Fırat
Kalkanı Harekâtı, „Operation Euphrates Shield“, so der Name
jener türkischen Militärkampagne im nördlichen Syrien, deren
Erweiterung auf den Irak Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan
unlängst androhte. Nahezu fatalistisch ertrug die Türkei die
Existenz einer apokalyptischen Poststaatlichkeit entlang ihrer Grenze
zu Syrien, deren Emire noch in der anatolischen Provinz Schläfer
positionierten. Doch selbst das suizidale Massaker in Ankara, der
Kapitale der Republik, brachte den türkischen Souverän nicht dazu,
das Nadelöhr der Schläfer, das Grenzstädtchen Cerablus, zu
verplomben, ihre Logistik konsequent aufzuheben und die Mörder auch
über Grenzen zu verfolgen. Es ist viel mehr das drohende Ende des
„Islamischen Staates“ selbst, das Erdoğans jüngsten
militärischen Drang provoziert. Denn wenn Recep Tayyip Erdoğan
eines mit dem Regime der syrischen Hizb al-Ba‘ath sowie mit dem
Iran teilt, dann dass ihnen alle die Existenz des „Islamischen
Staates“ im Kalkül lag. Für die türkischen Muslimbrüder
fungierte der „Islamische Staat“ als suizidaler Konter auf jene,
die auch im türkischen Boulevard als „Zoroastrier“,
„Feueranbeter“ und „Atheisten“ denunziert werden; für Bashar
al-Assad, als „Nusairier“ dem Kalifat ein Ungläubiger, zwang der
„Islamische Staat“ die militante Opposition gegen das Regime in
eine weitere Front und noch der Iran, sein ideologischer
Komplementär, erschien im Schlagschatten des Kalifats den
US-Amerikanern und Europäern als Stabilitätsfaktor. Sie alle
spekulieren auf das Vakuum, das mit dem Ende des „Islamischen
Staates“ droht – und drängen aggressiv hinein.
Daʿesh, so
das arabische Akronym für das Kalifat der Schlächter, ist keine
Verschwörung, es ist die Kontinuation einer genozidalen
Homogenisierung von der organisierten Annihilation der „Ungläubigen“
in Anatolien im Jahr 1915, dem Gründungsverbrechen türkischer
Staatlichkeit, bis zur „al-Anfal“-Militärkampagne Saddam
Husseins. Nicht zufällig gleicht sich die Geografie des Todes der
Geografie der Vergangenheit. Nach Mosul, Aleppo sowie entlang des
Khabur Ufers führten die Todesmärsche der anatolischen Armenier.
Die vergessenen Verfolgten des Genozids von 1915, die Eziden,
flüchteten zu Hunderten zu ihren Glaubensgeschwistern ins bergige
Sinjar. Ihre Dörfer im türkischen Südosten sind verwaist oder
islamisiert. Im Jahr 2014 dann flüchteten die Eziden zu
Hunderttausenden aus dem Sinjar sowie die letzten verbliebenen
Christen aus Mosul vor der Bestie Daʿesh, die auch das Khabur Ufer,
wo hundert Jahre zuvor für nur zu viele die Todesmärsche endeten,
nach Beute abstreifte.
Während
Eziden aus dem deutschen Exil nach Sinjar reisten, um mit dem
Gröbsten den ins Gebirge Geflüchteten beizustehen, ertrug Europa
die genozidale Bedrohung mit Geduld. Das Naheliegende, die im Gebirge
Ausharrenden durch Militär auszufliegen und den sich selbst
Verteidigenden das Gröbste: eine leichte Infanterie zu überlassen,
blieb aus. Noch ein knappes halbes Jahr später blieben tausende
geflüchtete Eziden allein im Gebirge. Die Empathie war damit
ausgereizt, die Grabinschrift der noch Lebenden zu verfassen. Mit dem
kürzlich verliehenen Sakharov Prize for Freedom of Thought an die
Überlebenden des Genozids Nadia Murad und Lamiya Aji Bashar feiert
Europa als „Macht des Gewissens“ als erstes sich selbst, während
ezidische Geflüchtete weiterhin im türkisch-griechischen Toten Meer
sterben und die Überlebenden in griechischen Slums bedrängt werden.
