„Ihr
seid die Akıncılar eines großen, mächtigen und ehrenvollen
Landes“, schmeichelt Binali Yıldırım, türkischer
Ministerpräsident von Erdoğans Gnaden, die Anwesenden in der
Oberhausener König-Pilsener-Arena und verspricht ihnen, dass der
Büyük Reis, der „große Führer“ Recep Tayyip Erdoğan,
höchstpersönlich in den kommenden Tagen zu ihnen reisen und
sprechen wird.
Die
historischen Akıncılar – irreguläre, außerhalb der osmanischen
Armee stehende Kavalleristen, deren Beuteökonomie auch aus der
Versklavung Überfallener und dem Knabenzins bestand – werden in
der islamistischen Erweckungsbewegung Millî Görüş als
Frontkämpfer Gottes wider der Ungläubigen mystifiziert. Nach ihnen
benannt war bis 1979 die militante Parteijugend von Millî Görüş,
in der Erdoğans Karriere als Agitator begann. Die Akıncılar des
jungen Erdoğan verachteten die laizistische Republik als Nachahmung
der Ungläubigen und beschworen die Gründung eines „erhabenen
Islamischen Staates“. Rivalisierende Ideologien denunzierten sie
als „jüdische Intrigen“. Zugleich war ihnen der real
existierende Staat Appellationsinstanz, die Feinde des Vaterlandes zu
zerquetschen. Auf der Straße befehdeten sie sich in diesen Jahren
mit der „idealistischen Jugend“ der Grauen Wölfe (Ülkücüler)
sowie mit Kommunisten äußerst brutal. Wie in Malatya 1978 kam es
aber anlässlich tödlicher Pogrome an Aleviten, identifiziert mit
sexueller Freizügigkeit, kommunistischer Subversion und anderem
Unheil, auch zu spontanen Verbrüderungen von Akıncılar und
Ülkücüler.
Wieder
in Ankara angekommen sprach Ministerpräsident Binali Yıldırım vor
den Abgeordneten der eigenen Partei. Unter dem Gejaule der
Muslimbrüder spreizte er
die Finger zum völkischen Wolfsgruß: „Meine nationalistischen und
idealistischen Geschwister haben 'mein Vaterland und mein Volk
zuerst' gesagt und so haben wir uns Seite an Seite mit ihnen auf dem
Weg gemacht. Wie können wir das vergessen...“, rühmte der
Ministerpräsident die alles andere als spontane Verbrüderung von
Grünen und Grauen Wölfen.
Die Akıncılar
des jungen Erdoğans denunzierten die Grauen Wölfe noch als
„jüdischen Fallstrick“ für die Muslime. Doch die Rivalität
zwischen ihnen war mehr eine der Banden und weniger eine
ideologische. Anders als bei den ägyptischen Muslimbrüder ist es
nicht die Ummah, die als Inbegriff der Einheit fungiert, es ist das
Vaterland, das Recep Tayyip nicht weniger heilig ist als den
völkischen „Idealisten“. Außer einige Übereifrigen wollten
weder die Grünen Wölfe der Akıncılar, deren fleißigsten
Agitatoren um Recep Tayyip später den Staat eroberten, noch die
Graue Wölfe der Milliyetçi Hareket Partisi, der „Partei der
nationalistischen Bewegung“, den Staat revolutionär zerschlagen.
Ihre Aggressivität galt und gilt viel mehr allem, was den Staat,
diese Kollektivbestie, auszuhöhlen drohe: die Entfremdung vom Islam,
die Nachahmung der Ungläubigen, kommunistischer Klassenhass, die
Verweichlichung des Mannes, die „Genozidlüge“.
Wer
sich nicht darüber täuschen möchte, welches etatistische Programm
die türkischen Muslimbrüder von Beginn an verfolgten, hat im
theologischen Seminar nichts verloren. Ihr rassifizierter Islam, der
in der Türkei Staatsreligion ist, gründet in der Republik selbst.
Der Genozid an den anatolischen Armeniern koppelte die nationale
Identität schicksalhaft an den Islam, auf den die Nationalisten in
Tradition Mustafa Kemals zugleich misstrauisch herabblickten. Es war
die Teilhabe an Ausplünderung und Mord, die die Frommen mit der
Modernisierungsdiktatur präventiv versöhnte und eine Nation
begründete, deren Schuld sich in der Paranoia äußert, die
Ermordeten und Verleugneten könnten aus ihren Gräbern aufstehen und
als pseudokonvertierte Christen und Juden, als „zionistische
Kabale“ oder „armenische Diaspora“ Rache nehmen und den Keil
ins Vaterland schlagen. Während einer Ansprache Erdoğans in
Trabzon, einem nationalchauvinistischen Moloch, brüllten die
ihm Hörigen: „Armenische Bastarde werden uns nicht klein
bekommen“.
Die
lebendigen Überlebenden galten noch in den ersten Jahrzehnten der
Republik, die den Islam so gnadenlos entarabisierte und dem
Modernisierungsauftrag von Ökonomie und Apparat unterwarf,
allerhöchstens als Kanun Türkü, als „gesetzliche Türken“, mit
dem ihnen eingebrannten Stigma, keine Muslime des Blutes zu sein. In
Folge von Kampagnen wie Vatandaş Türkçe konuş („Landsmann,
sprich türkisch“) hetzte und prügelte die nationalchauvinistische
Rotte Menschen mit untürkischem Zungenschlag und drang ins jüdische
Charité Istanbuls ein, um die hebräische Inschrift
herauszuschlagen. Vor allem das kosmopolitische Pera, das heutige
Beyoğlu, sowie Izmir, die „Stadt der Ungläubigen“, provozierten
mit ihren Kirchen und Synagogen. Die Durchdringung des türkischen
Islams durch die ideologischen Elemente Rasse und Blut ist Erbe der
formal laizistischen Republik. Und doch spüren Grüne wie Graue
Wölfe dem Gerücht aggressiv nach, das der republikanischen Idee
anhaftet: dass diese die Nation von Blut und Boden abstrahiere und
somit empfänglich mache für kosmopolitische und individualistische
Keime. Darin sind sie sich zum Verwechseln ähnlich und hier liegt
auch der Unterschied zu den republikanischen Nationalisten, die sich
an den Gründungsmythos der Republik klammern aber eben auch an die
individuellen Ungezwungenheiten, die in die Republik sich
eingeschlichen haben.
Die bleierne
Rivalität, die Grüne und Graue Wölfe in den 1970er Jahren auf der
Straße austrugen, forderte hunderte Tote. Daran, dass die
Einigkeit einstiger Rivalen auch heute noch einzig im Tod besteht,
lassen sie selbst keinen Zweifel. Am Tag der Verhaftungen der beiden
Co-Vorsitzenden der oppositionellen und antinationalistischen
Halkların Demokratik Partisi, Figen Yüksekdağ und Selahattin
Demirtaş, traf sich Recep Tayyip Erdoğan mit Devlet Bahçeli,
Vorsitzender der völkisch-panturkistischen Milliyetçi Hareket
Partisi, zu einem Gespräch. Der Rudelführer der Grauen Wölfe mit
dem programmatischen Vornamen „Staat“ köderte Recep Tayyip mit
der Befürwortung seiner Partei für eine Verfassungsänderung hin zu
einem Präsidialregime unter der Bedingung, dass Abdullah Öcalan
hingerichtet werde. Nachdem am 13. Januar der Abgeordnete der
Halkların Demokratik Partisi Garo Paylan, einer der noch nicht
Inhaftierten, in der Nationalversammlung von der genozidalen
Auslöschung der anatolischen Armenier sprach, drohte die Milliyetçi
Hareket Partisi ihr „Ja“ zur Verfassungsänderung einzufrieren,
wenn Garo Paylan nicht für die „Genozidlüge“ bestraft werde. Er
wurde bestraft: seine niedergebrüllte Rede aus dem Protokoll
gelöscht, er selbst von den kommenden Parlamentssitzungen
ausgeschlossen.
Ganz
zu sich kommt diese – wenn auch in den Konstellationen prekäre -
Staatsfront in der Konterguerilla: Während auf den zerschossenen
Fassaden in den abtrünnigen Distrikten des Südostens die Todesgrüße
der Genozideure prangen: „Armenische Bastarde“, denunziert Yeni
Akit, die morgendliche Lektüre Erdoğans, die Halkların Demokratik
Partisi als jüdisches Geschöpft, schließlich sei diese von der
Sozialen Ökologie „des russischen Juden“ Murray Bookchin
inspiriert. Freund und Feind des Vaterlandes werden wie zwanghaft als
fremdrassig markiert. Ihren Abgeordneten attestierte Erdoğan
unlängst „verdorbenes Blut“.
1848
polizeiliche Inhaftnahmen von Abtrünnigen des Vaterlandes allein am
1. Februar, einen Tag bevor Angela Merkel in die Türkei reiste und
Recep Tayyip Erdoğan sowie Binali Yıldırım beehrte. Im
südöstlichen Distriktes Nusaybin, unweit Syriens, riegelte die
Konterguerilla die dörfliche Peripherie ab und verrichte über
einige Tage ihren Dienst am Staat: erzwungenes Verschwinden,
extra-legale Hinrichtungen, demonstratives Foltern als Drohung an
alle anderen. Wenige Tage vor dem Gegenbesuch von Binali Yıldırım
traf es 834 Oppositionelle assoziiert mit der kriminalisierten
Halkların Demokratik Partisi, die in Polizeihaft genommen worden
sind. Proteste in Istanbul, Ankara und
Kocaeli gegen die nationalistische Hexenjagd an den Universitäten
wurden von Grauen Wölfen und Polizei aggressiv angegangen, nachdem
weitere 330 Professoren und Doktoranden infolge einer Anordnung
entlassen worden sind. 115 von ihnen trugen mit ihrer Unterschrift
einen antimilitaristischen Aufruf für ein Ende der Aggression im
Südosten mit. Sie gelten seither als Abtrünnige des Vaterlandes.
Die
deutsch-türkische Kumpanei ist keine Feigheit Sie ist die
systematische und wissentliche Aushändigung aller, die sich weigern,
die türkische Katastrophenpolitik als das eigene Schicksal
anzunehmen, an den Schließer. Im Südosten übernahmen zwischen 1973
und 1977 die Parteien der antilaizistischen Konterbewegung Millî
Görüş noch ihre ersten Kommunen. Konträr zum antilaizistischen
Rollback anderswo in der Türkei ist der politische Islam hier heute
unpopulärer, ja: verhasster, als irgendwo anders. Bei aller Kritik
etwa an dem demokratischen Irrsinn, seine Parteigänger als Volk,
halk, anzusprechen – die kriminalisierte Halkların Demokratik
Partisi bricht in vielem mit den Mechanismen, in denen die falsche
Einheit reproduziert wird. Wider einer Staatsfront aus Leugnern
gedenkt sie der Ermordeten von 1915 und nennt die genozidale
Annihilation der anatolischen Armenier bei Namen: soykırım. Mit ihr
kam mit Februniye Akyol eine aramäische Christin im sunnitisch
konservativen Mardin in das höchste Amt (von dem sie vom durch
Ankara ernannten Gouverneur inzwischen enthoben wurde). Sie versteht
sich ausdrücklich auch als Partei der von tugendterroristischer
Verfolgung Betroffener wie Homo- und Transsexueller – auch gegen
die alten Herren in der Partei, die sich eine konservative
Volkspartei der Kurden wünschen – undsolidarisiert sich
mit den Toten und Überlebenden des Massakers in der Diskothek
„Pulse“ in Orlando, wo dieselbe „faschistische Mentalität“
zugeschlagen habe, die jede Nicht-Identität auszurotten drohe:
Nefrete inat yaşasın hayat, „Wider den Hass es lebe das Leben“.
Jin Jiyan
Azadî, „Frau – Leben – Freiheit“, Proteste in Istanbul, 26.
Februar (Photo: sendika15.org)
In
diesen Tagen verschwindet eine ganze politische Generation in der
Dunkelheit: Ayla Akat Ata etwa, die bei monatlich rund 25
Frauenmorden von einem systematischen Femizid in der Türkei spricht.
Ihr drohen als
Vorsitzende des „Kongresses freier Frauen“ bis zu 95 Jahren Haft.
