgischen
Eingriff beizukommen wäre. Nicht selten, dass die rigide
Beschränkung des Wartungsbedarfs in letzter Konsequenz tötet: so
starb Mohammad S., ein Geflüchteter aus Guinea, am 14. Januar 2004.
Der Sachbearbeiter sah zuvor nicht ein, dass er einen Arzt aufsuche,
da er doch so oder so abgeschoben werde (5).
Diskriminierung
ist eben kein schleichender Suizid des politischen Souveräns, viel
mehr ruht die Spaltung der Gattung in der kapitalisierten Sozietät
selbst und ist als chronische Pathologie, so will man ein Ende der
Flucht durch eine freie Assoziation solidarischer Menschen, zu
kritisieren. Da dies ausbleibt, sind noch die aufrechten Freunde des
Asylrechts (von Pro Asyl über Amnesty bis
zur Caritas) gezwungen, die Geflüchteten auf
den Movens der Flucht hin zu beäugen und eine akkurate Trennung von
Asylsuchenden vorzunehmen, die durch einen tyrannischen Souverän in
die Flucht gezwungen werden, und allen anderen, die aus den Ruinen
des Weltmarkts vor nichts als Hunger fliehen um anderswo eine
kapitalproduktive Funktion einzunehmen. In dieser akkuraten Trennung
von Asylberechtigten und fliehenden Arbeitskraftvehikeln (letztere
allein durch Definition der UN Refugee Agency keine
Flüchtlinge) spiegelt sich die ideologische Zweiteilung des falschen
Ganzen, der „Katastrophe als Daseinsform“ (Rozalia Luxemburg) in
Staat und Kapital, in Politik und Ökonomie.
Dass die
konkret so verschiedenen und unvergleichlichen Dinge des Lebens einen
Wert haben, ist den Menschen ein Naturgesetz geworden, gegen das
aufzubegehren, eine Sünde an der göttlichen Schöpfung der
kapitalisierten Gattung wäre. Doch auch zur Bewältigung der
Abstraktionen, die das Kapital den subjektivierten Individuen
abverlangt, bedarf es etwas Konkretes. Das Geld ist zwar der
materielle Repräsentant jener Abstraktion, in der die konkreten
Dinge sich zu Waren verwandeln, doch im Geldfetisch eskaliert die
Ohnmacht der Individuen gegenüber den ökonomischen Naturgesetzen
nur noch weiter. Unter der Form des Subjekts können sich die
Individuen nur so weit - das heißt ohne Mentaltraining und anderer
Esoterik - als souveräne und authentische Autoren ihres Lebens
denken, wie sie sich in den Staat hineinfühlen. Die ökonomischen
Zwänge sind den Menschen zur zweiten Natur geworden, Hunger ist
ihnen nur etwas Ähnliches wie eine Wetteranomalie. Politik ist ihnen
dagegen das (wenn auch zunächst von Intransparenz und ähnlichem zu
reinigende) Terrain des Streitens und Werbens für das ideale
Katastrophenmanagement. Die Flucht in die Politik ist somit nur die
andere Seite des Desinteresses an den Katastrophen der zweiten Natur:
des Kapitalverhältnisses, die andere Seite der pathologischen
Indolenz gegenüber dem täglichen Tod durch nichts als Hunger.
Die
Suspendierung der Gattung Mensch und der Ausschluss der
Verüberflüssigten ist die brutale Konsequenz jener Abstraktion, in
der die Subjekte als Funktionäre kapitalistischer Verwertung sich
von den konkreten, empirischen Menschen trennen - und wie diese
Brutalität der Verüberflüssigung sich an dem flüchtigen Leben
geltend macht, ist vonPro Asyl und anderen detailliert
dokumentiert. Doch der Ausschluss folgt nicht allein einem blinden
Mechanismus, es ist der politische Souverän, der eine von allen
„geteilte Lüge“ „für den Zutritt zur nationalen Arbeitskraft“
(6) ausbrütet. Im Staat, dem Komplementär des Kapitals, ist die
terroristische Gewalt der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals
konserviert, sie demonstriert sich als konstante Drohung, den
Menschen Gewalt anzutun.