Die Türkei droht dagegen, nun wo Daʿesh hinausgedrängt ist, die
nächste Aggression gegen Sinjar an. Die „Operation Euphrates
Shield“ werde auch auf Sinjar ausgeweitet,
so Recep Tayyip Erdoğan: „Wir können nicht zu lassen, dass Sinjar
zu einem neuen Qandil wird“. Während die Türkei ihre Grenze als
logistische Schneise der Genozideure offen hielt, brachen aus dem
Qandil-Gebirge Guerillas nach Sinjar auf; viele der dem Genozid
entkommenen Eziden, unter ihnen viele junge Frauen, werden von ihnen
in die Selbstverteidigung eingeführt.
In diese
Perfidie wird sich auch außerhalb der türkischen Staatspropaganda
eingefühlt. Auf „gute Gründe“ des türkischen Militärs, Dörfer
mit Artillerie zu terrorisieren, nachdem Daʿesh aus diesen
hinausgedrängt worden ist, spekuliert Jürgen Hardt. „Wir stehen
für Maß und Mitte“, so der Christdemokrat mit Abgeordnetenmandat,
also für traditionelle Tugenden deutscher Beschwichtigung, und nicht
für „Undifferenziertheit der Betrachtung“, die er der Opposition
vorwirft. Die Charaktermasken der Politik wenden sich wie postmoderne
Seminaristen in Differenzierung, um ganz selbstbewusst auf die
Wahrheit zu verzichten, die objektiv die Wahrheit über die
Verzichtenden ist: die Kumpanei gegenüber der türkischen und
iranischen Katastrophenpolitik.
Dass
sich Recep Tayyip, der reinkarnierte „Vater der Türken“, sich
auch als mächtigster Warlord der syrischen Sunniten sieht, besteht
kaum einen Zweifel. Über ein Gespräch mit
Vladimir Putin, seinem russischen Äquivalent, sagte er, wir, also
die türkischen Muslimbrüder, haben „unsere Freunde“ darin
instruiert, die Jabhat al-Nusra (aka Jabhat Fatah al-Sham) zum
Verlassen Aleppos zu bringen. Mit „unseren Freunden“ meint Recep
Tayyip nicht die syrische al-Qaida selbst, wie man denken könnte,
viel mehr die Staatsbediensteten an der Front, etwa des MİT, einer
institutionalisierten Guerillaorganisation. Noch weigern sich die
Jabhat Fatah al-Sham und selbst die nationaljihadistische Fatah
Halab, bestehend aus türkischen Alliierten wie Faylaq al-Sham und
Harakat Nour al-Din al-Zenki, Aleppo dem „Regime der Rafida“
gänzlich zu überlassen. Die Selbstverständlichkeit aber, mit der
Recep Tayyip meint, er könne durch Instruktionen die syrische Front
radikal verschieben, sagt viel aus über die türkische Flanke für
die Jihadisierung Syriens; auch hier fungiert Recep Tayyip als
Komplementär zum Iran, der mit der Hezbollah und ihren irakischen
und afghanischen Derivaten (Ost-)Aleppo dem Atem abschnürt.
Die
kurdischen Militanten zwangen die Genozideure des „Islamischen
Staates“ in die Defensive, die US-Amerikaner honorierten ihre
militärische Disziplin und machten sie als de-Facto-Armee
Syrisch-Kurdistans zu ihren Protegés. Inzwischen bewegen sie sich
auf Raqqa, der Kapitale des geschrumpften Kalifats, zu, unter
Kommandantur einer Frau, die verspricht, die Frauen zu rächen, den
Gewalt angetan worden ist. Als dann am 7. Juni 2015 in den türkischen
Provinzen nordöstlich von Syrien bis zu über 90 Prozent der
Menschen sich für die Halkların Demokratik Partisi mit ihrer Idee
für eine föderale Türkei aussprachen, organisierte sich der
nationalchauvinistische Hass parteiübergreifend. Graue und Grüne
Wölfe jaulten als veritable Pogromistenrotte durch die Straßen:
„Wir wollen keine Militäroperation, wir wollen Massaker“.
Türkische Armee und paramilitärische Konterguerilla, wahrlich eine
Parallelstruktur, machten aus Cizre, wo sich am 7. Juni noch 92
Prozent für die Halkların Demokratik Partisi
aussprachen, Nusaybin (90,
4 %), Şırnak (noch
71,8 %) und anderen Distrikten im abtrünnigen Südosten eine einzige
Ruine. Auf den Trümmern gehisst die türkische Flagge.