Oder Şermin Soydan, Gültan Kışanak und viele andere, die verraten
und alleingelassen werden. Die pastorale Besorgtheit der deutschen
Politik mit ihrem unerschütterlichen Glauben an das geteilte
Interesse an Stabilität und Prosperität ist nur die
zivilisatorische Maske einer Kumpanei, die die Forderung nach dem
Schießbefehl in Augennähe als barbarisch denunziert, um ihn dann an
der türkisch-syrischen Grenze ausführen zu lassen. Wo für eine
Exportnation ein militarisiertes Grenzregime unschicklich wäre,
installiert sich dieses dort, wo eine Rücküberführung der
Erschossenen hinfällig geworden ist. An 290 Kilometern der
türkisch-syrischen Grenze verunmöglicht inzwischen in Beton
gegossene Kälte die Flucht. Längst bevor das Grübeln begann, hat
die europäische Dezimierungspolitik gegenüber Geflüchteten das
türkische Regime der faschistischen Agitatoren als
das verabsolutiert,
wonach der europäische Abschiebeapparat und die türkische
Propaganda zugleich verlangten: zu einem Souverän, dessen väterliche
Liebe keiner zu fürchten habe, außer diejenigen, die den Vater
nicht ehren. Die Anerkennungsquote Geflüchteter aus der Türkei ist
folglich mit 7,6 Prozent niedrig.
Dass
Stolzdeutsche und türkische Nationalchauvinisten über die
Inhaftierung Deniz Yücel`s daherreden als wären sie des anderen
Papagei – auf Twitter und anderswo wünschen sich beide, der
„Deutschenhasser“ vulgo die „Marionette der PKK“ Yücel solle
in Haft verrotten –, sollte nicht mehr irritieren. Erstere beneiden
die Türkei um ihren Repressionsapparat und einen Staatspräsidenten,
der sich höchstpersönlich der Forderung nach dem Galgen für die
Vaterlandsverräter angenommen hat. Beide sind sich darin eins, dass
sie Selbstliebe nur als Selbstmitleid entwickeln können. Als
autoritäre Charaktere sind sie gekränkt, wenn nicht allein ihnen
die Liebe des Übervaters gilt. Was sich die Pöbelrotte in der
sächsischen Provinz und anderswo wünscht, ist ein deutscher Reis,
ein großer Führer wie Recep Tayyip Erdoğan, der das Kollektiv der
Gekränkten und Beleidigten wie kein anderer verfleischlicht, der
seine eigene Biographie als von der türkischen Bourgeoisie
verächtlich gemachter Junge frommer Eltern aus İstanbul-Kasımpaşa
zum „Freund des Volkes“, nach dessen Leben die „armenische
Diaspora“, die jüdische „Zins-Lobby“ und andere halluzinierte
Intriganten trachten, zum Drehpunkt seiner Agitation macht. Er
überführt den Neid auf jene, die noch irgendwie an die
Möglichkeit von individuellem Glück fern der Scholle erinnern, in
Rache, das heißt: Repression und Tugenddiktate. Erniedrigung und
Verächtlichmachung der Menschen ist ihm allein Grund, die
Erniedrigung und Verächtlichmachung der Menschen zu perfektionieren,
jene also zu verfolgen, die Zweifel daran lassen, dass die
vorgetäuschte Großartigkeit mit der Realität sich deckt.
Der
Anschlag auf Aufklärung und Mündigkeit erfolgt nicht über die
Balkan Route. Er ist das Staatsprogramm jener von Europa beschworenen
Stabilitätsgaranten, vor allem der Türkei und des Irans, die jede
empirische Uneinigkeit als eine perfide Intrige anderswoher ausmachen
und als verfolgende Unschuld selbst jede Kritik gnadenlos verfolgen.
Am 16. April ruft Erdoğan zum Referendum über eine
Verfassungsänderung, die die Türkei in eine Präsidialdiktatur
überführen würde. Da er selbst zu ahnen scheint, dass er hin und
wieder sein Brüllvieh mit dem Volk verwechselt, wird unnachgiebig
jeder gejagt, der auf der Straße für ein„hayır“,
ein Nein, wirbt. „Der 16. April“, so Recep
Tayyip Erdoğan, „wird die Antwort auf den 15. Juli sein.“ Die
Konsequenz ist ersichtlich: „Diejenigen, die 'Nein' sagen, stellen
sich auf die Seite der Verschwörer des 15. Juli.“Einer von
Erdoğans Prosekutoren, Cevdet Kayafoğlu, droht indessen
ganz explizit, dass jedes „Nein“ eine „Unterstützung der PKK“
gleichkäme – mit den entsprechenden juristischen Konsequenzen:
„Nicht, dass ihr danach beleidigt seid“.
Abendlicher
Protest am 3. März in Kadıköy, Istanbul (Photo: sendika15.org)
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