Als die
Deutschen noch gezwungen waren, die Asylantenflut noch eigenhändig
einzudämmen und das überflüssige und national nicht-identische
Leben auszuschwemmen, griffen Apparat und Volk wie Rädchen
ineinander. Während am 21. September 1991 mit der Abschiebung der
letzten Provokateure der nationalen Arbeitskraft (zuerst
vietnamesische und mosambikanische, nun mehr überflüssig gewordene
Arbeitskraftimporte, dann nicht mehr als 250 Asylsuchende aus dem
Iran und anderswo) aus der Lausitzschen Provinz die Gewalt des
pogromistisch sich ausagierenden Mob honoriert worden ist, hausierte
eines der Organe der Deutschen mit einem Volksbegehren, demnach 98
Prozent ihrer Leser für die Amputierung des Asylrechts votierten.
Es ist nicht
das Andersartige, das den Hass der zu Deutschen konvertierten
Arbeitskraftvehikel provoziert, es ist viel mehr die ihnen von den
ökonomischen Naturgesetzen eingebrannte Affinität zu dem als unwert
denunzierten Leben: die Geflüchteten sind ihnen die bösen Propheten
der eigenen Fungibilität vor dem Kapital. Und so eskaliert im Hass
auf das flüchtige Leben die nicht zu kurierende Panik vor der
drohenden Verwilderung des Arbeitskraftbehälters. Es blieb nur eine
Notiz des Septemberpogroms im Lausitzschen Hoyerswerda, dass bei der
Menschenjagd auf die als fremdartig stigmatisierten Arbeitskräfte
viele ihrer deutschen Kumpels aus den Braunkohlegruben sich resolut
ihrer Konkurrenz entledigt haben. Auch dieser äußerste Wille zur
Kapitalproduktivität und Staatsloyalität wurde vom politischen
Souverän quittiert: die zunächst Evakurierten, die unter den
Pogromisten nicht wenige ihrer früheren Kumpels identifizieren
konnten, wurden alsdann abgeschoben; ihre Arbeitsverträge wurden
ohne Entschädigung beendet.
Dass im
AsylbLG die Kosten der physischen Reproduktion eines Geflüchteten
noch 39,85 % unter dem Niveau eines auf ALG II dauergeparkten
Arbeitskraftvehikels gedrückt werden, fungiert nicht mehr, wie es
doch nahe liegt, als Schleichwerbung zwischen Paragrafen: das
flüchtige Leben als grob auszuschlachtende Arbeitskraft. Nein - noch
diese Qualität ist ihnen so weit genommen wie sie noch von einer
ökonomischen Schattenexistenz ausgegrenzt sind. Wurden seit den
1950er nicht-deutsche Arbeitskräfte mit der exklusiven
Charakteristik minderer Reproduktionskosten beworben - mit
italienischen Arbeitskraftimporte, so etwa der Industriekurier
(04.10.1955), bliebe eine kostspielige Ballung an Menschenmaterial
aus, da dieses nicht mehr bräuchte als „die Gestellung von
Baracken“ -, ist der Geflüchtete im AsylbLG, als nun mehr
verschwindend kleiner Punkt in der Kostenrechnung, zwar nur noch
unwertes aber widerspenstiges, weil auf ein besseres Leben
beharrendes Material auf Halde. Anders als die angeworbenen
Arbeitskraftbehälter haben die Geflüchteten im Moment der wilden
Migration an der Gewalt des Souveräns sich versündigt, sie fallen
in Ungnade eines ungnädigen Kollektivs, weil sie nicht allein seinem
Kalkül sich unterworfen haben. Dass sie den zu Deutschen
konvertierten Menschen an die Idee der solidarischen Gattung zu
erinnern wagen, ist die größte Provokation, die von ihnen ausgeht.