Ein
Jahr später verdichtete sich die Staatsfront weiter. Die lang
vorhergesehene Erhebung den Muslimbrüdern feindlicher Militärs –
Traditionslaizisten sowie Angehörige aus dem konspirativen Tarikat
Fethullah Gülens – scheiterte noch vor der auf Befehl des Führers
hin und durch die Moscheen kommunizierten demokratischen Spontanität
gegenüber Panzergefährten und Soldaten, die mehr um ihr eigenes
Leben fürchteten als zu ahnen, wofür sie am späten Abend
ausrückten. Misstrauen und Ablehnung unter den rivalisierenden
Fraktionen im Militär hätten nicht größer sein können, waren es
doch vor allem die Hörigen des exilierten Imams Fethullah Gülen in
Justiz und Polizei, die – noch im Verein mit den Muslimbrüdern –
zwischen 2008 und 2013 eine Hexenjagd gegen Traditionslaizisten und
pensionierte Generäle als „Intriganten einer Parallelstruktur“
führten. Nach der Verfeindung zwischen Recep Tayyip und den Getreuen
des exilierten Imams und dem Hinausdrängen letzterer aus den
Apparaten amnestierte die Justiz die Ultranationalisten nach für
nach. Die AK Parti Erdoğans machte die Rehabilitierten zur
Absicherung gegenüber den Getreuen des abtrünnigen Imams. Doğu
Perinçek, passionierter Genozidleugner, Freund Jürgen Elsässers
und Gründer der ultranationalistischen Vaterlandspartei, die auf den
Islam ganz in der Tradition Mustafa Kemals verächtlich herabblickt,
ist einer von denen, die inzwischen eine „patriotische Front“ mit
den „religiös Konservativen“ Erdoğans propagieren. Die Vatan
Partisi ist weniger eine Partei als ein konspirativ-paranoider Zirkel
unter ausgedienten Militärs wie Cem Gürdeniz, der ein föderales
Nordsyrien für eine Intrige hin zu einem 2ten Israel hält. Dieses
ultranationalistische Milieu mit einer Marotte für eurasische
Ordnungsphantasien fungiert auch als geostrategisches Ticket zu
Vladimir Putin und Bashar al-Assad. Der Russe Aleksandr Dugin,
Vordenker der anti-universalistischen Kontrarevolution mit geistigen
Anleihen bei Julius Evola, Alain de Benoist und Carl Schmitt, war
jüngst zu
Gast bei
der Fraktionssitzung der AK Parti. Ministerpräsident von Erdoğans
Gnaden, Binali Yıldırım, ließ sich mit ihm fotografieren.
Vor
nicht langem marschierte die Jugend der Vaterlandspartei noch unter
dem Ruf „Das syrische Volk ist seinem Staat treu ergeben“ hinter
dem Porträt Bashar al-Assads und in nationalistischer Opposition zu
Recep Tayyip. Inzwischen gilt Doğu Perinçek als Schattenminister,
als politische Flanke des eurasischen Flügels im Offizierskorps.
Doch auch diese Einheit wird nicht ewig sein. Das islamistische
Milieu aus obskurantistischen Tarikats fürchtet die
Ultranationalisten in der Konkurrenz um die Funktionsstellen im Staat
und zweifelt an deren Loyalität. So sieht der
frömmelnde Kolumnist Ahmet Taşgetiren in den Ulusalcılar, den
ultranationalistischen Traditionslaizisten, bereits die nächste
aufkommende Parallelstruktur.
Diese
temporäre „patriotische Front“ mag der Grund dafür sein, dass
die Muslimbrüder im Moment weitere antilaizistische Vorstöße als
solche nicht erkannt wissen möchten. Die Forderung von Ismail
Kahraman, Präsident der Nationalversammlung und Veteran der
antilaizistischen Bewegung Millî Görüş, nach der völligen
Entsäkularisierung der türkischen Verfassung – noch steht das
Gebot der Trennung zwischen Politik und Religion als Rudiment Mustafa
Kemals - scheint gestundet zu sein. Die Muslimbrüder überlassen die
Islamisierung der Straßenrotte, den Schülern der religiösen
Indoktrination in den Moscheen und Imam hatip Gymnasien. In Trabzon
und anderswo werden seit Wochen Atatürk-Statuen beschmiert mit
Schriftzügen wie „Ungläubiger“, „Götze“ oder „Freimaurer“.
Recep Tayyip dagegen stichelt gegen Mustafa Kemal, in dem er als
lebender „Vater der Türken“ ihn nationalistisch vereinnahmt und
zugleich übertrifft. „Die Türkei ist größer als die Türkei.
