„Sie
haben Wind gesät und einen Sturm geerntet“, verhöhnt die
türkische Gazette Yeni Akit die Toten von Manchester, deren einzige
Schuld es war, von ihren Mördern damit identifiziert zu werden, was
sie auszurotten drohen: die Liebe zum Leben. Der Schuldspruch, den
Yeni Akit und andere Einpeitscher Erdoğans über die Toten sprechen,
beschwört ein feindseliges Europa, das die Feinde der großen Türkei
nährt. Dieselbe Gazette von Hasspredigern im
Staatsauftrag schrieb beim
Massaker in der Diskothek „Pulse“ im US-amerikanischen Orlando
nicht ohne Freude vom Tod „perverser“ Homosexueller.
Dass es ganz
anders ist, dass nämlich das Europa der Kumpanei noch jede türkische
Provokation geduldig erträgt, erzählten die Tage nach dem
erzwungenen „Ja“ zum Ermächtigungsgesetz Erdoğans. „Hırsız
- Yandaş – YSK“ (Räuber - Gleichgeschalteter - YSK), dröhnte
es in derselben Intonation wie die Hymne für den Führer „Recep -
Tayyip – Erdoğan“ tagelang durch die Straßen von Beşiktaş und
anderswo in Istanbul und Ankara. Die YSK ist laut türkischer
Verfassung die höchste Institution der Wahlaufsicht, sie besteht aus
einigen jener opportunen Juristen, die bei den systematischen
Amtsenthebungen der vergangenen Jahre im Justizapparat übergeblieben
sind. Am Abend des 16. April entschied ihr Vorsitzender willkürlich,
mit bis zu 2,5 Millionen ungestempelten Wahlzettelumschlägen aus
einem „Nein“ für das Ermächtigungsgesetz noch ein knappes „Ja“
zu machen. Tagelang hielten die Proteste gegen die erzwungene
Perpetuierung der Präsidialdiktatur auf formaljuristischem Pfade an.
Verhaftungen von inkriminierten „Rädelsführern“ und die
konkrete Drohung des Repressionsapparates, die Proteste als Nachbeben
des 15. Juli verstehen zu wollen, zermürbten schließlich auch die
Mutigsten. Die Europäer, allen voran die Deutschen, saßen die
Vertrauenskrise in den Führer geduldig aus. Genauso wie sie die
Vorgänge nach dem niedergeschlagenen Militärcoup am 15. Juli des
vergangenen Jahres aussaßen, von dem man inzwischen weiß, dass er
unter der Kontrolle des Regimes ablief. Ende April schließlich
erklärte Federica Mogherini im Namen aller Anderen, die Europäische
Union respektiere das manipulierte „Evet“.
Die Proteste waren
noch nicht ganz verstummt, da attackierten in der Nacht vom 24. auf
den 25. April türkische F-16 die irakische Ruine Sinjar sowie das
syrische Derik. Sie zerstörten unter anderen die Radiostationen
„Dengê Rojava“ und „ÇIRA-FM“. Verstreut im Sinjar harren
bis heute viele Überlebende des Genozids an den Eziden als
Binnengeflüchtete aus. Die Nacht zum 25. April rief bei vielen von
ihnen die Erinnerung an den 3. August 2014 hervor, als die
Menschenjäger mit dem Siegel des Propheten über sie herfielen.
Einzig das entschlossene Auftreten des US-amerikanischen Militärs
zwang die Türkei ihre Aggression abzuschwächen, Europa dagegen
schwieg sich aus. Was man Erdoğan schwerlich absprechen kann, ist
ein Gefühl für historische Symbolik, denn der 24. April 1915
markiert den Beginn des Genozids an den anatolischen Armeniern. An
diesem Tag wurden in Istanbul hunderte armenische Intellektuelle
verhaftet, deportiert und schlussendlich ermordet.
In
Wirklichkeit waren die türkischen Todesgrüße Teil der Rache, die
Erdoğan an jenen nimmt, die sich der großen Türkei nicht als
neo-osmanische Vasallen hergeben, an jenen also, die Erdoğans
einziges Versprechen an Syrien, in der Damaszener Umayyaden-Moschee
als Vorbeter aufzutreten, als die narzisstische Drohung verstehen,
die sie unmissverständlich ist. Durch die Türkei fließt bis heute
die logistische und materielle Versorgung militanter Muslimbrüder
und ihrer ideologischen Derivate bis hin zur al-Qaida. Flankiert vom
türkischen Souverän hat eine Parallelstruktur
außerparlamentarischer Muslimbrüder, wie die berüchtigte İHH,
einen militärisch-“humanistischen“ Komplex begründet, inklusive
Benefizabenden, auf denen die Traditionslinie von Osama Bin Ladens
Mentor Abdullah Azzam über das spirituelle Haupt der Hamas Ahmed
Yasin bis hin zum kaukasischen Emir Dokka Umarov gezogen wird.
