Montag, 8. Juli 2019

Intrigen in Istanbul - eine verschwörerische Allianz aus HDPKK, LGBT und der Champagnerindustrie gegen die Beton-Mafia Erdoğans (Notizen zum 23. Juni)



Die türkische Demokratie lebt“, atmet Europa auf – ganz so, als hätte am 23. Juni auch die demokratische Legitimierung der europäischen Kollaboration mit der türkischen Katastrophenpolitik angestanden. Doch der 23. Juni ist nicht der Tag der Wiedergeburt der viel beschworenen türkischen Demokratie. Viel mehr – und einzig darin liegt die Hoffnung – ist der 23. Juni der Tag, an dem das jahrelang mächtigste Instrument der Muslimbrüder Erdoğans, den Staatsapparat zu erobern, an Wirkung verloren hat: der Schritt zur Urne als Mobilisierung des „nationalen Willens“, als Triumphkulisse des faschistischen Agitators.

Als Diktatur war das Regime der AK Parti – die „reine, unbefleckte“ Partei – von jeher unzureichend charakterisiert. Recep Tayyip Erdoğan begann in den 1970er Jahren seine Karriere bei den Akıncılar, der militanten Parteijugend der Millî Selamet Partisi („Nationale Heilspartei“). Die türkischen Muslimbrüder um ihren verstorbenen Vordenker Necmettin Erbakan dämonisierten die Modernisierung nicht als ganzes, viel mehr beschworen sie die Untergrabung des moralischen Fundaments von Staat und Ökonomie durch ein säkularistisches, das Vaterland verratendes und auf die Frommen und Gläubigen verächtlich herabblickendes Establishment. Ihre Propaganda galt einer Industrialisierung mit islamischem Antlitz, der Verteufelung des Zinses, einer forcierten Schwerindustrialisierung im kahlen Anatolien und der moralischen Erbauung der entfremdeten Muslime. Sie war durchtränkt von antisemitischen Projektionen und Verschwörungsgelüsten.*

Die bleierne Stille der Militärdiktatur, die im September 1980 anbrach, traf die Muslimbrüder im Vergleich zu ihren Konkurrenten noch am wenigsten. In den städtischen Zentren Anatoliens, vor allem in Konya und Kayseri, etablierten sich die islamischen Holdings, das ökonomische Rückgrat des späteren Erfolges der Muslimbrüder. Vor allem die deutschen Moscheen der Millî Görüş fungierten als Märkte, wo das Ersparte der Gläubigen den Holdings zugeführt wurde. Der Familiennachzug ab den frühen 1970ern reizte die Fürsorglichkeit der Muslimbrüder gegenüber den Emigrierten weiter an. Sie belehrten die autoritätsgläubigen Väter und Mütter aus Anatolien über die sündhaften Versuchungen, die ihre Kinder in der Diaspora zu entfremden drohten, und gründeten einen eigenen Helal-Industriezweig.

Nach einer Korruptionsaffäre bei den Istanbulern Wasserwerken, in die der Stadtvater Nurettin Sözen von der traditionslaizistischen Sosyaldemokrat Halkçı Parti involviert war, gelang es im Jahr 1994 der islamischen Refah Partisi mit dem zuvor noch wenig populären Erdoğan das urbane Moloch zu erobern. In der gewaltigen Binnenimmigration konservativ sunnitischer Türken und Kurden, die das dörfliche Elend nach Istanbul zwang, gründete das Mobilisierungspotenzial der Muslimbrüder.