Wir können nicht auf 780.000 Quadratkilometer beschränkt
sein“, drohte er
am Todestag Mustafa Kemals, den er nunmehr als „Tag der
Wiedergeburt“ und zur Ehrung der Märtyrer des 15. Juli begehen
wird. Wochen zuvor erboste sich Recep Tayyip über die Abtretung
griechischer Ägäisinseln, „mit unseren Moscheen in Rufweite“,
im Jahr der Republikgründung 1923 und das Versagen von Ismet Inönü,
einem engen Weggefährten Mustafa Kemals.
Am Tag der
Verhaftungen der beiden Co-Vorsitzenden der oppositionellen Halkların
Demokratik Partisi, Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, traf
sich Recep Tayyip mit Devlet Bahçeli, Vorsitzender der
völkisch-panturkistischen Milliyetçi Hareket Partisi, zu einem
Gespräch. Der Rudelführer der Grauen Wölfe mit dem
programmatischen Vornamen „Staat“ köderte Recep Tayyip mit der
Befürwortung seiner Partei für eine Verfassungsänderung hin zu
einem Präsidialregime, unter der Bedingung, dass Abdullah Öcalan
hingerichtet werde. Ihre Einigkeit ist einzig der Tod.
Nach
über einem Jahr von gröbster Rohheit gegenüber der einzigen
Friedenspartei (suizidalen Massakern, pogromartigen Anrottungen vor
Parteihäusern, systematischen Inhaftierungen kommunaler Amtsträger,
der Zerschlagung der Gemeinderäte sowie Zwangsverwaltung ihrer
Kommunen) – und natürlich: habitueller europäischer Besorgtheit –
kommt die de-Facto-Zerschlagung der HDP in diesen Tagen zu ihrem
Ende. Die beiden Parteivorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin
Demirtaş, der Fraktionsvorsitzende İdris Baluken sowie weitere
Abgeordnete sind inhaftiert. Wie die Parteivorsitzende der
verschwisterten Kommunalpartei Demokratik Bölgeler Partisi, Sebahat
Tuncel, befinden sie sich in der berüchtigten F-Typ-Isolation. „Der
Staat der Türkischen Republik hat sie wie Ratten, die aus der
Kanalisation gekrochen kommen, am Genick gepackt“, resümiert Nihat
Zeybekçi, Muslimbruder in Ministerwürden, die Verhaftungen. Während
Hüseyin Kocabıyık, Muslimbruder mit Abgeordnetenmandat, mit
Lynchmord droht:
Sollten ranghohe Politiker der AK Parti ein Haar gekrümmt werden,
werde die Nation sich an den Inhaftierten rächen und diese töten.
„Dies wird im Volk diskutiert“, so Kocabıyık. Die
Unterwerfungsaufforderungen, die die Konterguerilla an den
zerschossenen Fassaden von Cizre und anderswo im Südosten
hinterlassen hat, adressiert der
Rudelführer der Grauen Wölfe, Devlet Bahçeli, direkt an die
inhaftierten Abgeordneten: „Entweder sie beugen ihre Köpfe oder
ihre Köpfe werden zermalmt“.
Wenige Tage
zuvor verhaftete das Regime jene, deren Berufsethos nicht die
unermüdliche Produktion von Gerüchten und Rachegelüsten ist. Die
traditionslaizistische Gazete Cumhuriyet wurde um einige der
schärfsten Kritiker der Muslimbrüder gebracht; Herausgeber und
Redakteure inhaftiert, ihr prominentester Kolumnist Can Dündar zuvor
ins Exil gezwungen. Die republikanische Cumhuriyet brach in den
vergangenen Jahren nach und nach mit den nationalistischen Dogmen,
was sie so bedrohlich für die Staatsfront macht. Am 15. April 2015,
dem hundertsten Jahrestag des Genozids, titelte sie auf Armenisch
„Nie wieder“. Vor der Cumhuriyet traf es das antinationalistische
İMC TV sowie die kurdische Özgür Gündem, die in den dunkelsten
Tagen der Konterguerilla in den 1990er Jahren nahezu wöchentlich um
ermordete Freunde trauern musste.
In
der Anklageschrift gegen die Freunde von Özgür Gündem wird
erschwerte lebenslängliche Haft für „Untergrabung der Einheit des
Staates und seiner territorialen Integrität“ und „Propaganda für
eine terroristische Organisation“ gefordert. Unter ihnen ist die
inhaftierte Literatin Aslı
Erdoğan,
die Philologin Necmiye
Alpay,
die feministische Publizistin Filiz
Koçali sowie
der Verlagsgründer Ragıp Zarakolu, der ab dem Jahr 1971 wieder und
wieder für seine Publikationen, etwa über den Genozid an den
Armeniern, vor Gericht stand. Einige der Angeklagten hatten aus
Solidarität mit der repressiv verfolgten Özgür Gündem symbolisch
für einen Tag die Redaktion übernommen.