Die
syrischen Taliban der Ahrar al-Sham haben noch vor Jürgen
Todenhöfer, Vladimir Putin und Donald Trump der Türkei Erdoğans
zum „Ja“ zur Präsidialdiktatur gratuliert. Ahrar al-Sham preist
die Schlächter der afghanischen Taliban dafür, dass sie gelehrt
haben, „wie das Emirat in die Herzen des Volkes gepflanzt wird,
bevor es Wirklichkeit auf dem Boden wird“. Auch wenn Erdoğan noch
nicht das Emirat in die Herzen der Türken gepflanzt hat, so hat er
doch den Hass auf jene genährt, die die Kurden vom Islam zu
entfremden drohen. Der Erdoğan hörige türkische Boulevard titelt
von „Zoroastriern“ und „Feueranbetern“, wenn er die
Staatsfeinde meint. Die notorische Yeni Akit beschuldigt die
oppositionelle Halkların Demokratik Partisi (HDP), die Avesta, die
heilige Schriftsammlung der Zoroastrier, gegen den Islam in Anschlag
zu bringen. Nichts anderes als den organisierten Abfall vom
Islam, so Yeni
Akit mit ihren "Enthüllungen", verfolge auch die Guerilla.
Auf die
militärische Unterwerfung des abtrünnigen Südostens folgte das
aggressive Niederdrücken der kriminalisierten HDP: systematische
Inhaftierungen kommunaler Amtsträger, die Zerschlagung der
Gemeinderäte sowie Zwangsverwaltung ihrer Kommunen und schließlich
die Inhaftnahmen der Parteivorsitzenden sowie mehrerer Abgeordneter.
Dieser gelungene Militärcoup im Südosten ermöglichte es dem
Regime, das Referendum über die Verfassungsänderung, die ganz
konkret die formal-juristische Ermächtigung Erdoğans zur
Präsidialdiktatur ist, systematisch zu manipulieren. Vor allem im
Südosten kursierten die bis zu 2,5 Millionen ungestempelte
Wahlzettelumschläge, die entgegen der eigenen Verfassung als gültig
entschieden worden sind.
Das, was die
faschistische Staatsfront aus Grünen und Grauen Wölfen an der HDP
verfolgt, sind nicht allein verloren gegangene Prozente. Bei aller
Kritik etwa an dem demokratischen Irrsinn, seine Parteigänger als
Volk, halk, anzusprechen, bricht die kriminalisierte Partei in Vielem
mit den nationalen Mechanismen, in denen die falsche Einheit
reproduziert wird. Wider eine Staatsfront aus Leugnern gedenkt sie
der Ermordeten von 1915 und nennt die genozidale Annihilation der
anatolischen Armenier bei Namen: soykırım. Sie versteht sich
ausdrücklich auch als Partei der von tugendterroristischer
Verfolgung Betroffenen wie Homo- und Transsexueller – auch gegen
die alten Herren in der Partei, die sich eine konservative
Volkspartei der Kurden wünschen – und solidarisiert sich mit den
Toten und Überlebenden des Massakers in der Diskothek „Pulse“ in
Orlando, wo dieselbe „faschistische Mentalität“ zugeschlagen
habe, die jede Nicht-Identität auszurotten drohe.
Genau das ist
es auch, was der Staat der Muslimbrüder an einem föderalen
Nordsyrien so fürchtet. Konträr zum antilaizistischen Rollback
anderswo, ist die nationale Disziplinierung mit islamofaschistischem
Antlitz hier heute gefürchteter, ja: verhasster als irgendwo anders.
Ein Gemeinwesen, was mit der Gewalt der Zwangshomogenisierung zu
brechen verspricht, kann in Ankara nur als Drohung an ihr wahres
Unwesen verstanden werden. In Nordsyrien hat man sich, zunächst
klandestin organisiert und mit düsteren Aussichten, in Absehung der
Konfession gegen die genozidale Bedrohung gestemmt. Der
„Islamische Staat“ ist keine Verschwörung, es ist die
Kontinuation genozidaler Homogenisierung: von der organisierten
Ausrottung der „Ungläubigen“ in Anatolien im Jahr 1915, dem
Gründungsverbrechen türkischer Staatlichkeit, bis zur
„al-Anfal“-Militärkampagne Saddam Husseins. Dass die heutige
Geografie des Todes der Geografie der Vergangenheit gleicht, mag mehr
als eine bösartige Ironie der Historie zu sein. Nach Mosul, Aleppo
sowie entlang des Khabur Ufers führten die Todesmärsche der
anatolischen Armenier. Die vergessenen Verfolgten des
Genozids von 1915, die Eziden, flüchteten zu Hunderten zu ihren
Glaubensgeschwistern ins bergige Sinjar. Ihre ehemaligen Dörfer im
türkischen Südosten sind heute verwaist oder islamisiert. Im Jahr
2014 dann flüchteten die Eziden zu Hunderttausenden aus dem Sinjar
sowie die letzten verbliebenen Christen aus Mosul vor der genozidalen
Bestie, die auch das Khabur Ufer, wo hundert Jahre zuvor für nur zu
viele die Todesmärsche endeten, nach Beute abstreifte.