Nicht nur mit dem berüchtigten Ausspruch „Minarette sind unsere Bajonette, Kuppeln unsere Helme, Moscheen unsere Kasernen, Gläubige unsere Soldaten“ ließ Erdoğan als Stadtvater Istanbuls kaum Zweifel an seine Verachtung für die laizistische Republik. Den Pogrommord von Sivas im Juli 1993 – ihre Parteimitglieder hetzten die Rotte auf – verzieh die Republik der Refah Partisi noch großzügig – waren die toten Aleviten doch staatsfeindlichen Umtrieben verdächtigt und die etatistische Einfühlung in die kochende sunnitisch-türkische Volksseele nahezu unbegrenzt. Die direkten Provokationen gegenüber Militär und Justiz dagegen forderten eine Reaktion geradezu heraus. Nach einer Verbotsserie der Refah Partisi und dann der Fazilet Partisi aufgrund „antilaizistischer Bestrebungen“ durch das türkische Verfassungsgericht gründeten Erdoğan und seine Weggefährten die AK Parti mit der Fassade einer Volkspartei, die ökonomische Prosperität und die Reformierung des verkrusteten Staatsapparates versprach. Einige türkische Liberale trauten der Fassade und sprachen ihrerseits der AK Parti ihre kritische Solidarität aus.

Istanbuls Beton-Mafia und ihr Patron

Angesichts einer sie weiterhin skeptisch beäugenden Armee und Justiz, den Garanten der alten Ordnung, blieb der Schritt an die Urne das mächtigste Instrument der Muslimbrüder Erdoğans, das Erreichte zu sichern und weitere Institutionen des Staates zu erobern. Die Muslimbrüder verfügten seit 1994 ungebrochen über das Kommando über die kommunalen Institutionen der Großstädte Istanbul und Ankara sowie der ökonomischen Zentren Anatoliens Kayseri und Konya – und somit auch über die städtischen Budgets. Durch arrangierte Ehen und familiärem Klüngel etablierte sich eine eigene islamische Bourgeoisie, die das angestammte laizistische Establishment zu verdrängen drohte. Erdoğan älteste Tochter Esra heiratete Berat Albayrak, dessen Vater Sadık Albayrak früher Abgeordneter für die Refah Partisi war. Berat führte zunächst die Çalık-Holding des aus dem östlichen Malatya stammenden Entrepreneurs Ahmet Çalık, die unter Erdoğans Schwiegersohn die Turkuvaz Medya Grubu – inklusive der Gazette Sabah, einer der aggressivsten Propagandaorgane – mit einem generösen Kredit staatseigener Finanzinstitute und einer Beteiligung des Emirats Katar übernahm. Serhat Albayrak, der ältere Bruder von Berat, übernahm hier später die Führung. Berat ist inzwischen türkischer Finanzminister. Die jüngste Erdoğan-Tochter Sümeyye heiratete Selçuk Bayraktar, dessen Familienholding Drohnen für das Militär – benannt nach „Märtyrern“ – produziert.

In diesem April traten Erdoğan und seine Ehegattin im Çiragan-Palast am Ufer des Bosporus als Trauzeugen der pompösen Ehelichung der Tochter des in Istanbul angestammten Industriellen Yildirim Demirören mit dem Sohn von Hasan Kalyoncu auf. Der in Trabzon geborene Hasan Kolyoncu wurde noch in den Tagen der Millî Selamet Partisi ein Muslimbruder und Weggefährte von Necmettin Erbakan. Bis zu seinem Tode im Jahr 2007 war Kalyoncu ein honoriges Mitglied der Beton-Mafia. Das familieneigene Kalyon Konglomerat, die etwa den neuen Istanbuler Flughafen konstruierte, übernahm inzwischen die Turkuvaz Medya Grubu von der Çalık Holding. Yıldırım Demirören dagegen ist ein klassischer Repräsentant des alteingesessenen laizistischen Establishments Istanbuls, der sein Schicksal der AK Parti anvertraut hat. Auch ihn drängte Erdoğan dazu, sich in den Propagandamarkt einzukaufen. Die durch drastische Steuernachforderungen geschwächte Doğan Holding war zunächst gezwungen, die bis dahin nationalliberale Gazette Milliyet und später die Hürriyet sowie die türkischen Anteile an CNN Türk an die Demirören Holding abzutreten. Erdoğan selbst verdächtigte Aydın Doğan, in eine verschwörerische „parallele Struktur“ involviert zu sein. Die Krawallgazette Yeni Akit überzog Doğan, der sich dem Regime erfolglos anbiederte, mit rassistischen und antisemitischen Gerüchten.