Sie brüskieren die Subjekte, die selbst nur ihr Existenzrecht
beziehen, indem sie dem Kapitalzweck in Gänze unterworfen und dem
Staat bis in den Tod ergeben sind. Der Geflüchtete ist allein
dadurch anrüchig, weil er sich der Prozedur aus Reglementierung,
Kalkulation und Selektion durch die Apparate zu entziehen wagt; er
ist allein durch seine Flucht verdächtigt, seinem eigenen
Zwangskollektiv abtrünnig zu sein, um das fremde zu schröpfen. Die
Deutschen wollen das Asylrecht nicht liquidieren, auch wenn es nur
ein Fetzen des moralischen Antlitzes ihrer Zivilisation ist, sie
wollen nur den betrügerischen Gebrauch liquidieren, unter dem
potenziell jeder Gebrauch fällt, der sich nicht allein dem Ermessen
des Souveräns ausliefert. Und so wird das Desinteresse an der
militanten Protestation von Geflüchteten aus dem Iran gegen den
stillen Tod in einem Leben aus Kaserne und Kälte, wie nun im
fränkischen Würzburg, des Öfteren von einem rülpsartig
ausgestoßenen „Verschwindet, ihr Erpresser“ durchbrochen.
Der Prellbock
an der Migrationsfront
Doch der
politische Souverän rächt mit seinen eigenen Instrumentarien die
irreguläre Migration, das heißt mit Inhaftierung und halboffener
Kasernierung, mit Residenzpflicht und anderen Repressalien. Zwar ist
die deutsche Residenzpflicht einzig in Europa; die Abschiebehaft
dagegen ist hier wie dort auf bis zu 18 Monaten festgeklopft. Am 26.
April 2012 lancierten die europäischen Minister für Inneres ein
Haftregime, das alle Asylsuchenden zu schlucken droht: Haft zum Zweck
der Identifizierung, Haft zum Zweck der Beweissicherung der
Fluchtgründe, Haft zum Zweck der Vereitelung einer Weiterflucht und
so weiter. Mit der Dublin-II-Verordnung vom 18. Februar 2003 kann de
facto nur in dem Staat Asyl ersucht werden, über den der Flüchtige
als erstes in die EU eingereist ist. Als Identifizierungssystem
fungiert die europäische Datenbank zur Speicherung von
Fingerabdrücken, EURODAC (European Union automated fingerprint
identification), die circa 500.000 Vergleiche pro Sekunde vornehmen
kann. In Folge der Dublin II Verordnung schieben die kerneuropäischen
Staaten massiv an die innerste Front des europäischen
Migrationsregime ab (7): nach Ungarn etwa, wo Asylsuchende
systematisch bis zu zwölf Monaten inhaftiert werden. Pro
Asyl dokumentierte jüngst eine dauernde Verabfolgung von
Opioiden (wie Tramadol) und Hypnotika an die Inhaftierten. Viele
Inhaftierte seien aggressiv, so bald die Verabfolgung ausbleibt, die
das einzige Moment verspricht, der Enge zu entfliehen. Es scheint als
wäre alles so eingerichtet, um den Geflüchteten bleibend
einzuhämmern, dass Flucht nur als Erstarren des Lebens zu haben ist:
das fixierte Mobiliar, das den Blick nach außen brechende
Stahlgeflecht, die physischen Drangsalierungen durch die Wärter.
Im Jahr 2010
wurden 742 Flüchtlinge nach Ungarn mittels Dublin II abgeschoben,
2009 waren es 934 Abgeschobene, 261 davon schob der deutsche Apparat
ab. Pro Asyl erzählt aus der Flucht eines jungen
Afghanen: Flucht über den Iran in die Türkei, wo er zwei Monate
arretiert wird, um dann in das afghanische Kabul abgeschoben zu
werden. Dort bricht er wenig später wieder auf. Nun überwältigt er
die griechisch-türkische Grenze, wird aber vom griechischen Apparat
aufgetrieben und inhaftiert. Nach Ende der Haft wagt er die Route
über den Balkan, wird im albanischen Tiranë einen Monat und im
kosovarischen Priština zwei Tage inhaftiert. An der ungarischen
Grenze wird er aufgetrieben und - halboffen - kaserniert, zunächst
dreitägig von allen anderen isoliert. Als ihn die Abschiebung in die
griechische Hölle angedroht wird, wagt er die weitere Flucht. In
Österreich wird er zehn Tage inhaftiert, nach wenig mehr als vier
Monaten wird er nach Ungarn abgeschoben, wo er 15-tägig in Haft
auszuharren hat. Bei der zweiten Flucht nach Österreich, etwas
Menschenfreundlicheres liegt nicht auf der Route, wird er nach drei
Monaten wieder in Abschiebehaft genommen und nach Ungarn abgeschoben.