Die
bürokratisch verfolgte Ausplünderung der anatolischen Christen
einschließlich der Konfiszierung des „verwaisten“ Besitzes der
Ermordeten initialisierte die ursprüngliche Akkumulation eines
türkifizierten Kapitals. Die Genozideure trieben in der
vorgetäuschten „Umsiedlung“ und schließlich im Mord zur
Perfektion, was sie den Armeniern projektiv anlasteten: Hinterlist
und Gier. Die Raubökonomie des „Islamischen Staates“ verfolgt
keine initiale Akkumulation mehr, sie gilt einzig noch der
finanziellen Absicherung ihrer selbstmörderischen Endschlacht gegen
die Ungläubigen, etwa durch die Versklavung junger Frauen. Das
Morden, die Demütigung der Ungläubigen, ist den Genozideuren zum
reinen Selbstzweck geworden. Es ist einzig noch eine Akkumulation des
Todes, deren genozidalen Züge auch einen Vorsprung in der Konkurrenz
mit al-Qaida um die Anwerbung von Kombattanten verheißen.
„Wir
können nicht zulassen, dass Sinjar zu einem neuen Qandil wird“,
droht Erdoğan nunmehr seit Längerem. Dass die einzige militante
Versicherung, die den auch von sunnitischen Kurden verfolgten Eziden
bleibt, sich weigert, das Sinjar-Gebirge zu verlassen, ist der Türkei
eine einzige Provokation. Nahezu fatalistisch dagegen ertrug die
Türkei jahrelang die apokalyptische Existenz des „Islamischen
Staates“ entlang ihrer Grenze zu Syrien, deren Emire noch in der
anatolischen Provinz Schläfer positionierten. Selbst das suizidale
Massaker in Ankara, der Kapitale der Republik, brachte den türkischen
Souverän nicht dazu, die Nadelöhre der Schläfer zu verplomben,
ihre Logistik konsequent auszuheben und die Mörder auch über
Grenzen zu verfolgen – ein strategisches Kalkül und damit ein
Kalkül des Todes. Es ist viel mehr das drohende Ende des
„Islamischen Staates“ selbst, das an Erdoğans Nerven zerrt.
Während die Türkei den Genozid an den Eziden seelenruhig zuließ
und ihre Grenze als logistische Korridor für die islamistischen
Menschenjäger offenhielt, brachen aus dem irakischen Qandil-Gebirge
Guerillas der Hêzên Parastina Gel (HPG) und aus dem nahen
Nordostsyrien militante Kurden der Yekîneyên Parastina Gel (YPG)
nach Sinjar auf. Viele der dem Genozid entkommenen Eziden, unter
ihnen unzählige junge Frauen, werden von ihnen in militanter
Selbstverteidigung trainiert. Christliche Assyrer halfen dabei, den
Fluchtkorridor von Sinjar ins syrische Cizirê zu sichern. In den
Syrian Democratic Forces (SDF) haben sich Christen und Kurden mit
Arabern und Turkmenen zur militärischen Zerschlagung des
„Islamischen Staates“ vereint.
Einen
knappen Monat nach dem Massaker an den französischen Satirikern von
Charlie Hebdo reiste eine
Delegation aus Syrisch-Kurdistan - unter ihnen die Kommandeurin der
Yekîneyên Parastina Jin (YPJ – die Frauenarmee innerhalb der YPG)
in Kobanê, Nesrin Abdullah, sowie die Co-Vorsitzende der Partiya
Yekitîya Demokrat (PYD), Asya Abdullah – nach Paris. Eingehakt mit
den Überlebenden von Charlie Hebdo traten sie auf die Straße, wo am
7. Januar 2015 die Freunde des Kalifats gnadenlos zugeschlagen hatten
und schworen, die Toten des Massakers zu rächen. Die Delegation
gedachte auch vor dem jüdischen Kaschrus-Markt Hyper Cacher den
Ermordeten. Mit begrenztem Erfolg hatten die Angereisten zuvor selbst
konkrete Solidarität eingefordert und daran erinnert, dass sie die
universalen Werte der in sich gespaltenen Gattung Mensch und nicht
allein sich, das heißt „ihr Volk“, gegen die Genozideure
verteidigen. Als am 16. Juni 2015 die YPG und ihre arabischen und
turkmenischen Alliierten das Grenzstädtchen Tel Abyad vom
„Islamischen Staat“ befreiten, kursierten als erstes die Bilder
von Frauen, die ihren Gesichtsschleier verbrannten, einige rissen
sich auch jeglichen Schleier vom Haupt. Die Türkei drohte indessen
mit Artillerie. In Manbij wiederholten sich die Bilder – und die
türkischen Drohungen. Solidarität mit den gegen das Kalifat
Kämpfenden heißt nicht, aus dem Gröbsten eine Heilsideologie zu
machen und dabei im blinden Enthusiasmus zu ignorieren, dass auch
dieser Organisation die Tendenz, dass ein Abstraktes – das
Nationale – zum Selbstzweck werden kann, nicht völlig fremd ist.
Wer sich jedoch darauf beschränkt, diejenigen der Kritik zu
überführen, die aus der militant organisierten Selbstverteidigung
ein quasi-religiöses Heilsversprechen machen, verhält sich nur
spiegelbildlich zur internationalistischen Tristesse –
kosmopolitische Solidarität sieht anders aus. Sie wäre die
Verteidigung einer Hoffnung, die etwa darin ganz konkret
revolutionären Ausdruck findet, wie Befreiung gefeiert wird.
Der
Kampf gegen das Kalifat wird ausdrücklich als einer gegen den
islamistischen Feminizid geführt. „Frau – Leben – Freiheit“,
ist der außerprotokollarische Eid, den die weiblichen Rekrutinnen
der YPJ sich schwören. „Wir als kurdische Kämpferinnen der YPJ
bestehen darauf, Rakka zu befreien“, so Cihan
Ehmed, die Armeesprecherin für die Militäroperation „Zorn des
Euphrats“. Wer ihre militärische Organisation als ein Instrument
von anderen oder als einen Dolchstoß wider die syrische Opposition
denunziert, wie es unter Freunden der „syrischen Revolution“
gängig ist, verhöhnt diese jungen Frauen, die wissen, was ihnen vor
allen anderen unter dem Kalifat droht. In Wirklichkeit bringen sie
gegenüber der syrischen Katastrophe als einzige noch das Gröbste an
Humanität und Freiheitsdurst in Anschlag. Die militärische Logik
der Brigaden und Bataillone militanter Sunniten entspricht nicht
anders als die des Regimes von Bashar al-Assad, des
klerikalfaschistischen Irans sowie seiner Hezbollah den fatalen
Mechanismen einer Ökonomie der Warlordisierung und
Konfessionalisierung. Das Rekrutierungsbecken der sunnitischen
Militanten ist die ländliche Peripherie der Großstädte. Ihre
ökonomische Nichtigkeit unter einem Regime konfessioneller Cliquen
und die brutale Repression traf hier auf landläufige Frömmigkeit,
die Agitation durch Moscheen und salafistische Wanderprediger und
schließlich auf die Generosität türkischer Muslimbrüder und
saudischer Missionare.
Man
kann kein Freund eines Führerkultes sein, wie er allen
Organisationen in Berufung auf Abdullah Öcalan eigen ist, und es
fiele noch einiges anderes ein, was der Revolution in Rojava nicht zu
Ehren reicht. Was ihr aber zu Ehren reicht, ist ausreichend, sie in
aller Entschiedenheit zu verteidigen: ihre entschlossene Front gegen
die militante Konterrevolution, als Frauen gegen den Femizid, als
„Abtrünnige“ und „Feuerbändiger“ gegen die genozidale
Homogenisierung unter dem Siegel des Propheten. Dass sie wider das
Kalifat eine Idee von Sozietät propagiert, die Religion aus der
Politik verbannt, die Selbstbefreiung der Frauen als wechselseitige
Bedingung der Befreiung von der syrischen Diktatur behauptet, ist ihr
Verdienst, das den Hass der Freunde des Todes auf sich zieht. Die
Freunde eines föderalen Syriens sind nicht zufällig in die
militärische Konfrontation mit dem „Islamischen Staat“
hineingerutscht, sie sind ihr natürlicher Erzfeind. Anderswo drohen
weitere Konfrontationen. Die irakischen Hashd
al-Sha’bi verweigerten jüngst
ezidischen Militanten den Zutritt in das zuvor noch in Kooperation
befreite Siba Sheikh Khidir, südlich von Sinjar, mit einer
Begründung, die nicht überraschen sollte: dass auch Frauen unter
den Militanten sind, verstieße gegen Gottes Gesetz. Die Hashd
al-Sha’bi sind eine Allianz vor allem schiitischer Milizionäre,
offiziell unter der Kontrolle von Baghdad sind sie der verlängerte
Arm der iranischen Qods-Pasdaran. Die mächtigsten Milizen unter
ihnen – Badr Corps, Asa'ib Ahl al-Haq, Kata'ib al-Imam Ali –
kämpfen auch in Syrien.
Iran
und Hezbollah, Bashar al-Assad und Vladimir Putin kalkulieren wie die
Türkei darauf, dass die Befreiung von Rakka durch die Syrian
Democratic Forces und US-Amerikaner scheitern wird.
Der Iran propagiert in diesen Tagen den Marsch auf al-Tanf, wo die
oppositionelle „Freie Syrische Armee“ kürzlich den „Islamischen
Staat“ verdrängt hat. Ihr Kampf gegen den „Großen Satan“, die
US-Amerikaner, an der südlichsten syrisch-irakischen Grenze soll dem
Regime Bashar al-Assads und der Hezbollah den militärischen
Nachschub, Menschen und Material, aus dem Irak und Iran sichern. Im
Irak dagegen genießen die iranhörigen Shiah-Milizen eine
US-amerikanische Flanke über Mosul.
„Sie
haben Wind gesät und einen Sturm geerntet“, heißt es bei Yeni
Akit und ganz ähnlich bei Michael Lüders. Aus der expliziten
Drohung von Seiten der Hassprediger Erdoğans spricht die Verachtung
für jene, die das Leben mehr lieben als den Tod und auf die das
Trällern einer jungen emanzipierten Frau mehr Wirkung hat als das
agitatorische Gekeife des Reis. Bei dem deutschesten unter den
deutschen Orientexperten, Michael Lüders. ist es der moralische
Ellenbogen gegenüber den US-Amerikanern und die Einfühlung in die
orientalische Despotie, ganz im Interesse des deutschen Exports. In
Wirklichkeit haben beide, Europäer und US-Amerikaner, die Saat des
Hasses, den der politische Islam zum Lehrauftrag macht,
hingebungsvoll gegossen. Während die Militärdiktaturen in Ägypten
und Syrien die Muslimbrüder an manchen Tagen brutalst verfolgten,
weil diese erstere als unislamisch denunzierten und revolutionär zu
zerschlagen drohten, würdigte man in Europa die Exilanten für ihre
antikommunistische Überzeugung und calvinistische Strenge im Gebet
wie im Geschäft. Es war zunächst vor allem die antikommunistische
Funktion, die der politische Islam so präzise einzunehmen vermochte
wie nur wenige andere Ideologien.
Von der
Moschee im idyllischen München-Fröttmaning aus spannten die
ägyptischen und syrischen Muslimbrüder ihre Intrige gegen die
Freiheit über halb Europa. Im Centre islamique de Genève und
anderswo lehren sie bis heute die präventive Konterrevolution, die
als erstes und am unnachgiebigsten die Mündigwerdung der Muslime
abzuwenden droht. In Genève traf auch ein gewisser Albert Friedrich
Armand Huber auf die Muslimbrüder, er konvertierte schließlich 1962
zum Islam und rief sich nunmehr Ahmed Abdallah al-Swissri. Ahmed
Huber, der in Ägypten auch auf den berüchtigten NS-Kollaborateur
Mohammed Amin al-Husseini sowie den zum Islam konvertierten
NS-Propagandisten Johann von Leers traf, steht für die Kontinuität
der beiderseitigen Faszination von faschistischen Ideologien
europäischem Ursprungs und politischem Islam sowie panarabistischer
Erweckung. Was sie eint, ist der Hass auf die Juden und alles, was
diese zu personifizieren haben: kommunistischen Klassenhass, die
Verweichlichung des Mannes, die bedrohliche Moderne, das abstrakte
Moment des Kapitals.
Doch
Komplizen haben die Agitatoren Allahs bis heute nicht nur unter
europäischen Faschisten. In Bruxelles-Molenbeek und anderswo händigt
ein tödlicher saudisch-belgischer Pakt die maghrebinische Diaspora
an die Imame des Henkerreiches aus. In Großbritannien ist
es unrühmlicheTradition
einer schlanken Sozialpolitik, Immigranten – wenn sie sich nicht
selbst daraus freikaufen können – mit ihrem rassistisch gesetzten
„Ursprungsmilieu“ aus Imam und familiärer Idiotie allein zu
lassen. Im Jahr 1981 etwa initiierte die Stadt Bradford einen Council
of Mosques, der nunmehr als informeller Unter-Souverän in der
islamisierten Community auftrat. Am 14. Januar 1989 verbrannten seine
Moscheegänger auf Bradfords Straßen symbolisch die „Satanischen
Verse“ von Salman Rushdie. Der Ratsvorsitzende der Moscheen von
Bradford forderte den Tod des abtrünnigen Literaten. „Ich würde
mein Leben und das meiner Kinder opfern, um die Wünsche des
Ayatollahs (Khomeini) wahr zu machen“, so der
vom Staat zur kommunalen Autorität erhobene Hassprediger. Säkulare
Immigrantenvereinigung, wie das Asian Youth Movement, wurden in jenen
Jahren von beiden Seiten zermürbt. Die Mordkampagne gegen Salman
Rushdie fungierte dem schiitischen Iran der Ayatollahs als
ideologische Einfallsschleuse in die vor allem sunnitischen
Immigrantenmilieus Großbritanniens. Und nicht zu vergessen, dass die
autochthone britische Sozialdemokratie seit Jahren von ähnlichen
Antisemiten beherrscht wird wie die Islamische Republik Iran.
Mit
Anbeginn des Imports von Menschenmaterial aus Anatolien, das
hemmungsloser als das autochthone aufgerieben wurde, weil als
garantiert galt, dieses alsbald wieder abzuschieben zu können,
fungierte nördlich wie südlich der Alpen allen voran der
türkisierte Islam als Wächter über die Segregation. Womit die vor
allem anatolischen Immigranten tagtäglich konfrontiert waren, war
natürlich ihre rassistische Verächtlichmachung. In ihrer Wirkung
war diese aber nicht „antimuslimisch“. Vielmehr gewährte in der
Fabrik die deutsche Direktion das rituelle auf die Knie fallen,
solange dieses davon abhielt, sich gegen die Despotie der Fabrik zu
erheben. 1978, im Jahr antialevistischer Pogrome in Kahramanmaraş
und anderswo in der anatolischen Provinz, war es dem Rudelführer der
Grauen Wölfe Alparslan Türkeş überlassen, auf einer stationären
Großdemonstration in der Westfalenhalle den Tod der kommunistischen
Feinde der Türkei anzudrohen. Zuvor verhalfen ihm
christsoziale Antikommunisten, allen voran der spätere bayrische
Ministerpräsident Strauß, in der hessischen Provinz zur Gründung
der Türk Federasyon, der zentralen Aktionsplattform der Grauen
Wölfe.
Während
der Pogrome an Aleviten – identifiziert mit sexueller Freizügigkeit
und kommunistischer Subversion – kam es zu spontanen Verbrüderungen
der rivalisierenden Banden aus Grauen Wölfen und Parteigängern der
Milli Görüş, der Ursprungsbewegung der türkischen Muslimbrüder,
der auch der junge Recep Tayyip Erdoğan entkroch. Auch in der
türkischen Diaspora bestand ihre Einigkeit einzig im Tod jener, die
die nationale Nicht-Identität verkörperten. Aus ihren Moscheen
kamen die Mörder von Celalettin Kesim, eines Berliner Kommunisten,
den eine Rotte aus Grünen und Grauen Wölfen an einem Januartag im
Jahr 1980 ermordet hat. Und aus ihren Moscheen kommen bis heute die
Dialogpartner der deutschen Politik. Die Mörder von Celalettin Kesim
wurden mit kulturrelativistischer Einfühlung bedacht,
der Ermordete mit Ignoranz und rassistischer Verächtlichmachung.
Unter der
Totalität des Kapitals, in der die autistische Selbstverwertung des
Wertes sich selbst widersinniger Zweck ist, bleibt kaum eine
menschliche Regung von ihr unerfasst und droht jede Freiheit, die
nicht ihresgleichen ist, unter dem stummen Zwang erdrückt zu werden.
Der politische Islam steht noch in seiner aggressivsten Variante
nicht außerhalb dieser Totalität. Doch ist es nicht der Seufzer der
verächtlich gemachten Kreatur, den er religiös chiffriert. Viel
mehr überführt er die Totalität des Kapitals in die Sphäre des
religiös Absoluten und fordert das Opfer für einen höheren
„göttlichen“ Zweck.
Die Angst und
Paranoia gründen aus der tagtäglich ins Bewusstsein vorstoßenden
Gewissheit darüber, als Exemplar der kapitalisierten Gattung
zugleich für diese absolut fungibel zu sein. Die Selbsterhöhung des
Frömmlers, der im Gebet und mit allerhand sich selbst auferlegten
Zwängen der Selbstoptimierung zu Gefallen der herrschenden
moralischen Instanz hinterherhetzt, mag für einen Moment über diese
narzisstische Kränkung täuschen. Längerfristig ist es aber nicht
die Innerlichkeit, die die Kränkung heilt. Die Selbsterhöhung des
Gläubigen ist die der Rotte, die Einheit vor allem negativ
realisiert: im Neid auf jene, die die aufgezwungenen wie selbst
gewählten Entbehrungen nicht teilen; im Hass auf jene, die noch
irgendwie an die Möglichkeit von individuellem Glück erinnern; in
der vernichtenden Rache an jenen, denen die Liebe zum Leben noch
nicht genommen ist. Es ist nicht der Seufzer der gequälten Kreatur,
es ist ihr Todesschrei, der zuallererst dem Tod aller anderen gilt,
wobei der eigene Tod als Märtyrer mit einkalkuliert wird.
Den
ideologischen Apparat, der die religiöse Selbsterhöhung zum
eliminatorischen Hass eskaliert, haben muslimische Immigranten nicht
im Handgepäck nach Europa eingeschleppt. Die ideologische Zurichtung
erfolgt auch nicht nach dem Do it yourself-Prinzip, wie etwa das
Anrühren von Chemikalien. Sie hat einen logisch-historischen
Ursprung, der eben nicht in eins fällt mit dem Ausritt Mohammeds und
seines Gefolges in die Wüste. Das brutale Scheitern nachholender
Modernisierung von Ägypten bis nach Afghanistan, zu dessen
Vorwegnahme sich die Muslimbrüder bereits im Jahr 1928 gründeten,
provozierte jene narzisstische Kränkung, die bei der Kollision der
ruinösen Wirklichkeit mit dem eigenen Selbstbild permanent angereizt
wird. Bei allen Regimes der Region, von der Islamischen Republik Iran
über das pseudo-säkulare Syrien „arabischer Erweckung“ bis zum
informellen Suppenküchenstaat der Muslimbrüder in Ägypten unter
Sadat und Mubarak, installierte sich ein Erziehungsapparat, der den
Reflex der ihnen Unterworfenen reizt, jede empirische Uneinigkeit als
eine perfide Intrige von anderswoher zu exorzieren. Allem voran wird
die Existenz Israels schamlos funktionalisiert, das falsche Alibi
dafür zu sein, die Modernisierung von Ökonomie und Staat nicht zu
bewältigen. Wahrlich hatten die Freunde einer wirklichen
Modernisierung, die viel mehr die religiösen Ketten zu sprengen
hatten, auch unter US-Amerikanern und Europäern wie Charles Wilson
und Jürgen Todenhöfer weniger Freunde als bärtige Antikommunisten.
Und auch die Massenhysterie um den Ayatollah Khomeini faszinierte
deutsche und französische Antiimperialisten mehr als die von nahezu
allen allein gelassenen Frauen, die am 8. März 1979 noch gegen die
Zwangsverschleierung anschrien.
Die
Erziehungsdiktatur zur Unmündigkeit blieb nie auf die Unterworfenen,
die im eigenen Staat verblieben, beschränkt. Die schleppende
Modernisierung der Ökonomie in der Türkischen Republik etwa, deren
Staatsgründungsmythos ein antiimperialistischer und zugleich
antiarmenischer und antigriechischer ist, stand ab den 1960er Jahren
in Abhängigkeit von der türkischen Diaspora. Mit dem Aderlass der
Migration aus dem vor allem ländlichen Anatolien nach Europa
sicherte sich die Türkei Deviseneinnahmen in Milliardenhöhe von
Deutsch-Mark. Diese ökonomische Abhängigkeit der
krisengeschüttelten Türkei von jenen zuvor Überschüssigen
erforderte einen ideologischen Apparat, der über die Loyalität der
Ausgereisten zum Vaterland eifersüchtig wachte. Vorherrschend waren
in diesem staatstragenden Apparat jene Grünen und Grauen Wölfe, die
in Türkei selbst an anderen Tagen noch von den Traditionslaizisten
in Bürokratie und Militär unsanft ausgebremst worden waren. Von
jenen Funktionären des „Volksislams“ türkischer oder
pakistanischer Provenienz wird jene Saat der Unmündigkeit und der
Opfermythen gepflanzt, aus dem auch der eliminatorische Hass der
Mörder von Manchester keimt.
Von einem
Europa der Kollaboration wird nichts anderes zu erwarten sein, als
dass es sich in die Ideologien und Apparate derer einfühlt, die
herrschen. Nachdem am 31. Mai durch ein suicide bombing mit über 150
Toten im afghanischen Kabul auch die deutsche Repräsentanz schwer
beschädigt worden ist, erklärte eine Charakterfratze in
Ministerwürden, dass die deutschen Beamten in Kabul vollends damit
ausgelastet wären, den Schaden an der deutschen Repräsentanz in
einen Bericht aufzunehmen, und so die Abschiebung eines jungen
afghanischen Schülers aus dem fränkischen Nürnberg in die
suizidale Hölle verschoben werden müsste. Wenige Stunden zuvor war
der junge Mann von Polizisten über den Rasen geschleift worden,
nachdem Mitschüler und er selbst sich der Zwangsausreise nicht
demütigt gebeugt hatten. Einige Tage danach erklärte eine andere
pausbackige Charaktermaske in deutschen Ministerwürden, man müsse
auch Friedensgespräche mit den Taliban führen. Das alles ganz im
Sinne deutscher Diplomatie: Denn das Recht auf Abschiebung lässt man
sich auch von Terroristen nicht nehmen. Oder anders ausgedrückt: Man
beharrt auf Abschiebungen nach Afghanistan ganz so als wäre es noch
die einzige Standhaftigkeit, die die Deutschen dem politischen Islam
entgegenzubringen vermögen.
Wenn
überhaupt über ihre Lippen Worte der Pietät kommen, gelten sie
deutschen Diplomaten, nicht aber jenen Afghanen, die tagtäglich um
ihr Leben fürchten müssen in einem Kabul, in dem einst der
revolutionäre Auftrag darin bestand, die Frauen vom
feudal-religiösen Joch zu befreien. Hinterbliebene der Toten vom 31.
Mai, sowie andere Afghanen drückten wenige Stunden später nach dem
suicide bombing – vermutlich angerichtet durch die mit den Taliban
alliierte Haqqani Guerilla – ihre Verachtung für die Taliban und
andere islamistische Gangs auf der Straße aus. Als Ende April
Gulbuddin Hekmatyar, einer der blutrünstigen Warlords Afghanistans,
nach einer Amnestie nach Kabul heimgekehrt ist,beschmierten junge
Afghanen mit dem Namen „Feiheitsliebende Jugend“ die riesigen
Banner, die in Kabul einen Versöhnungsauftritt Hekmatyars
ankündigten, mit blutroter Farbe. Hekmatyars islamistische Bikergang
war dafür berüchtigt, dass sie Ende der 1970er Jahre junge
unverschleierte Studentinnen mit Säure verätzte. Später trug
Hekmatyar den Beinamen der „Schlächter von Kabul“. Das
christsoziale Parteiblatt „Bayernkurier“ dagegen präsentierte im
Jahr 1981 ihn und seine „Partei des Islams“ als
„Freiheitskämpfer“, die „in den Bergen des Hindukusch auch
unsere, der Völker Europas Freiheit verteidigen“. Jürgen
Todenhöfer traf Hekmatyar persönlich wie auch Abdul Rasul Sayyaf,
der später eine philippinische Organisation des Todes zu ihrem Namen
inspirierte.
Am
vorgestrigen Tag erklärte das Generalkommando der Syrian Democratic
Forces, dass die Militäroperation zur endgültigen Befreiung von
Rakka, der syrischen Kapitale des Kalifats, nun beginne. Der
türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım drohte sogleich mit
Vergeltung, falls die „Sicherheit der Türkei“ tangiert werde. In
der ersten Reihe der SDF kämpfen hunderte von jungen Frauen. Hoffen
wir, dass jede einzelne von ihnen sobald wie möglich ihr Leben
genießen kann und dass Rakka bald befreit ist. Lassen wir sie nicht
allein.
In
Izmir während des Ramadans noch möglich, anderswo nicht mehr: Pride
Parade, 4. Juni (Foto: Gözde Demirbilek/Kaos GL)
Wie
desinteressiert und borniert gegenüber dem, was in der Türkei und
anderswo geschieht, die Deutschen sind, verrät etwa, dass sich kein
einziger deutschsprachiger Bericht über ein veritables Pogrom an
einem Tag im diesjährigen Fastenmonat Ramadan findet. Circa hundert
junge Männer attackierten unter dem Gebrüll „Allahu Ekber“ mit
Wurfgeschossen eine Cafeteria auf dem Cebeci Campus der Universität
Ankara, in der tagsüber junge Menschen aßen und tranken. Die
Bedrängten halfen sich
mit Barrikaden, um zu verunmöglichen, dass die Männer, unter denen
einige mit dem Wolfsgruß drohten, in die Cafeteria einfallen. Der
Slogan der Bedrängten, den sie den Aggressoren verzweifelt
entgegenbrüllten: „Cebeci wird das Grab des Faschismus sein“
(Cebeci faşizme mezar olacak), verhallte schließlich
in Polizeihaft für die Verfolgten. Lassen wir auch sie nicht allein.
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