Ein weiterer Clan dieses mafiotischen Regimes sind die Gebrüder um Ahmet Albayrak, entfernte Verwandte von Erdoğans Schwiegersohn Berat. Ihr Konglomerat verwertet die Müllmassen Istanbuls, kontrolliert den Hafen von Trabzon, betoniert – und agitiert mit ihrer Hausgazette Yeni Şafak das Brüllvieh. Ahmet Albayrak war früher Bezirksvorsitzender der Refah Partisi in Fatih, während Erdoğan im gegenüberliegenden Beyoğlu die Partei führte. Es erstaunt kaum, dass es die Propagandaorgane dieser mit der AK Parti assoziierten Holdings waren, die nach dem Verlust Istanbuls am 31. März Ekrem İmamoğlu panisch als die personifizierte Intrige von „FETÖ“, US-Amerikanern und „dem Berg“ (als krude Metapher für die PKK) denunziert haben. Sie fürchten um ihre Pfründe.

Diese Etablierung einer der AK Parti nahen Bourgeoisie ging einher mit einem aggressiven Klassenhass gegen das angestammte säkularistische Establishment und seinen antisemitischen Zerrbildern. Während der Proteste um den Gezi Park, mit dessen Zubetonierung das Kalyon Konglomerat vertraut werden sollte, fantasierte Erdoğan von einer verschwörerischen „Zins Lobby“ (faiz lobisi) als Dunkelmänner der „Plünderer“, die nach „des Volkes Schweißes“ giere: In der Folge kursierten Boykottaufrufe gegen jene türkischen Finanzinstitute, die mit der laizistischen Bourgeoisie identifiziert wurden.

Istanbul ist der AK Parti und ihrem islamomafiotischen Regime nicht gänzlich verloren gegangen, sitzt sie doch weiterhin in mehr als der Hälfte der Bezirksrathäuser. Zudem werden durch Gesetzesänderungen die Zuständigkeiten von Ekrem İmamoğlu und seines Amtskollegen in Ankara, Mansur Yavaş, drastisch eingeschränkt. Um den Agitator Erdoğan ist es währenddessen im Moment relativ still. Er ist viel mehr bemüht, sich angesichts der Krise der neo-osmanischen Regionalpolitik in Libyen, Syrien und dem Sudan wieder an Donald Trump und den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping heranzuwanzen. Die Türkei, so Erdoğan, werde es niemanden zugestehen, einen Keil zwischen ihr und China zu schlagen. Auch die Uiguren in der Region Xinjiang würden, so wird der türkische Staatspräsident in chinesischen Propagandaagenturen zitiert, aufgrund der ökonomischen Prosperität Chinas glücklich leben. Und doch könnte die Ernüchterung bei der AK Parti alsbald in Panik umschlagen. Im Angesicht der ökonomischen Krise konnte die Partei die konservative Kleinbourgeoisie, die nicht von dem kommunalen Auftragsklüngel profitiert und unter der Verteuerung der Waren ächzt, nicht mehr so vereinnahmen wie noch zuvor. Ekrem İmamoğlu gewann überraschend auch in den jahrelangen Bastionen der AK Parti, wo ein Teil der konservativen Kleinbourgeoisie heimisch ist: Fatih, Eyüpsultan und Üsküdar. Das mächtigste Instrument der Muslimbrüder, den Staatsapparat zu infiltrieren und ihre Macht gegenüber rivalisierenden Fraktionen im Staat abzusichern, hat fatal an Wirkung verloren.

Und doch spottet es der Realität im Staat der Muslimbrüder, dass der nächste Schritt an die Urne das Regime schlagartig zur Kapitulation zwingen könnte. Am Folgetag des 23. Juni begann der Gerichtsprozess gegen 16 Angeklagte, die verdächtigt werden, die Proteste um den Gezi Park provoziert und finanziert zu haben. Neben der Architektin Mücella Yapıcı, dem exilierten Journalisten Can Dündar und dem ebenfalls geflüchteten Theatermime Mehmet Ali Alabora ist Osman Kavala – Mäzen der Stiftung Anadolu Kültür, die sich der Versöhnungsfolklore widmet wie etwa ein armenisch-türkisches Jugendorchester – einer der Angeklagten. Kavala sei der Finanzier der „Plünderer“ gewesen, so Erdoğan, doch hinter ihm selbst tarne sich „der berühmte ungarische Jude Soros“. „Dies ist der Mann“, dem Staatspräsident folgend, der andere beauftrage, „Nationen zu spalten“. Garo Paylan von der Halkların Demokratik Partisi spricht von Kavala präzise als eine Geisel des Regimes.

Einige Tage später begann ein weiterer Gerichtsprozess. Canan Kaftancıoğlu, die Provinzvorsitzende der Cumhuriyet Halk Partisi in Istanbul, ist angeklagt, in 35 Tweets den Staatspräsidenten und die Türkische Republik beleidigt und sich der „Propaganda für eine terroristische Organisation“ schuldig gemacht zu haben. Es drohen ihr bis zu 17 Jahren Haft. Mit manchen der Tweets hat sie selbst das eigene laizistische Milieu irritiert. Etwa mit ihrer Kritik an dem Slogan „Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals“ und ihrem Gedenken an das Katastrophenjahr 1915 – sie sprach explizit vom Genozid an den Armeniern („ermeni soykırımı“). Die Denunziationskampagne, die die Propagandaorgane der Holdings und der Staatspräsident Erdoğan höchstpersönlich gegen sie führen, verfolgt vor allem eines: die Rache und Bestrafung jener Politikerin, der nicht nur der höchste Anteil am Sieg von Ekrem İmamoğlu in Istanbul zugeschrieben wird. Canan Kaftancıoğlu ist das, was das Regime zutiefst fürchtet: feministisch, nicht zu korrumpieren mit nationalem Furor wie viele ihrer Parteigenossen und ohne Berührungsängste zur Halkların Demokratik Partisi. Yeni Akit denunzierte sie als „Schweinefleischsüchtige“ und „offene Feindin des Islam“. Nachdem sie sich mit Selahattin Demirtaş solidarisiert hatte und Fotografien von ihr mit dem inhaftierten kurdischen Oppositionspolitiker zu kursieren begannen, häuften sich die Drohungen: „Man wird dich dorthin bringen, wo Selo ist“.

Aufreibende Tage für Canan Kaftancıoğlu

Über eines sollte sich spätestens seit dem 31. März niemand mehr täuschen: eine Opposition, die mit dem Regime der Grünen und Grauen Wölfen nationalchauvinistisch in Konkurrenz treten möchte, wird gnadenlos scheitern. Anders als in den Jahren zuvor besann sich zuletzt die Republikanische Volkspartei darauf, sich dem korrupten Apparat, der ökonomischen Krise und ihren verheerenden Folgen zu widmen. Teile der Traditionslaizisten wie der Istanbuler Kommunalpolitiker Gürbüz Çapan, Sezgin Tanrıkulu oder eben Canan Kaftancıoğlu solidarisieren sich offen mit Demirtaş. Es wird für den Erfolg der Opposition entscheidend sein, dass sie gegenüber den Nationalchauvinisten innerhalb ihrer Partei nicht eine Minorität bleiben.

Der Erfolg in Istanbul war schlussendlich möglich geworden durch den Aufruf von Selahattin Demirtaş und seiner Partei an ihre eigenen Parteigänger, zum Erfolg von Ekrem İmamoğlu massenhaft beizutragen. Das durchsichtige Manöver der AK Parti, kurz vor dem 23. Juni einen Brief von Abdullah Öcalan zu veröffentlichen, in dem dieser zur Neutralität aufgerufen hätte, verriet, dass es allen bewusst war, dass die kurdische Diaspora in Istanbul über die ausschlaggebenden Prozente entscheiden würde. Erdoğan sowie Devlet Bahçeli, der Oberwolf der Milliyetçi Hareket Partisi, raunten noch über eine bösartige Verschwörung von Demirtaş und „dem Berg“ gegen Öcalan – während letzterer an anderen Tagen die Todesstrafe für Öcalan fordert. Doch diese absurde Szenerie endete einzig darin, dass die Majorität unter Istanbuls Kurden noch entschlossener für Imamoğlu auftrat.

Die Freunde der Halkların Demokratik Partisi trifft die Repressionsmaschinerie am gnadenlosesten. In ihrer Abwesenheit wurde vor wenigen Tagen Helin Öncü von einem Schwurgericht schuldig gesprochen, sich an der „Einheit und Integrität des Staates“ versündigt zu haben. Erschwerte lebenslange Haft für die junge Frau entschied das Gericht in Şirnak. Wenig später wurde Helin in der westtürkischen Grenzprovinz Edirne verhaftet. Ihre letzte Hoffnung war die riskante Flucht über den Grenzfluss Evros. Helin harrte während der militärischen Operationen in den abtrünnigen Distrikten im Südosten im Winter 2016 in Cizre aus – der Schlachtruf Grauer Wölfe war in jenen Tagen: „Wir wollen keine Militäroperation, wir wollen ein Massaker“. Am 31. März diesen Jahres zog Helin für die HDP in den Stadtrat von Kızıltepe ein.

Eine verschwörerische Allianz aus HDPKK, LGBT und der Champagnerindustrie

Genauso wie das Regime der AK Parti als Diktatur unzureichend charakterisiert ist, ist auch das Bild einer „Islamischen Republik“ für die Türkei fehlerhaft. Bislang nahm die AK Parti Abstand davon, das niedergeschriebene Gebot zum laizistischen Charakter der Republik in der türkischen Verfassung zu tilgen. Dieser symbolische Frontalangriff auf das Erbe Mustafa Kemals würde auch einen Teil der eigenen Parteigänger gegen sie aufbringen und die de facto Allianz mit unterschiedlichen nationalchauvinistischen Fraktionen, wie die mit der Vatan Partisi, aufsprengen. Die türkische Kulturindustrie geizt nach wie vor nicht mit nackter weiblicher Haut und es wird ihr gewährt, solange kein Zweifel an der patriotischen Gesinnung aufkommt. Erdoğan selbst begibt sich häufig in die Nähe der Botulinumtoxin geschwängerten Prominenz wie İbrahim Tatlıses, Ajda Pekkan und Sibel Can, die ihm Schlachtgesänge zur Eroberung von Afrin widmen. Auf theologischer Strenge gründet der Erfolg der Muslimbrüder Erdoğans nicht.

Erdoğans konservative Revolution verfolgt die stärkere Unterfütterung der türkischen Staatsideologie mit dem Islam und den Triumph einer „frommen Generation“ (dindar nesil) – einer im Glauben geeinten und patriotischen Nation, verfleischlicht im Führer – über die Kritiker seines Regimes. Um diesen Schritt für Schritt zu erzwingen, hat etwa die Moscheebehörde Diyanet, die Händchenhalten zwischen Verliebten als sündhaft denunziert, ein bei weitem höheres Budget als etwa das Ministerium für Forschung, Industrie und Technologie. Durch kommunale Budgets mitfinanzierte Stiftungen – wie die TÜRGEV, die „Türkische Stiftung für den Dienst an der Jugend und der Bildung“, die 1996 in Istanbul „unter der Führung seiner Exzellenz Recep Tayyip Erdoğans“ gegründet wurde und in deren Vorstand Sohn Bilal und Tochter Esra sitzen – kümmern sich um die vielen jungen Menschen, die die familiäre Befürsorgung enttreten, um anderswo zu studieren. Auf diesem Marktsegment sind auch die fundamentalislamischen Tarikats wie die Süleymancılar präsent.

Doch der Erfolg dieser (Re-)Islamisierungsstrategie ist bescheiden. Zum einen fürchtet das Regime die Frommsten unter den Frommen als Konkurrenten. Sind die Tarikat doch eine reale Parallelstruktur, die – ganz so wie bei den Gülenisten, mit denen die AK Parti jahrelang kollaborierte bis die Rivalität eskalierte – drohen, sich eines Tages gegen den Staat der Muslimbrüder zu wenden. Zum anderen provoziert der (Re-)Islamisierungsapparat bei vielen auch eine Entfremdung vom Islam herauf – ganz so wie wir es aus dem Iran kennen. Die Generaldirektion für Bildungswesen der konservativ-sunnitischen Provinz Konya etwa klagt, dass nicht wenige der in den islamischen İmam-Hatip-Gymnasien zur Frömmigkeit gezüchtigten Schüler nicht von der Heiligkeit des Islam überzeugt werden können. Selbst Homosexualität sei für viele Schüler, ächzen die Beamten, ein Triebschicksal und keine „Perversität“.

Nicht zu leugnen ist, dass die fromme Generation in Massen existiert. Sie frömmelt nicht nur, sie ist militant organisiert, ultramilitaristisch, permanent narzisstisch gekränkt angesichts der klaffenden Lücke zwischen der halluzinierten nationalen Glückseligkeit und der Realität, selbstverschuldet unmündig und darin noch umtriebiger im Hass auf jene, die mit dem Zwangskollektiv nicht identisch sind. Erdoğan, der seine eigene Biografie als von der laizistischen Bourgeoisie verächtlich gemachter Junge frommer Eltern zum „Freund des Volkes“, nach dessen Leben die „armenische Diaspora“, die „Zins Lobby“ und andere halluzinierte Intriganten trachten, zum Drehpunkt seiner Agitation macht, verfleischlicht wie kein anderer dieses Kollektiv der chronisch Gekränkten. In der inneren Türkei von Konya bis nach Erzurum ist dieses generationenübergreifende Rudel Grüner und Grauer Wölfe vorherrschend. In den anatolischen Kreisstädten, wo die Republik einzig als Kaserne ankam, existiert die historische Partei Mustafa Kemals vor allem dort, wo noch Aleviten leben. Ansonsten muss die AK Parti weitflächig allerhöchstens ihren Partner in crime, die MHP der Grauen Wölfe, sowie deren Abspaltung, die İyi Parti, fürchten.

Es sind Brüche, die die türkische Geografie charakterisieren und die in den Großstädten, wo sich die dörfliche Idiotie in manchem Mahalle noch verhärtet, noch drastischer zum Vorschein kommen. Und doch ist ein urbanes Moloch wie Istanbul auch ein Versprechen an das Leben. Während es in der Provinz den Wenigsten möglich ist, sich aus dem familiären Käfig zu befreien, ist Istanbul selbst noch für Homosexuelle aus dem Iran und Syrien ein nahes Exil. Es waren vor allem jene, die für Erdoğans Märtyrerkitsch von Leichentüchern und den penetranten moralischen Ermahnungen – etwa das Geburtendiktat – nichts als Verachtung übrig haben, die am Abend des 23. Juni auf den Straßen ausgelassen gefeiert haben. Ein häufiges Motiv des Abends war das fröhliche Anstoßen mit einem Gläschen Rakı oder einer Dose Tuborg. In Murat Özer, Vorsitzender des Graswurzeljihad-NGO İmkander, köchelt es vor sich hin: „Lasst sie mit Champagner feiern. Sie wollen Rache für Afrin. Wir sind Millionen, die an die gleichen Ideale glauben ...Wir (dagegen) haben ein Versprechen an die Märtyrer!“ Die Gazette Yeni Akit empört sich indes über knallende Champagnerkorken, die die monströse Hügelmoschee Çamlıca in Üskudar getroffen hätten. Die Prestigemoschee wurde übrigens vom Beton-Gangster Hasan Gürsoy aus dem Boden gestampft, einen Mitschüler Erdoğans in den Tagen als sie auf das İmam-Hatip-Gymnasium in Fatih gingen. Als Erdoğan Stadtvater Istanbuls wurde, trat Gürsoy von der Anavatan Partisi zur Refah Partisi seines Jugendfreundes über.

In den Großstädten, allen voran in Istanbul und Izmir, leben zu viele Menschen, für die es eine nicht zu ertragene Unverschämtheit ist, wenn Erdoğan und andere frömmelnde Agitatoren ihnen das Leben diktieren wollen. In den vergangenen Jahren waren die kraftvollsten Proteste in Istanbul jene, die die staatliche Institutionalisierung des familiären Zwangskollektivs entschlossen von sich wiesen. In etwa so wie die protestierenden Frauen am 8. März in Istanbul, deren Pfiffe und Slogans gegen die polizeiliche Repression auch dann nicht verstummten, als der Gebetsruf aus einer nahen Moschee erklang. Nach Erdoğan hätten die Frauen nicht nur den Gebetsruf verächtlich gemacht viel mehr noch die blutrote Fahne.

Am 30. Juni trafen sich im zentralen Taksim trotz Verbotes durch das Gouverneursamt tausende Istanbuler – unter ihnen Ahmet Şık von der Halkların Demokratik Partisi – zum Pride Marsch (Onur Yürüyüşü). Die Polizei trieb sie mit Reizgas durch die Straßen. Yeni Akit ließ sich jüngst über ein verschwörerisches Projekt von Ekrem İmamoğlu aus, Istanbul den „Verirrten zu übergeben“. Der Vorsitzende der Diyanet-Behörde, Ali Erbaş, sprach von „Ketzerei gegenüber der Schöpfung“ und die faschistische Jugendorganisation Alperen Ocakları beharrte darauf, dass Fatih Sultan Mehmet Istanbul nicht für die Morallosen erobert hätte. Viele der Kommunen, die von der Cumhuriyet Halk Partisi gehalten werden wie etwa das südtürkische Mersin oder Hopa im türkischen Nordosten, dagegen erklärten ihre Solidarität. Sie twitterten in Farben des Regenbogens: „Nicht der Hass, die Liebe wird gewinnen“. Woraufhin die Kommunen unter Kommando der AK Parti konterten: „Unsere Familie ist alles“. Die von der AK Parti geführte Kommune Ağrı ergänzte, sie verfluche „jede Perversion und jede Unmoral, die Allah verflucht“ habe.

Der 23. Juni macht Hoffnung und doch sollte sich niemand täuschen: die AK Parti hat die absolute Kontrolle über die Justiz; der Polizeiapparat und die paramilitärischen Verbände werden beherrscht von Grünen und Grauen Wölfen; Graswurzelislamisten wie İHH İnsani Yardım Vakfı, İmkander und İyilikder aus dem Dunstkreis der radikalsten Fraktionen der Muslimbrüder treten als fürsorgliches Staatssurrogat auf, fungieren als Logistiker des syrischen Jihads und finanzieren im Sudan und anderswo Moscheen der Indoktrination; die militärische Okkupation Afrins hat den säkularsten Teil Syriens in eine shariatische Hölle gestoßen. Fürs erste also ist die Opposition weiterhin gezwungen, sich zu verteidigen: Freiheit für Selahattin Demirtaş und alle anderen inhaftierten Oppositionellen, keinen einzigen Tag Knast für Canan Kaftancıoğlu.

* Erdoğan selbst inspirierte als junger Mann ein antikommunistisches Epos namens „Die rote Kralle“ (Kızıl Pençe) zum Abfassen eines Dramas: Mas-Kom-Yah: „Freimaurer-Kommunisten-Juden“. Hierin erzählt der Dramatiker Erdoğan von der Verfeindung eines türkischen Fabrikanten namens Ayhan Bey mit seinem Sohn, der das Vaterland als junger Mann verlässt und in der Fremde dem Islam abtrünranig wird. Überschattet wird der Konflikt zwischen Vater und Sohn vom Aufbegehren der unter dem Diktat von Ayhan Bey stehenden Malocher, die aufgewiegelt werden von einem sich als türkischer Muslim tarnenden jüdischen Kommunisten, der sie schlussendlich zum Mord an den frommen Bey aufhetzt. Das Theaterensemble des jungen Erdoğan, dem auch der heutige Istanbuler AKP-Funktionär Atilla Aydıner angehörte, reiste zur Ausführung dieser Variante der antisemitischen Dolchstoßlegende bis 1980, dem Jahr der anbrechenden Militärdiktatur, durch die Türkei.


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