Es folgen 15 Tage Internierung in einem speziellen Screening-Zentrum
und über sechs Monate in drei verschiedenen Haftzentren der
ungarischen Grenzpolizei. Wieder wagt er die Flucht nach
Österreich - etwas Menschenfreundlicheres tat sich immer
noch nicht auf - von wo aus er vor seiner Abschiebung nach Ungarn in
die Schweiz weiter flüchtet. Nach sechs Monaten halboffener
Kasernierung wird er fünftägig inhaftiert und nach Ungarn
abgeschoben. Von dort flieht er weiter, bis ein ärztliches Attest
über posttraumatische Belastungsstörung im deutschen Exil dem
Verhängnis aus Flucht, Inhaftierung und Abschiebung vorerst ein Ende
macht (8).
Hinter
Ungarn erstreckt sich eine der äußersten Fronten des europäischen
Migrationsregimes: die Ukraine. Die Europäische Kommission, das
wesentliche supranationale Organ der EU, finanzierte im Jahr 2008 der
Ukraine zwei größere Inhaftierungszentren für irreguläre
Migranten. Kaum ein Geflüchteter, der in der Ukraine unter
permanenten Drangsalierungen weniger als 12 Monate inhaftiert wird.
Seit dem 1. Januar 2008 handhabt die EU über einen Abschiebepakt mit
der Ukraine; mit dem autoritären Regime in Belarus befindet sich die
Europäische Kommission seit dem 28. Februar 2011 in Gesprächen über
einen Abschiebepakt (seit längerem werden zudem die weißrussischen
Grenzbüttel durch deutsche Routiniers instruiert. S.
BT-Drs. 17/8119)
Nicht nur hier tut sich der Graben zwischen dem noch wesentlichen und
vollends verflüssigten Teil der Gattung Mensch auf, zwischen Julija
Tymoschenko etwa und den namenlosen Exilsuchenden in ukrainischen und
weißrussischen Knästen.
„ ...
in dem Wunsch nach Wahrung und Stärkung des Geistes der Solidarität
... zwischen beiden Staaten“ - mit diesen Worten beginnt
dieSchrift zu
einem anderen Pakt, über den der deutsche Apparat seit dem 14. Juli
2008 handhabt. In dem mit der ba'athistischen Despotie Syriens
geschlossenen Pakt (ratifiziert am 03.01.2009) wird die Abschiebung
der Ausgesiebten in die syrische Hölle geordnet. Im BMI sprach man
alsdann „zur Einordnung“ von 7.000 unmittelbar von Abschiebung
Bedrohten. Betroffen von der deutsch-syrischen Kumpanei sind neben
Syrern, deren Asylersuch scheitern, auch Menschen, die zuvor in
Syrien nur geduldet waren oder über Syrien ihre Flucht nach Europa
vollendet haben. Miteinbegriffen sind so jene Menschen, deren Eltern
oder Großeltern während einer von Staats wegen organisierten
Arabisierungskampagne aus dem Jahr 1962 aus der syrischen Nation
ausgeschlossen worden sind. Für das erste Quartal 2011 wurden
weitere 171 Abschiebungen nach Syrien angemeldet (BT-Drs. 17/5429),
bis die Apparate - einer nach dem anderen - sich entschlossen haben,
dass Abschiebungen nach Syrien vorerst auszubleiben haben. Es dauerte
dann noch bis Ende März 2012, bis die deutschen Apparate einen auf
sechs Monate befristeten formellen Stopp von Direktabschiebungen nach
Syrien beschlossen hatten (m.mik.nrw.de, 30.03.2012). Sechs Monate
... Kalkuliert man ein, dass das ba'athistische Regime bis dahin die
Gewalt der Deserteure und Djihadisten gebrochen und sich als einzig
souveräne Gewalt über Leben und Tod in Syrien behauptet hat? Oder -
wenn doch davon auszugehen ist, dass der Abschiebestopp verlängert
und verlängert wird wie die Menschenschlacht in Syrien kein Ende
findet - will man den Geflüchteten einhämmern, dass ihr Asyl
vergänglich ist und ihre Existenz dem deutschen Souverän nichts als
überflüssig ist? Die Befristung auf sechs Monate scheint auch an
die Geflüchteten aus der syrischen Hölle adressiert zu sein, die
noch irgendwo im türkischen oder griechischen Transit hängen: auch
bei gröbster Bedrohung eures Lebens könnt ihr auf zu viel
Generosität nicht hoffen. Folglich werden weiter Geflüchtete aus
der syrischen Hölle nach Dublin-II-Kriterien an die innerste Front
des europäischen Migrationsregimes verschoben und so las man jüngst
(etwa auf welt.de, 10.01.2012) von vier syrischen Flüchtigen, zwei
von ihnen Deserteure, denen nach mehrwöchiger Inhaftierung in der
JVA München die Abschiebung nach Ungarn droht.
Jüngst beschloss der
konzentrierte Apparat der EU zur Austreibung des überflüssigen
Lebens, Frontex (Frontières
extérieures oder: European
Agency for the Management of Operational Cooperation at the External
Borders of the Member States of the European Union),
mit der Türkei eine Intensivierung der Kooperation. Die Türkei wird
nun, nachdem ihr ein Ende der „unwürdigen Visabeschränkungen“
(Ahmet Davutoğlu) für die Ihrigen versprochen wurde, Menschen, die
über türkisches Territorium in die EU flüchteten, aufnehmen und
bis zur weiteren Abschiebung zwischenlagern. Inzwischen nehmen mehr
als 80 Prozent der Flüchtigen die Route über die Türkei nach
Europa. Die meisten von ihnen werden von dem griechischen Apparat
aufgerieben, der zwar seit dem 12. März 2002 auf einen ratifizierten
Abschiebungspakt mit der Türkei sich stützen kann, dieser aber zu
Frustration der Griechen unausgefüllt blieb: Im Jahr 2010 wurden bei
10.200 griechischen Gesuchen nur 501 Abschiebungen vollstreckt.
Kerneuropa
verplombt nun mit der direkten Funktionalisierung der Türkei als
vorgelagertes Sieb des überflüssigen Lebens seine Grenzen noch
weiter. Die EU finanziert in Ankara und Erzurum zwei
Inhaftierungszentren für je 750 Abzuschiebende mit einem Beitrag von
15 Millionen Euro. Vier weitere solche Zentren, in denen Flüchtige
bis zu ihrer Abschiebung konzentriert werden, sind von der Türkei
finanziert. Stark ausgelastet sind seit längerem die beiden
Inhaftierungszentren in Kırklareli (Kapazität von circa 1.000
Inhaftierten) und Edirne (es wird aktuell erweitert), nahe der
türkisch-bulgarischen und türkisch-griechischen Grenze. In Van,
nahe der türkisch-iranischen Grenze, überbringen Europäer der
Türkei Kontrolltechnologien, ein Teilprogramm von Twinning,
in dem die EU die Rationalisierung der Apparate in Staaten
finanziert, um die sie sich zu erweitern denkt. Parallel werden zwei
Migrationszentren in Van, dem Nadelöhr von Fluchtbewegungen aus dem
Iran, installiert: in dem einen sollen Asylsuchende aufgenommen, also
zwischengelagert und auf die Asylrelevanz ihrer Flucht gescannt
werden, in dem anderen sollen die Ausgesiebten inhaftiert und zur
Abschiebung vor allem in den Iran konzentriert werden.
Die Türkei
wird somit zu einem Laboratorium modernster Selektion des
überflüssigen Lebens. Da die Türkei nach wie vor den Art. 1 B. 1.
der Genfer Flüchtlingskonvention geltend macht (also das juristische
Schlupfloch, den Movens legitimer Flucht geografisch einzugrenzen),
gewährt sie nur jenen Menschen Flüchtlingsrechte, die aus Europa
kommen. Auf Asyl ist nur durch den Maklerdienst der UN
Refugee Agency (UNHCR) zu hoffen. Asylsuchende duldet die
Türkei, so weit diese von dem türkischen Ministry of Interior einen
„temporären Asylstatus“ zugesprochen bekommen - und zwar nur so
lange wie ihr Ersuch von dem UNHCR auf Asylrelevanz abgeklopft wird.
In Folge eines „temporären Asylstatus“ werden die Geflüchteten
auf eine der 50 Satellitenstädte verstreut, wo sie einer rigiden
Residenzpflicht unterworfen sind. Soweit ein Geflüchteter von dem
UNHCR als Asylsuchender registriert und die Asylrelevanz der Flucht
gescannt worden ist, kategorisiert dieser sie nach der Aktualität
eines Resettlement-Bedarfs. Es liegt nun an der Gnade der Staaten und
an ihren Kriterien, wer das türkische Transit verlassen darf. Im
Jahr 2010 erhielten 5.335 Flüchtlinge in der Türkei das Privileg
eines Resettlement, davon allein 3.200 in den USA. In den 27 Staaten
der EU wurden nur 121 Flüchtlinge (und zwar aus dem Irak und Iran)
aufgenommen. Im Jahr 2011 fanden nur noch 4.155 Flüchtlinge aus der
Türkei die Aufnahme in einem Drittstaat, wovon 2.230 von ihnen der
irakischen Hölle entflohen sind. Während die USA 1.523, Australien
494 und Kanada 211 irakische Flüchtlinge aufnahmen, war die
Generosität der europäischen Staaten mit zwei Flüchtlingen
ausgereizt (9).
Wer
kaum auf ein solches Resettlement zu hoffen hat, wagt die weitere
Flucht über die türkisch-griechische oder türkisch-bulgarische
Grenze. Fungiert die Türkei als vorgelagertes Sieb, wird im
griechischen Schatten Kerneuropas das flüchtige Leben aufgestaut -
mit dem kühlen Kalkül, dass die Geflüchteten vor dem Hass, der
dort auf sie trifft, kapitulieren. Wer nicht von der Strömung des
206 Kilometer langen Grenzflusses Meriç in den Tod gerissen oder von
der Ägäis geschluckt wird, wer nicht von knochenzerschmetternden
Felsen begrüßt oder an Unterkühlung stirbt, wird vom griechischen
Apparat aufgerieben und - entkommen tut kaum einer - obligatorisch
bis zu einer Dauer von sechs Monaten inhaftiert. Ohne dass es zu
einem individuellen Sceening der Asylrelevanz durch den griechischen
Apparat kommt, denn der Geflüchtete ist hier kein Individuum mehr,
sondern nur noch identisches Exemplar des lebenden Überschusses,
wird den Aufgeriebenen administriert, sich wieder zu verflüchtigen -
sobald sie aus der Haft entlassen werden. Die
Zeit (04.02.2010)
schrieb in einem seltenen Moment von Scham über die Flucht junger
Geflüchteter: Über die Nussschalen, die an den kantigen Felsen
zerschlagen und mit ihnen die Körper der jungen Geflüchteten. Über
die Gräber von 40 bis 60 tödlich Aufgeriebenen, die
neben den Gartenabfällen eines griechischen Friedhofes ausgehoben
werden und nach drei Jahren wieder geebnet werden, um weitere tote
Körper zu verscharren. Über den sechzehnjährigen Milad, der
aussagt, dass die Griechen ihn und andere Flüchtlinge noch auf dem
Meer aufgerieben und in türkisches Gewässer bugsiert hätten -
gefühlte zwei Kilometer vor der türkischen Grenze alleingelassen
auf einem von den Griechen zerstochenem Schlauch. Über die auf
unbevölkerten dry islands gebrachten Kinder (auch Pro
Asyl dokumentierte diese
Praxis). Und über Pagani auf Lesbos, einem der berüchtigtsten
griechischen Inhaftierungszentren, in dem bis Ende Oktober 2009 vor
allem auch junge Geflüchtete konzentriert wurden. Über die dortigen
Matratzen, die mit Kloake aus den ständig verstopften Klosetten sich
vollsaugen. Über die täglichen Kämpfe, wer im Kot schlafen muss
und wer nicht. Über Ärzte, die nur mit Blickkontakt durch das
Stahlgeflecht die Geflüchteten besehen dürfen. Über jugendliche
Flüchtlinge, die sobald ihre Inhaftierung endet, gezwungen sind, in
der Illegalität zu verharren und denen von Polizisten die Knie
zertrümmert werden. Über provisorische Behausungen im Wald oder in
ausrangierten Wagons. Und über rassistische Rackets, die das übrig
tun, damit sich den Geflüchteten einhämmert, dass die Flucht nie
enden wird. Doch auch in diesem seltenen Moment von publizistischer
Scham über die Aggression gegenüber dem flüchtigen Leben erscheint dieses noch als Anthropologie. So liest man von neuen Völkerwanderungen,
die Europa heimsuchen, nicht aber von den Revolten, die den
griechischen Apparat zwangen, Pagani zu evakuieren, nachdem vor allem
jugendliche Insassen ihre kloakenverseuchten Matratzen verbrannt und
dabei immer wieder Parolen gerufen haben: „We
want freedom, we don't want food“.
In
Patras, dem griechischen Brückenkopf nach Kerneuropa, konzentrieren
sich jene, die es wagen, eingeklemmt unter einem Containerchassis
oder anderweitig riskant davonzukommen. Auf eurotransport.de,
die Domain eines Transportsfachverlages, echauffiert man sich
inzwischen über die Repression gegen ihr Klientel, die in einen
Konflikt hineingezogen werden, der nicht ihrer ist und der Schleusung
verdächtigt werden, weil sie für einen flüchtigen Moment den Blick
nach blinden Passagieren vergessen. Pro
Asyl dokumentierte jüngst
den „systematischen Charakter“ rohster Gewalt des griechischen
Apparats gegen Flüchtlinge in Patras und doch ist er es im nächsten
Moment, der einen neofaschistischen Pogrommob auf Distanz hält, der
wie am 22. Mai 2012 eine Industrieruine, in der Flüchtlinge
ausharren, zu überrollen droht. Und so macht sich der griechische
Apparat auf, die noch eben aus der Inhaftierung in die Illegalität
entlassenen Flüchtlinge wieder zu konzentrieren. Ende April wurde
das erste von bis zu 50 Internierungszentren für illegale Migranten
nordwestlich von Athen aufgemacht. In jedem dieser Zentren, bestehend
aus mit Stahldraht eingezäunten Containern, sollen circa 1.000
Abzuschiebende arretiert werden. Der taz (30.04.2012)
folgend würde die EU-Kommission allein im Jahr 2012 die
Internierungszentren mit bis zu 30 Millionen Euro mitfinanzieren, für
2013 seien weitere 40 Millionen versprochen. Und so ist die Aggression gegenüber den Geflüchteten nicht allein eine griechische, viel mehr
eine europäische unter dem strategischen Kommando von Frontex. 25
Staaten aus der europäischen Familie bringen sich mit Mensch und
Material in die von Frontex koordinierte Mission
Poseidon ein,
bei der irreguläre Migranten an der türkisch-griechischen Grenze
aufgetrieben werden. Nach dem Screening, bei dem in weniger als 30
Minuten die Geflüchteten auf ihre Identität abgeklopft werden,
werden diese dem griechischen Haftregime ausgehändigt.
Eine weitere,
zwischendurch entschärfte Front der europäischen Hatz auf das
flüchtige Leben liegt zwischen Italien (sowie dem Archipel Malta)
und Libyen. In Folge der engen Kumpanei des europäischen Apparats
mit afrikanischen Transitstaaten erfreute sich Spanien, dem Nadelöhr
von Migrationsbewegungen von Afrika nach Europa, einer Abnahme der
irregulären Migration zwischen 2006 und 2008 um 74 Prozent. Doch mit
der Integration von autoritären bis despotischen Regime in den
europäischen Apparat verschoben sich die Fluchtrouten - was für die
Flüchtigen ein Unterschied zwischen Leben und Tod sein kann.
Zwischen 2006 und 2008 nahm die irreguläre Migration nach Italien um
64 Prozent zu, der relevanteste Transitstaat war nun mehr die
libysche Despotie. Doch es dauerte nur bis Juli 2009 und auch diese
Fluchtroute war blockiert. In den Wochen zuvor unternahmen Libyer und
Italiener kollektive Patrouillen; hunderte Geflüchtete wurden in die
libysche Hölle abgeschoben. Was wie eine exklusive
Kumpanei der Italiener mit der libyschen Despotie erschien, verdeckte
nur die Intensivierungsbemühungen der Europäischen Kommission,
Libyen zu einem rationalen Migrationsregime zu trimmen. Als erstes,
im Jahr 2004, wurde den Libyern unter anderem 1.000 Leichensäcke
überbracht, später empfing die libysche Despotie eine
Frontex-Delegation, die zum einen 60.000 inhaftierte Migranten in
Libyen zur Notiz machte und zum anderen einen Mängelkatalog an
fehlendem Repressionsmaterial. Die EU finanzierte überdies
Optimierungskampagnen an der libysch-algerischen und
libysch-nigrischen Grenze mit. Die weitere Forcierung der
europäisch-libyschen Kumpanei drohte nur noch am libyschen
Antiimperialismus zu scheitern, das heißt konkret: seine
Repressionsgewalt nicht unter eingebildetem Wert zu verkaufen. So
wollte die Europäische Kommission ihren Kostenanteil an der
Abriegelung der südlichen Grenzen Libyens auf 20 Millionen Euro
festklopfen, al-Gaddafi dagegen drängte auf fünf Milliarden Euro.
Ein effektives Grenzkontrollregime entlang der libyschen Südgrenze
wurde dann wieder von Italien forciert. Die Kosten - 300 Millionen
Euro - sollten anteilig von Italien und der EU übernommen werden.
Die Finmeccanica S.p.A., einer der größten
italienischen Industrieholdings, sollte sich einem integrierten
Radar- und Satellitenregime zur peniblen Kontrolle von
Fluchtbewegungen annehmen, des Weiteren nahm sie in Libyen die
Produktion von Helikoptern auf (10).
Auch
wenn später die nun mehr wütenden Rackets in Libyen sich mit ihren
Pogromen gegen dunkelhäutige Immigranten für jene Funktion
empfohlen haben, die zuvor das al-Gaddafi-Regime eingenommen hatte:
also die Funktion des vorgelagerten Prellbocks gegen irreguläre
Migration, in den Monaten des Ruins der libyschen Despotie wurde ihre Aggression gegenüber Geflüchteten zu dem noch einzigen Argument für
al-Gaddafis Verbleiben. Es drohe nun die große Flut, so las man
(etwa: Die
Zeit,
10.03.2011), als wäre Migration nur eine Katastrophe der ersten
Natur. Doch die Kälte der Europäer trieb auch diese aus. Ende März
2011 trieb ein manövrierunfähiger Kahn, beladen mit 72 flüchtigen Menschen,
fünfzehntägig in einem Gewässer umher, in dem doch in jenen Wochen
die maritime Macht von Europäern sich konzentrierte. Ein
eritreischer Kleriker kontaktierte den italienischen Apparat:
vergebens. Ein Militärhelikopter kreiste über den Kahn: vergebens,
denn mehr als trockenes Gebäck und Wasser, das abgeworfen wurde, war
für die Flüchtigen nicht übrig. Die Strömung trieb den Kahn auf
ein weiteres militärisches Objekt zu: vergebens. Die Überlebenden -
es waren am Ende neun - sagten aus, sie hätten dabei ihre töten
Säuglinge in die Luft gehoben: vergebens. Die spanische
Fregatte Mendez-Nuñez befand
sich in der Nähe: vergebens. Frontex spürte mit der
Operation Hermes in
jenen Tagen dem flüchtigen Leben vor den Küsten Italiens und des
Archipels Malta nach: auch vergebens.
Dem
UNHCR folgend starben
mehr als 1.500 flüchtige Menschen im Jahr 2011 in jenem Gewässer,
dass die Spaltung der Gattung geografisch zumindest annähernd
ausdrückt. Umso mehr die Kontrolle über die Migrationsrouten
zunimmt, desto mehr Menschen sterben allein gelassen in gröbster
Bedrängnis. Was wie ein Paradoxon erscheint, liegt doch in der Logik
der Spaltung der kapitalisierten Gattung unter dem Verhängnis der
absoluten Fungibilität ihrer Exemplare.
(1) Der
letzte Fall einer solchen Zwangshijabisierung durch den deutschen
Apparat, den ich im World Wide Web fand, ist aus dem Jahr 2004. Was
nicht heißen muss, dass es danach keine mehr gab.
S.Graswurzelrevolution, 244/Dez. 1999 u. 289/Mai 2004.
(2)
Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, FfM 2003, S. 13.
(3) Scheit:
Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt, ça
ira Verlag 2004, S. 209.
(4) Ebd.,
208.
(6) Bruhn:
Vom Mensch zum Ding, in: Flugschriften, ça ira Verlag
2001, S. 104.