Die
Übergebliebenen von Özgür Gündem halfen sich noch der
Hoffnungslosigkeit trotzend mit improvisierten Redaktionssitzungen
auf der Straße, während Polizisten ihren Redaktionssitz
versiegelten. Inzwischen ist ihre Zuversicht verschwunden im
Schweigen der Anderen. Bei der Razzia gegen Özgür Gündem nahm die
Polizei auch Gülfem Karataş, Reporterin für İMC TV, mit. Während
des Verhörs drohten Polizisten ihr an, sie zu vergewaltigen, und
beschimpften sie als Brut von Armeniern und Juden. Im staatstragenden
Boulevard verhöhnte sie ein Kolumnist, dass Polizisten blind sein
müssten, um sich an ihr überhaupt vergehen zu können. Kürzlich
kursierte eine Sequenz wie aus einem Snuff-Film des „Islamischen
Staates“, irgendwo im Südosten richten türkische Soldaten vor
sich kniende Guerillakämpferinnen hin, eine von ihnen stoßen sie
zuvor einem Felsvorsprung hinab. Daraus spricht nicht allein der Hass
auf Frauen, soweit sie sich davon befreit haben, einzig der
Reproduktion des männlichen wie nationalen Narzissmus zu dienen. Es
spricht daraus vor allem auch die aggressive Exorzierung jedes als
„weiblich“ und „schwächlich“ verstandenen Mitgefühls. In
der Demokratie der Märtyrer, die die Muslimbrüder mit Grünen und
Grauen Wölfen begründen, ist die narzisstische Kränkung, dass
männlicher wie nationaler Größenwahn und Wirklichkeit sich nicht
decken, verstaatlicht; ihnen ist die Erniedrigung und
Verächtlichmachung der Menschen allein Grund, die Erniedrigung und
Verächtlichmachung der Menschen zu perfektionieren, also Rache
zu nehmen an dem Leben, der sich selbst befreienden Frau und allem,
was noch irgendwie an die Möglichkeit von Glück und Versöhnung
erinnert.
Redaktionssitzung
von Özgür Gündem (Fotografie: Hayri Demir)
Die
gebetsmühlenartige Besorgtheit des demokratischen Europas, das jedes
Jahr ein beinahe Abdriften der Türkei in eine Diktatur befürchtet,
ist dann doch einzig die Legitimierung dafür, die Kumpanei nicht zu
beenden. Man müsse im Gespräch bleiben, streichelnd, tadeln, mit
„Maß und Mitte“ eben. Bei dem „kritischen Dialog“ der
Deutschen mit dem Iran nahmen sich diese ausschließlich jenen
Oppositionellen an, die eine Funktion im „Kulturdialog“, der
ideologischen Flanke deutscher Beschwichtigungspolitik, fanden.
Nichts spricht dafür, dass es bei der Türkei der Muslimbrüder
anders sein wird.
Der
organisierte Anschlag auf die Residuen von Aufklärung und Mündigkeit
ist globalisiert, schwerlich einen Staat auszumachen, wo sich nicht
zu einem solchen verschworen wird. Wenn aber wo die versprengten
individuellen und kollektiven Widerstände mit gröbstem Desinteresse
verloren gegeben und die Menschen allein gelassen werden, dann dort,
wo die Anschläge am verheerendsten sind. Einer dieser Menschen
ist Levent
Pişkin,
Mitorganisator des Istanbuler Gay Pride und einer der Rechtsbeistände
von Selahattin Demirtaş. Nach einem Besuch bei seinem Mandanten und
Parteifreund nahmen ihn die Schergen der Staatsfront vorübergehend
in Polizeihaft. Bis zu seiner Freilassung wusste man einzig aus dem
türkischen Boulevard, wofür er beschuldigt wird: Levent hätte von
Demirtaş eine handschriftliche Nachricht zu „Propagandazwecken“
erbeten; Adressat dieser „terroristischen Propaganda“ sei die
europäische Öffentlichkeit. Levent ist auch assoziiert im
Özgürlükçü Hukukçular Derneği, einer Vereinigung libertärer
Juristen, dessen Sitze kürzlich von Polizisten versiegelt worden
sind. Der Atem wird ihnen abgeschnürt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen