Nach dem Damaszener »Handschlag-Eklat« können sich die Deutschen wieder in der eigenen Suhle wälzen. Für Syrien zumindest interessieren sie sich nicht. Der konservative Publizist Thomas Fasbender raunt in der Berliner Zeitung von kulturellen »Berührungstabus« und einem Bruch der Hayʼat Tahrir al-Sham mit den aufgezwungenen Etiketten »der europäischen Kolonialherren«. Indessen mahnt Alexander Haneke in der FAZ an, dass es den Deutschen nicht anstehe, »in Damaskus mit Belehrungen und Forderungen aufzuwarten«. Während Fasbender noch »in der Sphäre der Tabus und Rituale« schwebt, wird der syrische Justizminister Shadi al-Waisi als das dekuvriert, was er ist: ein misogyner Schlächter.
Im Januar 2015 wurde al-Waisi zur zentralen Figur in den propagandistischen Snuffs der al-Nusrah Front. Im ruralen Hafasraja, Gouvernement Idlib, sprach al-Waisi den Schuldspruch über eine vor ihm kniende Frau, die der »Korruption und Prostitution« verdächtigt wurde. Nach dem Schuldspruch erteilte al-Waisi mit einer flüchtigen Handbewegung den Tötungsbefehl, der unter dem Gebrüll »Allahu Akbar« ausgeführt wurde. Wenige Tage zuvor ereignete sich in Ma'arrat Misrin eine ähnlich verstörende Szene: Eine Frau fleht al-Waisi noch an, sich von ihren Kindern zu verabschieden. Doch Sekunden später wird sie unter dem ewig gleichen Gebrüll hingerichtet. Auch sie wurde der Prostitution beschuldigt. Unter Aufsicht von al-Waisi wurden die Gerichte der al-Nusrah in Salqin und Haritan etabliert. In den Jahren 2014 und 2015 wurden durch sie mehrere Männer der Homosexualität schuldig gesprochen und hingerichtet. Auch anderswo hat die al-Nusrah über Homosexuelle gerichtet, etwa durch das Herunterstoßen von Dächern. In Salqin befand sich in jenen Tagen auch das Generalkommando der al-Nusrah unter ihrem Emir Abu Mohammad al-Julani. Einer ihrer umtriebigen Shariah-Richter war der heutige Justizminister al-Waisi, eine dunkle Reminiszenz an die Bluthunde der khomeinistischen Staatsübernahme im Iran wie Sadegh Khalkhali und Hadi »Machinegun Mullah« Ghaffari.
Ein hochrangiger Beamter der Hayʼat Tahrir al-Sham hat die Identität ihres Justizministers in den Snuffs verifiziert. Shadi al-Waisi habe weiter nichts als das in jenen Tagen geltende Recht angewandt. Die Phase der Feldgerichte sei aber vorüber. Den anonym bleibenden Beamten zufolge wolle man nun eine Rechtsstaatlichkeit garantieren, die zum Fundament eines Staates wird, der »den Erwartungen aller Syrer gerecht wird«. Über einen solchen islamischen Volksstaat hat auch jüngst der Justizminister al-Waisi, der weiterhin in Amt und Würden verblieben ist, gesprochen: In einem Gespräch mit Alaan TV aus Dubai am 1. Januar führte er aus, dass ungefähr 90 Prozent der Syrer Muslime seien und die Shariah ihren tiefsten Überzeugungen entspreche. Unter dieser Annahme werde die Implementierung der Shariah erfolgen. »Der Staat wird dem Volk nichts aufzwingen«, so al-Waisi.
Zu Beginn des Jahres 2015, als al-Waisi über ehebrechende Frauen und Homosexuelle richtete, erfolgte durch den Emir der al-Qaida, Ayman al-Zawahiri, die Direktive an al-Julani, die al-Nusrah an die Anforderungen einer nationalen Revolution zu adaptieren und die Kooperation mit anderen islamischen Militanten zu intensivieren. Wenig später begründeten al-Nusrah und Ahrar al-Sham mit weiteren Salafiyya-Brigaden die Jaysh al-Fatah, unter der im Jahr 2015 nach und nach die Übernahme des Gouvernements Idlib erfolgte. Die Männer von al-Julani lancierten die Vorstöße durch suizidale Kamikaze, vor allem mit sogenannten SVBIEDs. In der Folge stießen die Bataillone der Ahrar al-Sham nach, der in jenen Tagen die größte Mannesstärke innerhalb der Jaysh al-Fatah nachgesagt wurde. Die Relevanz der Ahrar al-Sham für die al-Nusrah gründete nicht allein in der militärischen Potenz. Seit 2012/13 war die Ahrar al-Sham jene Fraktion an der syrischen Front, in die die türkische Staatsfront und das Emirat Katar am ausgiebigsten investierten. Über die Ahrar al-Sham profitierte nunmehr auch die al-Nusrah von der türkisch-katarischen Generosität. Während al-Nusrah eine disziplinierte Kaderorganisation blieb, wurde den »syrischen Taliban« der Ahrar al-Sham ihre Gigantität zum Fluch. Die starke Fragmentierung zwang sie alsdann in einen Rang unter der al-Nusrah in der paramilitärischen Nahrungspyramide.
Am 28. Januar 2017 gründete die al-Nusrah unter dem Re-Design Fatah al-Sham mit Fraktionen der Ahrar al-Sham und weiteren Salafiyya-Brigaden die Hayʼat Tahrir al-Sham. Abd al-Rahim Atoun, der ranghöchste Geistliche der Organisation, beharrte darauf, dass die Etablierung von Tahrir al-Sham der Forderung von al-Zawahiri nach einer Vereinigung der islamischen Fraktionen entspreche: »Wir haben weder die Treuepflicht noch den Schwur gebrochen.« Gelang es der Tahrir al-Sham unter ihrer zivilen Fassade in der Region Groß-Idlib, alle juristischen und administrativen Institutionen unter alleiniger Autorität zu konsolidieren, sollte auch sie über die Jahre mit Fraktionierung und Desertation konfrontiert sein. Ein halbes Jahr nach Etablierung der Tahrir al-Sham war mit dem Harakat Nour al-Din al-Zenki eine der Gründungsfraktionen wieder abtrünnig geworden. Im September 2017 folgte die Jaysh al-Ahrar und im Februar 2018 die Ansar al-Din Front. Ein einziges Jahr nach ihrer Etablierung war die Tahrir al-Sham im Wesentlichen wieder auf die Einheiten der Fatah al-Sham geschrumpft.
Die Hauptstärke gegenüber den anderen Militanten bestand indes darin, mit welcher Konsequenz und Organisiertheit sie sich in den befreiten Territorien bemühte, die Souveränität zu zentralisieren. Während sich andere Fraktionen in Kleinfehden um die Beute aufrieben, wurde die errungene Beute der al-Nusrah in eine islamische Variante antiker Thesauren überbracht, von wo aus die territoriale Distribution erfolgte. Das im November 2017 etablierte Heilsgouvernement in Idlib garantierte alsdann der Hayʼat Tahrir al-Sham das administrative Chassis zur Übernahme nahezu aller ökonomischen Ressourcen. Watad Petroleum etwa erhielt das Monopol auf das lukrative Business mit petrochemischen Produkten. Begründet wurde Watad Petroleum von Mustafa Qadid, einem Veteranen der al-Nusrah. Er wurde von al-Julani auch zum Kommandeur der Grenzbehörde ernannt. Rentabel ist auch das Business mit konfiszierten Immobilien. In Idlib trafen die Beschlagnahmungen vor allem Tausende Christen, von denen viele Ende 2013 vor dem Islamischen Staat geflüchtet waren. Die al-Nusrah etablierte ein eigenes Amt für christliches Vermögen. Einen Teil der Beute wurde etwa an kaukasische und maghrebinische Militante verteilt. Auch unter der Tahrir al-Sham dauerten die Konfiskationen an (so wurden 2018 um die 750 christliche Häuser im ruralen Jisr al-Shughour konfisziert). In der prosperierenden Erpressungsökonomie machten sich vor allem die Militanten der Islamischen Partei Turkestans, die mit der Tahrir al-Sham alliiert ist, einen Ruf.
Neben dem Justizministerium sind nunmehr weitere sensible Ministerien Veteranen der al-Nusrah überhändigt worden. Minister für auswärtige Affären ist mit Hassan al-Shaybani ein enger Vertrauter von al-Sharaa. Al-Shaybani gilt als eine der Gründungspersönlichkeiten der al-Nusrah. Präsidierender des Generalsicherheitsdienstes ist indes Anas Khattab. Wie al-Sharaa war Anas Khattab ein Kader der irakischen al-Qaida und schwor 2012 der al-Nusrah die Treue. Der Militärapparat wird unter der Ägide von Generalmajor Murhaf Abu Qasra, einem weiteren Veteranen der al-Nusrah, reorganisiert. Einzig Ali Keda ist innerhalb des inneren Zirkels um al-Sharaa nicht den Abgründen der al-Nusrah entkrochen. Keda, dem eine Nähe zu den Muslimbrüdern nachgesagt wird, gilt als eine der zentralen Figuren bei der Sensibilisierung für türkische und katarische Interessen. Ihm wurde zunächst kein offizielles Amt überhändigt, er war aber beharrlich an der Seite von al-Sharaa, wenn internationale Gäste in Empfang genommen wurden. Am 20. Januar wurde Keda das Ministerium für innere Affären anvertraut.
Als Ingenieur der viel beschworenen Transformation der Hayʼat Tahrir al-Sham gilt dennoch jemand anderes: Abd al-Rahim Atoun, eine der umtriebigsten Persönlichkeiten in der Nähe von al-Julani und Generaljurist der Organisation. Seine Fatwas legitimierten die Vorstöße gegen rivalisierende Fraktionen, wie die gegen die Freie Syrische Armee. Atoun saß auch mit Ahmad Salama Mabruk, einem treuen Weggefährten von al-Zawahiri, an der Seite von al-Julani, als dieser am 28. Juli 2016 die Umbenennung der al-Nusrah in Fatah al-Sham publikmachte und dabei Osama bin Laden anführte: »Die Interessen der Ummah haben Vorrang vor den Interessen eines Staates; die Interessen des Staates haben Vorrang vor den Interessen einer Partei; die Interessen der Partei haben Vorrang vor denen eines Einzelnen.« Atoun prononcierte später, dass die Programmatik der Tahrir al-Sham seit den Tagen der al-Nusrah ein und dieselbe geblieben und die Shariah ihre einzige Referenzautorität sei.
Am 15. September 2021 hielt Abd al-Rahim Atoun in Idlib seine wegweisenden Ausführungen auf einer Konferenz, die sich der Staatsübernahme der Taliban widmete und an der auch Ali Keda, der heutige Minister für innere Affären, teilnahm. Atoun sprach über den nationalen Charakter ihres Jihads und machte in der Hayʼat Tahrir al-Sham, der Hamas und den Taliban eine »Trinität des Widerstandes« aus. Atoun definiert die Tahrir al-Sham geografisch. Hinzukommt, so folgt man seinen Ausführungen, der Wille zur Kooperation und Anerkennung der Sicherheitsinteressen jener Staaten, die von Relevanz sind. Namentlich nannte Atoun türkische und russische Interessen in der Region. Dass diese Adaption an die regionalen Konstellationen alles andere als identisch ist mit einem Disengagement von der Ideologie des Todes, führte Atoun im Propagandamedium Al-Mahajjah (06.11.2023) aus, wo er die ebenso suizidale wie genozidale Kommandoaktion der Hamas am 7. Oktober 2023 pries. Der Tag, so der Hauptideologe der Tahrir al-Sham, habe den »unerschütterlichen Glauben an den Jihad als Modus Operandi in den Herzen und Seelen der Muslime gefestigt«. Sogleich sei die Kommandoaktion der Beginn des Endes vom »unglückseligen« Pakt zwischen Hamas und khomeinistischem Regime. Dies sei »eines von Allahs vielen Präsenten der Operation«. Ein weiteres wäre die Entschleierung der »arabischen Zionisten«, womit Atoun vor allem Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate denunziert.
Wenngleich Atoun die Unterschiede zwischen Afghanistan und Syrien anerkennt, sind es vor allem die Taliban, die der Vordenker der Tahrir al-Sham als strategisches Idol rühmt. Wie diese verfolge die Tahrir al-Sham eine strenge Definition der Prioritäten und eine temporäre Begrenzung der Feinde. Atoun spricht davon, dass die Taliban sich mit jenen arrangiert haben, mit denen man starke Differenzen habe, aber in dem Interesse vereint sei, dass die US-Amerikaner in der Befriedung Afghanistans scheitern müssten. Was vielen Analysten als Transsubstantiation von Adepten der al-Qaida in eine nationaldemokratische Staatspartei erscheint, ist in Wahrheit von den jüngeren Erfolgen der Taliban sowie ihrer Protegierung durch das Emirat Katar inspiriert. Den Taliban war es zuvor gelungen, ganz ohne das Odium der Barbarei zu verlieren, als Garant verschiedenster Sicherheitsinteressen wahrgenommen zu werden. »Wir respektieren die Entscheidung des afghanischen Volkes«, hieß es nach der Einnahme Kabuls aus China – ganz so, als wären Taliban und Volkswille eins. Die Taliban hatten zuvor mit Blick auf die muslimische Krisenregion Xinjiang versprochen, die Interna Chinas zu respektieren. Der russische Emissär Dmitrij Zhirnov schwärmte davon, dass die Tage nach der Einnahme durch die Taliban »die friedlichsten« gewesen wären, die er »in Kabul erlebt habe«. Während am Kabuler Flughafen panisch Flüchtende zu Tode getrampelt wurden und die russische Propaganda gegen die Geflüchteten hetzte, schwadronierte Zhirnov von »Touristen«, die alsbald nach Afghanistan kommen könnten: »Afghanistan erinnert mich an die Krim, nur das Meer fehlt«.
Lange zuvor waren sich im katarischen Doha die Taliban mit Zalmay Khalilzad im Auftrag von Donald Trump darin übereingekommen, was die Kriterien für eine Staatsübernahme Afghanistans sein werden. Das Übereinkommen forderte von den Taliban ein Ende ihrer Aggression einzig gegen das US-amerikanische Militär und das Militärpersonal seiner in Afghanistan bis dahin präsenten Partnerstaaten des Nordatlantikpakts. Die afghanische Nationalarmee war davon ausgenommen. Zugleich mussten die Taliban sich verpflichten, niemandem auf afghanischem Territorium Exil zu gewähren, der US-amerikanische Sicherheitsinteressen bedroht. Ausdrücklich genannt wurde dabei al-Qaida. Wenige Tage nach der Vertragsunterschrift eskalierten die Taliban ihre Zermürbungskampagne gegenüber der afghanischen Nationalarmee.
Es war wahrlich nicht ihre Popularität in Afghanistan, die die Taliban als Staatsracket prädestinierte. Infolge ihrer Protegierung durch Katar und der Anerkennung der Sicherheitsinteressen jener Staaten, auf die es ankommt, erschien es nunmehr ebenso günstig wie unumgänglich, jener Organisation den ruinösen Staat auszuhändigen, die zuvor hinlänglich ihren Willen zur ausdauernden Destruktivität bezeugt hat. Sogleich gewann das Emirat der Taliban Legitimität dadurch, dass es den Islamischen Staat schwer konfrontierte. In der Vergangenheit kollaborierten beide noch, wie etwa bei ihrer genozidalen Kampagne gegen die Hazara.
Die Anerkennung US-amerikanischer und europäischer Sicherheitsinteressen überrascht wenig, wenn man die Handschrift auf den Strategiewandel der Hayʼat Tahrir al-Sham entziffert. Jahrelang haben US-Amerikaner und Europäer die Protegierung von Taliban und Hamas durch das Emirat Katar geduldet, wenn nicht begrüßt. Man beschwor, wie das Auswärtige Amt, die »Gesprächskanäle« und die Selbsttäuschung, mit der katarischen Gastung von Taliban und Hamas könne man diese Bestien domestizieren. Eine Illusion, die auch mit dem Pogrom am 7. Oktober 2023 nicht endete. Auch die Hamas hat zuvor terroristische Kommandoaktionen rivalisierender Rackets abgewendet, wenn es ihrem Kalkül entsprach. In diesen Tagen, wo Gaza eine einzige Ruine ist, spricht der hochrangige Kader der Hamas, Moussa Abu Marzouk, davon, dass seine Organisation »offen für einen Dialog mit allen Parteien außer Israel« sei, auch sei man gewillt zu Verhandlungen mit dem »seriösen Präsidenten« Donald Trump. Perfektioniert hat die Strategie der Täuschung das khomeinistische Regime im Iran, jahrelang assistiert durch deutsche Sprechautomaten, die davon raunten, dass ein Ende des Regimes mit noch mehr Destabilisierung drohe. Gleichwie differenzierte man die Despotie in Pragmatiker und unversöhnliche Fundamentalisten.
Analysten wie Charles Lister vom Middle East Institute haben die Hayʼat Tahrir al-Sham unlängst als Ordnungsgarant akkreditiert. Die Behauptung, die Tahrir al-Sham habe effektiv al-Qaida-treue Militanten aus Idlib verdrängt, ist dabei ein Mythos. Tahrir al-Sham hat einzig dann solche Fraktionen repressiv bedrängt, wenn diese ihr abtrünnig wurden und ihre Interessen zu bedrohen schienen. So verhaftete Tahrir al-Sham am 17. Juni 2020 Sirojiddin Mukhtarov alias Abu Salah al-Uzbeki. Der Kommandeur einer usbekisch-kirgisischen Brigade war zuvor aus der Tahrir al-Sham desertiert. Die abtrünnigen Fraktionen sprachen sich anders als al-Julani entschieden gegen die türkisch-russischen Arrangements in Nordsyrien aus. Am 5. März 2020 hatten sich Recep Tayyip Erdoğan und Vladimir Putin unter anderem auf türkisch-russische Patrouillen in Frontnähe geeinigt. Kam es episodisch auch zu schwächeren Konfrontationen, zerschlug Tahrir al-Sham die abtrünnigen Fraktionen nicht. Ihre Existenz war für al-Julani eine weitere Drohoption in seiner Hinterhand.
Gerüchten zufolge soll die Hayʼat Tahrir al-Sham bei US-amerikanischen Eliminierungen ranghoher Kader der al-Qaida in Idlib kooperiert haben. Hassan al-Shaybani, der heutige Minister für Auswärtiges, soll ab dem Jahr 2020 diskrete Gespräche mit US-amerikanischen und französischen Sicherheitsagenturen geführt haben. Viele andere Militante, die dem Ruf der Hijrah (»Auswanderung«) nach Syrien gefolgt sind, haben indes hohe Ränge in der Tahrir al-Sham eingenommen. Brigaden innerhalb des ideologischen Radius der al-Qaida hatten zudem als Frontkommandos einen herausragenden militärischen Anteil am Durchmarsch der Tahrir al-Sham Ende des vergangenen Jahres. Das von Mukhtarov etablierte Bataillon al-Tawhid wal-Jihad und die Brigade al-Muhajirin wal-Ansar, die Veteranen des Kaukasus-Emirats inkludiert, waren an der Aleppo-Front von Tahrir al-Sham beteiligt. Das usbekische Bataillon Imam al-Bukhari, das dem Emir der Taliban die Treue geschworen hat, beteiligte sich am Vorstoß nach Latakia, während der militärische Flügel der Islamischen Partei Turkestans bis nach Tartus vordrang. Die uigurische Exilpartei residierte 1998 als Gast der Taliban in Kabul, ihr Emir Abdul Haq al-Turkistani trat später dem Exekutivorgan der al-Qaida, dem Majlis-ash-Shura, bei. In Syrien war die Partei von Beginn an mit der al-Nusrah alliiert, beteiligte sich als eine der Fraktionen der Jaysh al-Fatah an der Einnahme von Jisr al-Shughour und ist heute mit der Tahrir al-Sham assoziiert. Ihr Kommandeur erhielt am 29. Dezember von al-Julani den Rang eines Brigadegenerals der prospektiven Nationalarmee.
Weitere Salafiyya-Brigaden sind in den Tagen des vergangenen Dezembers in das innere Syrien vorgestoßen. Manche der Fraktionen sind in die militärischen Strukturen der Tahrir al-Sham integriert, andere haben sich ihre Autonomie bewahrt. Das vor allem uigurische Bataillon al-Ghuraba al-Turkestan etwa ist eine Untereinheit der Tahrir al-Sham. Während der Etablierungsphase des Bataillons im Jahr 2017 referenzierte es in seiner medialen Propaganda nahezu alle Koryphäen der al-Qaida. Es synchronisierte auch die Propaganda der Tahrir al-Sham und ihres Geistlichen Abdullah al-Muhaysini. Im August 2021 übernahm das Bataillon die drusische Gemeinde Qalb Lawzah im Norden von Idlib als sein Lehen. Als die al-Nusrah Ende 2014 in die bergige Region vordrang, zwang man die Drusen zu einer schriftlichen Erklärung, dass sie ihrem Irrglauben abschwören und jene, die weiterhin darauf beharren, verleugnen. Die drusischen Gemeinden mussten sich zudem verpflichten, Heiligenschreine zu zertrümmern, der Jugend einen fundamentalistischen Islam zu lehren und die für Frauen geltenden strengen Kleidungsvorschriften zu befolgen. In den Schulen der drusischen Gemeinden wurden nunmehr Lektüren wie »Der Hijab und die Zierde: Zwischen Wahrheit und Täuschung«, eine Publikation aus dem katarischen Ministerium für Islamfragen, gelehrt.
Erwähnenswert unter den Militanten mit Nähe zur Hayʼat Tahrir al-Sham sind vor allem die kurdischen Taliban der Ansar al-Islam. Ihre Gründerväter hatten in den 1990er Jahren in der bergigen Grenzregion zwischen Irak und Iran ein Miniatur-Emirat etabliert. Unter ihrer Despotie wurden Musikinstrumente demoliert, unkeusche Frauen mit Säure verätzt, Mädchen die Ausbildung untersagt und Apostaten hingerichtet. In den 1990er Jahren investierte das khomeinistische Regime Irans in die kurdischen Taliban, wie zuvor in die Kürt Hizbullahı im türkischen Südosten. Das mag angesichts des innerislamischen Schismas, das in der syrischen Katastrophe dramatisch eskalieren sollte, irritieren. Wahr ist aber auch, dass die revolutionäre Shia und die Militanten der Ahl as-Sunnah sich gleichauf auf Sayyid Qutb berufen. Ali Khamenei überschrieb die Schriften des ägyptischen Muslimbruders ins Persische. Eine dieser Schriften wurde in den Vortagen der khomeinistischen Konterrevolution 1979 als ideologisches Handbuch an die revolutionären Kader verteilt.
US-amerikanisches Militär und Peshmerga zerschlugen im März 2003 das Emirat von Byara in Irakisch-Kurdistan. Die nächste Generation an kurdischen Taliban wandte sich dem »irakischen Widerstand« der al-Qaida zu oder predigte in manch einer Moschee im ruralen Iranisch-Kurdistan, wie etwa der Imam Abdulrahman Fattahi. Junge Männer wurden von ihm und weiteren Salafiyya-Imamen für die irakische Hölle angeworben – in aller Diskretion gewährt vom khomeinistischen Regime, ganz so wie das syrische Baʿth-Regime in jenen Jahren die Transitrouten der al-Qaida über Ostsyrien in den Irak duldete. Einige der Auswanderer aus Iranisch-Kurdistan blieben dem Islamischen Staat treu, andere dagegen folgten der Ansar al-Islam bis nach Syrien. Die Ansar al-Islam kooperierte von Beginn an mit der al-Nusrah, bewahrte sich dennoch ihre Autonomie. Die Männer um Abdulrahman Fattahi dagegen schworen im Jahr 2016 den Treueeid auf al-Julani. Sie sind als Brigade Omar bin al-Khattab eine offizielle Untereinheit der Tahrir al-Sham. In Idlib machte Fattahi Karriere als Rechtsgelehrter. In seinen Predigten preist der gelehrige Schüler jenes Emirats von Byara, das in der bergigen Grenzregion Hawraman wie eine dunkle Prophetie des späteren Islamischen Staates erschien, Osama bin Laden und den Märtyrertod. Ahmed al-Sharaa soll Fattahi darüber hinaus zu seinem Deputierten für iranische Affären ernannt haben.
In Mahabad, wo Fattahi als Imam gegen das Leben agitierte, kam es im Jahr 2015 infolge des Todes von Farinaz Khosravani zu den ersten Massenprotesten unter dem Ruf »Frau - Leben - Freiheit«. Im Jahr 2022 hallte eben jener Slogan, der in den Jahren zuvor in Nordsyrien an Popularität gewonnen hatte, durch die Straßen Irans. Noch während der Beerdigung von Mahsa Amini rissen sich anwesende Frauen den Zwangsschleier vom Haar. Der Protest gegen den misogynen Mord erfasste mit einer solchen Wucht nahezu alle Provinzen und selbst Kleinstädte in der ruralen Peripherie. Im Qom, der heiligen Kapitale der Geistlichkeit, wurden Brandflaschen gegen das Islamische Seminar geschleudert; in Kerman, woher mit Qasem Soleimani einer der Architekten der syrischen Katastrophe stammt, seine überdimensionalen Porträts verbrannt. Die Region Mukriyan wurde eines der herausragenden Zentren der Proteste. In Mahabad waren sie dabei am ausdauerndsten. Als am 19. November das Regime aus Mahabad nahezu hinausgedrängt war, konterte dieses mit militarisierter Repression, die in ihrer Grobheit unweigerlich Assoziationen mit Syrien hervorrief.
Im khomeinistischen Iran drohen in diesen Tagen die Hinrichtungen von Pakhshan Azizi und Verisheh Moradi. Die beiden Frauen brachen aus Rojhilatê Kurdistanê, dem iranischen Kurdistan, nach Syrien auf. Verisheh Moradi war eine der Frauen, die im Jahr 2014 in Kobanî Widerstand gegen den Islamischen Staat aufgebracht haben. Pakhshan Azizi betreute im Jahr 2015 im Nordosten Syriens Überlebende jenes genozidalen Unstaates. Wieder im Iran wurden die Frauen verhaftet. Das berüchtigte Teheraner Revolutionsgericht sprach sie alsdann der militanten Erhebung gegen das Regime schuldig. Die Ausführung der Todesstrafe wird in den nächsten Tagen befürchtet. Im Iran und in Syrien wird die Aussicht auf Freiheit auch davon entweder getrübt oder erhellt werden, inwieweit man in Kurdistan einen Alliierten oder eben doch nur einen Abtrünnigen zu erkennen gewillt ist. In Syrien beteiligen sich an der nationalchauvinistischen Denunziation der demokratischen Föderation als abtrünnige Entität vor allem auch säkulare Oppositionelle wie etwa George Sabra. Die arabische Hybris überdauert das Baʿth-Regime.
Unbestritten haben die von Israel erzwungene Desorganisation der Hezbollah und das Ende des Baʿth-Regimes die regionale Katastrophenarchitektur des khomeinistischen Regimes erschüttert. Dass es die Hayʼat Tahrir al-Sham ist, die unter internationaler Akzeptanz den Staat sich einverleibt, ist mehr als eine Trübung nicht nur in der Aussicht auf ein freieres Syrien. Die khomeinistische Übernahme des Irans 1979 war entgegen dem innerislamischen Schisma eine dunkle Inspiration für die militanten Parteigänger eines fundamentalistischen Staates von Ägypten bis nach Afghanistan. Dass ein Syrien unter dem Regime der Tahrir al-Sham das Selbstbewusstsein islamischer Militanz ähnlich aufblähen wird wie der khomeinistische Takeover 1979, ist fraglich. Die Khomeinisten fanden Ende der 1970er Jahre den Kairos für ihre totalitäre Despotie, der heute so nicht mehr gegeben ist. Dennoch droht, dass sich mit einem Syrien unter dem Regime der Tahrir al-Sham die nächste Achse der Konterrevolution etabliert. Es war nicht allein das khomeinistische Regime, das die Hamas in ihrer Entscheidung für den 7. Oktober 2023, die in nächster Konsequenz auch eine bewusste Entscheidung für den Tod Tausender in Gaza war, bekräftigt hatte. Es war vor allem auch die US-amerikanische und europäische Akzeptanz der Protegierung der Hamas durch Katar und die Türkei, die die genozidale Organisation als Carte blanche für ihr Massaker am 7. Oktober 2023 verstanden haben muss.
Die Metamorphose des Warlords al-Julani in den Ehrenmann al-Sharaa und seines Rackets in eine seriöse Staatspartei gründet vor allem auch in der Sensibilisierung für die türkischen Interessen in der Region. Viele der Dogmatiker, die aus der Tahrir al-Sham ausgeschieden sind, wie etwa die berüchtigte ägyptische Fraktion, haben sich vor allem hierüber mit al-Julani zerstritten. Sie waren gegen die Einfühlung in die Interessen einer laizistischen Republik, deren Grenzen auch noch identisch sind mit der südöstlichsten Flanke des Nordatlantikpakts. Im Jahr 2016 hatte sich die Fatah al-Sham von al-Julani noch vehement gegen eine Kollaboration mit der türkischen Armee und eine Beteiligung an dem »Euphratschild« ausgesprochen, da diese der Kapitulation der Aleppo-Front ihre Absolution erteilte. Verschiedene Fraktionen, unter anderem die Ahrar al-Sham, waren Monate zuvor aus den Ruinen von Aleppo aufgebrochen, um an der türkischen Militärkampagne Fırat Kalkanı Harekâtı teilzuhaben. In dessen Folge desertierte die Jaysh al-Ahrar, eine herausragende Fraktion innerhalb der Ahrar al-Sham, und etablierte mit der Fatah al-Sham und weiteren Salafiyya-Fraktionen Tahrir al-Sham.
Doch al-Julani erkannte, dass Ungeduld und Übereifer kaum nachhaltig sind bei seiner Bewegung in den Staat. Die Annäherung an die türkische Großraumpolitik wird die Hayʼat Tahrir al-Sham nur noch bedrohlicher machen, genauso wie die Protegierung der Hamas durch Katar ihre genozidale Potenz vielmehr noch gesteigert hat. Die gefühlsselige Behauptung des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan, dass »wenn die eine Hälfte unseres Herzens Gaziantep, Hatay, Şanlıurfa ist, dann ist die andere Hälfte Afrin, Halep, Hama (…)«, entspricht einer dunklen Wahrheit. Vor allem die Topografie des Nordens und Ostens Syriens ist geprägt durch das Stigma genozidaler Narben. Nach Ras al-Ayn und Deir ez-Zor führten die Todesmärsche der anatolischen Armenier. In den genozidalen Wogen, die zwischen 1894 und 1924 die Christen Anatoliens erfassten, gründet die laizistische Republik. Der Staatsgründer Mustafa Kemal zwang dem osmanischen Islam einen entschlossenen Modernisierungsauftrag auf. Dennoch war es die Identifikation mit dem Islam, die mit aller Gnadenlosigkeit darüber entschied, wer unumstritten Angehöriger des Staatsvolks werden durfte. Im Jahr 1923, in dem Mustafa Kemal die Republik ausrief, wurde sogleich das verwaiste Vermögen »aller Armenier, die nicht mehr anwesend waren«, konfisziert. Dieses Raubkapital als auch die Einführung der Varlık Vergisi im Jahr 1942, einer Vermögenssteuer für Nicht-Muslime, wurden zum Fundament der modernen türkischen Bourgeoisie. Die verdrängte Schuld und das verleugnete Wissen um das genozidale Fundament des türkischen Staats äußern sich in einem virulenten Verschwörungswahn.
Die Personifikationen der Nicht-Identität sind dabei nach wie vor dieselben. Im Jahr 2020 charakterisierte Erdoğan die demokratischen Föderalisten als »das, was das Schwert übrigließ« (auf Türkisch: »kılıç artığı«). Die Metapher wird von türkischen Nationalchauvinisten gegen jene gewendet, die dem Schwert entflohen sind, also jene anatolischen Armenier, die die genozidalen Wogen überlebt haben. Aus der Metapher spricht die ganze Perfidie der türkischen Ideologie. Der Genozid wird nicht im Unwissen abgestritten. Die Leugnung selbst ist Teil des nationalchauvinistischen Rituals, die Ermordeten und Überlebenden verächtlich zu machen, während ihnen im selben Atemzug mit finaler Annihilation gedroht wird. Der Plot, in dem kurdische Abtrünnige an der blutroten Republik als Handlanger zionistischer Interessen auftreten, macht dabei seit Jahren Karriere in der prosperierenden Verschwörungsindustrie. Die sich in der laizistischen Tradition Mustafa Kemals wähnende Gazette Aydınlık erblickte unlängst einen mysteriösen »David Korridor«, über den »das sogenannte ›Kurdistan‹« mit Israel vereinigt werden solle.
Im Jahr 2019 nahmen die türkische Armee und ihr Frontvieh Ras al-Ayn ein. Panisch flüchteten die Nachkommen jener, die 1916 die Todesmärsche überlebt hatten. Nach der Einnahme von Ras al-Ayn hielt Abu Hammam von der Jaysh al-Islam die Khutba-Predigt in einer der Moscheen, in der er die theologische Legitimität der Raubbeute pries. Der unter Donald Trump angeordnete Withdrawal des US-amerikanischen Militärs kam einer Absolution für jene Staatsbestie gleich, die am hysterischsten heult. Mitch McConnell, Parteiführer des Senats, kritisierte die Entscheidung als einen »strategischen Albtraum«. Selbst das Pentagon schien mit der Entscheidung überrumpelt worden zu sein. Trump twitterte indes über ein Gespräch mit Erdoğan: »…and he is a man who can do it plus, Turkey is right ›next door‹«.
Die Annäherung an die blutrote Republik vermochte in den Reihen der Tahrir al-Sham einen Entschlackungsprozess herauf provozieren. In nächster Konsequenz aber steigert die Allianz nur noch das destruktive Potenzial. Man möge sich an den bestialischen Mord an Samuel Paty am 16. Oktober 2020 im französischen Conflans-Sainte-Honorine erinnern: Einen Tag nachdem Erdoğan Emmanuel Macron verleumdet hatte, da dieser von einer Krise des Islams sprach, trampelten im okkupierten Ras al-Ayn Männer in Milizkluft auf dem Porträt des französischen Staatspräsidenten und verbrannten die französische Nationalflagge. Macron hatte sich nach der Ermordung von Samuel Paty für einen »Islam der Aufklärung« und gegen einen Islam, der sich von der Republik scheidet, ausgesprochen. Abdoullakh Anzorov, der Mörder von Samuel Paty, rühmte Tahrir al-Sham als sein Idol. Ihr Staatssurrogat in Idlib verbannte in Folge der Denunziationskampagne Erdoğans französische Produkte.
Erdoğans Agitation mit einem militanten Islam ist wahrlich kein revolutionäres Fanal wie noch im Jahr 1979. Es ist viel mehr, wie es der israelische Analyst Jonathan Spyer nennt, die Dekoration eines Staates, der vor der sich perpetuierenden Krise in die imperialistische Entgrenzung des terroristischen Apparates flüchtet. Das Geraune von der nationalen Teilung ist projizierte Aggression. Die nationale Kulturindustrie mit ihren Telenovelas sowie den touristischen Destinationen sind relativ stabile Industrien innerhalb der türkischen Krisenökonomie. Sie täuschen darüber, dass es mit Erdoğan der Staatspräsident einer formal-laizistischen Republik ist, der sich als geifernder Übervater einer islamofaschistischen Konterrevolution geriert, die in Afrîn, Conflans-Sainte-Honorine oder Re'im zur barbarischen Tat schreitet. Die İHH İnsani Yardım Vakfı und andere karitative Muslimbrüder, die unter Erdoğan auch die zuvor streng laizistischen Bildungsinstitutionen infiltrieren konnten, haben eine eigene Fundraiser-Industrie für die militante Ahl as-Sunnah etabliert.
Unter den 49 Warlords, die von al-Sharaa am 29. Dezember in die höheren militärischen Ränge erhoben wurden, ist etwa Ömer Muhammed Çiftçi, ein türkischer Veteran der al-Qaida. Der Salafiyya-Geistliche Abdullah al-Muhaysini lobt al-Julani für die Avancements militanter »Einwanderer« im Militärapparat. Al-Muhaysini, einer der Gründungspersönlichkeiten der Hayʼat Tahrir al-Sham, grinste im Jahr 2016 unweit der Front in ein Kameraobjektiv und pries den nahenden Märtyrertod eines Halbwüchsigen, dem er eine paradiesische Belohnung aus schwarzäugigen Jungfrauen versprach. In dem Milieu rivalisierender Salafiyya-Autoritäten trat al-Muhaysini mit einer Parteinahme für Erdoğan hervor, nachdem dieser von einem anderen salafistischen Geistlichen als »Heuchler« denunziert wurde, da Erdoğan Staatspräsident eines »säkularen Regimes« sei, in dem die Shariah keine Geltung habe. Al-Muhaysini entgegnete: Erdoğan sei »ein fleißiger Muslim, der für Allahs Religion glüht«. In diesen Tagen rühmt al-Muhaysini die genozidale Todesindustrie der Hamas: »Oh, Männer von al-Qassam, was für Männer Allahs ihr seid. Fürwahr ist es das Jahr des Sieges.«
Als al-Muhaysini am 12. Dezember in der Damaszener Umayyaden-Moschee sprach, traf der Salafiyya-Geistliche dort auch auf Abdülkadir Şen. Mit seinem Bruder İbrahim Şen, einem zuvor in Guantanamo inhaftierten Afghanistan-Veteranen, gilt dieser in der Türkei als zentrale Figur im qutbistischen Milieu. Im Jahr 2014 spekulierte Abdülkadir Şen noch auf die Einnahme von Kobanî, die »den raschen Fall von Afrîn, Ras al-Ayn und Qamishli zur Folge haben« würde, sowie einen Marsch des Islamischen Staates in das Qandil-Gebirge. Die Ahl as-Sunnah ist ihm ein ewiges Opfer dunkler Intrigen. Die Staatsübernahme der Tahrir al-Sham inspiriere indessen den revolutionären Geist. So haben die Gläubigen in der Umayyaden-Moschee nach dem Gebet ein Nasheed gesungen, in dem die Re-Islamisierung Andalusiens beschworen wird. Abdülkadir Şen rühmt die türkische Hingabe an »die syrische Revolution« und die strategische Intelligenz von al-Sharaa. Vertraut ist Abdülkadir Şen auch mit Ömer Muhammed Çiftçi, jenem jüngst zum Brigadegeneral ernannten Veteran, der seine militante Karriere als Volontär bei den Taliban begann und in Syrien zu einem der engsten Vertrauten von al-Sharaa wurde. Bevor sich Erdoğans Staatsfront alle Institutionen der Republik einverleibt hatte, mussten die Gebrüder Şen noch Strafverfolgung fürchten. Im Jahr 2014 intervenierte Erdoğan, um die Fallakte, die um die türkische Filiale der al-Qaida aufgemacht wurde, zu versiegeln. Mit seiner Ernennung zum Brigadegeneral verschwand nun auch Çiftçi aus der höchsten Kategorie der türkischen Fahndungskartei.
Die Erzählung von der türkischen Hingabe zur syrischen Revolution, wie sie von Abdülkadir Şen zu hören ist, ist natürlich ein Mythos. Noch im vergangenen Jahr hat die türkische Staatsfront syrische Männer abgeworben, um mit ihnen ihre »strategische Investition« im Niger abzusichern. Die Rekrutierung selbst erfolgt über die Sultan Murad Division, eines neo-osmanischen Proxys des berüchtigten türkischen Nationalen Aufklärungsdienstes Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT). Die Sultan Murad Division rekrutierte zuvor auch für Bergkarabach und Libyen. Man erinnere sich: Der MİT-Direktor İbrahim Kalın betete am 13. Dezember, einen Tag nach Abdülkadir Şen, demonstrativ in der Umayyaden-Moschee.
Während in diesen Tagen Europäer Selbstgespräche über Diversitätssensibilität führen, reorganisiert die Hayʼat Tahrir al-Sham den Militärapparat unter ihresgleichen. Unter den 49 Warlords, die von al-Sharaa militärische Ränge erhielten, ist etwa Abdul Jashari alias Abu Qatada al-Albani, ein US-amerikanisch sanktionierter Veteran der al-Nusrah. Jashari, der in Nordmazedonien geboren ist, war im Jahr 2019 neben Çiftçi eine der zentralen Figuren bei den Bemühungen, sich mit der al-Qaida-treuen Hurras al-Din auszusöhnen. Entgegen verschiedenster Beteuerungen zögert al-Sharaa bislang, jene Deserteure in die reorganisierte Armee zu integrieren, die im Jahr 2011 - ein halbes Jahr bevor die al-Nusrah an der syrischen Front erschien - die Freie Syrische Armee etablierten. In der Konsequenz perpetuiert Tahrir al-Sham damit eine Strategie des Baʿth-Regimes: die Identität der Armee mit der Staatspartei. Bevor im Herbst 2014 drohte, dass Kobanî an den Islamischen Staat fällt, begann die al-Nusrah in Kooperation mit der Ahrar al-Sham und Jund al-Aqsa, die Fraktionen der Freien Syrischen Armee in Idlib schwer zu konfrontieren. In der Region um Darkush kam es zu Massakern, bevor die al-Nusrah nach Salqin und Harim durchbrach, um in der Grenzregion territoriale Geltung zu erlangen. Einer der Kritiker der al-Nusrah innerhalb der Freien Syrischen Armee war Abu Omar al-Idlibi. Er war mit seiner Brigade gezwungen, nach Afrîn zu flüchten, das in jenen Tagen noch frei war. Im November 2015 trat al-Idlibi mit seiner Brigade der Hêzên Sûriya Demokratîk, der Militärkoalition der demokratischen Föderalisten, bei, woraufhin die al-Nusrah und Ahrar al-Sham ihn der Apostasie beschuldigten. Die Brigade von al-Idlibi beteiligte sich daran, den Norden und Osten Syriens Meter für Meter vom Islamischen Staat zu befreien. Heute ist al-Idlibi im Widerstand gegen die türkischen Okkupanten.
Am 17. August 2017 richtete die Hayʼat Tahrir al-Sham in Idlib Osama al-Khidr hin, eine Gründungspersönlichkeit der Freien Syrischen Armee aus dem ruralen Kurin im Distrikt Ariha. Die Beschuldigungen variierten: So soll al-Khidr sich neben der Blasphemie auch der Kollaboration mit Abu Omar al-Idlibi schuldig gemacht haben. Vor der Hinrichtung verbrachte al-Khidr ein Jahr lang in der »Höhle von al-Aqab« im Süden von Idlib, einem Kerker im Felsen. Die Tahrir al-Sham unterhielt dabei ein eigenes Start-up, das den Familien der Verschwundenen eine Mediation andiente. Bei al-Khidr wurde eine sechsstellige Summe sowie die Ausrüstung seiner Brigade verlangt. Am 2. März 2017 wurde zuvor die Leiche von Ammar Dayoub, einem weiteren Kommandeur der Freien Syrischen Armee, in einem Massengrab der Jund al-Aqsa gefunden. Die Jund al-Aqsa etablierte sich 2014 zunächst als Untereinheit der al-Nusrah, bevor sie ihre Unabhängigkeit erklärte. Die Ansar al-Tawhid, eine Restauration der Jund al-Aqsa, war in den Dezembertagen des vergangenen Jahres am Vorstoß der Tahrir al-Sham beteiligt.
Während Hassan al-Shaybani, Veteran der al-Nusrah und nunmehr syrischer Minister für Auswärtiges, in Davos umschmeichelt wird, bleibt darauf zu beharren, dass die Männer um al-Sharaa alias al-Julani unter wandelnden Namen immerzu nur eines waren: Todfeinde eines freien Syriens. Während es im Jahr 2013 zu einer »Meinungsverschiedenheit« zwischen ihnen und dem brüderlichen Islamischen Staat kam und al-Julani dem Emir der al-Qaida, Ayman al-Zawahiri, die Treue schwor und nicht Abu Bakr al-Baghdadi, waren sie weiterhin vereint, wenn die Feinde die demokratischen Föderalisten waren. So etwa in Tell Abyad, in Tell Hamis und auch in Qamishli unter dem Slogan »Das Kalifat ist unser Versprechen«. Zum endgültigen Bruch kam es durch den Islamischen Staat, als dieser am 23. Februar 2014 Abu Khalid al-Suri, Emissär von Ayman al-Zawahiri, ermordete. Am 9. September desselben Jahres erfolgte die Ermordung von Hassan Aboud und Muhammad Khayr Atoun, Bruder des höchsten Geistlichen der Tahrir al-Sham, sowie weiterer Gründungspersönlichkeiten der Ahrar al-Sham. In jenen Tagen, wie auch heute, gilt der Widerstand der demokratischen Föderalisten als das Momentum, wo Syrien etwas anderes werden kann als eine Diktatur rivalisierender Rackets.
Doch der »strategische Albtraum«, den Mitch McConnell im Jahr 2019 nüchtern konstatierte, dauert an. Noch im September 2024 war die Hayʼat Tahrir al-Sham mit starken Protesten in der Region Groß-Idlib konfrontiert, die mehr als ein halbes Jahr zuvor ausgebrochen waren. Auf den Protesten wurde Tahrir al-Sham dafür kritisiert, das repressive Regime nachzuahmen. Unverhohlen wurde eine Strafverfolgung von al-Julani gefordert. Bevor das alles geschah, was den Kairos auf den Vorstoß nach Damaskus hervorbrachte und selbst kaum Aussagekraft über die Potenz der Tahrir al-Sham hat – die Lähmung der Hezbollah, die Lethargie der russischen und khomeinistischen Despotie, die Leichenstarre des dynastischen Regimes – verharrte sie im ruralen Idlib angesichts von Fraktionsfehden und ausdauernden Protesten in Instabilität. Die Rasanz, mit der Tahrir al-Sham die Damaszener Ministerien sich einverleibt und den Militärapparat unter ihresgleichen reorganisiert, sollte nicht darüber täuschen, dass zentrale Regionen der Gouvernements al-Hasakah, Raqqa und Deir ez-Zor nach wie vor von der Hêzên Sûriya Demokratîk, der Militärkoalition der demokratischen Föderation Nordostsyriens, gehalten werden. Im südlichen Gouvernement Suwayda verweigern drusische Milizen der Tahrir al-Sham eine militärische Präsenz, in Daraa sind es Warlords wie Ahmad al-Awda, die weiterhin um territoriale Geltung rivalisieren (1). Angesichts dessen irritiert die Flut an Staatsgästen, die in diesen Tagen über Damaskus einbricht, noch mehr. Keiner der hochrangigen Politiker aus Europa, die in den vergangenen Tagen al-Sharaa die Aufwartung gemacht haben, ist zuvor in die Autonome Administration Nord- und Ostsyrien gereist, um dieser die Anerkennung auszusprechen. Eine Föderation, die jahrelang türkische Destruktivität und Destabilisierungsbemühungen durch das khomeinistische Regime ausgestanden hat, ohne zu einer militaristischen Diktatur zu verkümmern.
Am 29. Januar ernannte das militärische Operationskommando Ahmed al-Sharaa für eine unbefristete Transformationsphase zum Präsidenten Syriens. Auf der sogenannten »Versammlung zur Verkündigung des Sieges« wurde die Konsolidierung einer Staatsfront der Tahrir al-Sham und ihrer Kollaborateure formalisiert, die in Wahrheit einem Coup d’État ähnelt. Unter den Anwesenden waren folglich vor allem Warlords, von denen manche nunmehr in Amt und Würden eines Gouverneurs sind. Keine einzige Frau war während der Ernennung anwesend. Die Kommandeure islamistischer Fraktionen, wie Abu Hammam von der berüchtigten Jaysh al-Islam, blieben unter sich. Hinzu kamen noch Geistliche und ranghohe Beamte. In der ersten Reihe saßen auch die Kommandeure der MİT-Proxys: Sayf Abu Bakr von der Hamza Division und Abu Amsha von der Suleiman Shah Brigade. Es waren jene Kommandoeinheiten des türkischen MİT, die im Jahr 2022 der Tahrir al-Sham die Infiltration des ruralen Nordens des Gouvernements Aleppo erleichterten.
Unter den Warlords, die am 29. Januar eine Ansprache hielten, war auch Ahmad al-Hayes alias Abu Hatem Shaqra. Der Kommandeur der Ahrar al-Sharqiya wird seit 2021 vom US-amerikanischen Finanzministerium sanktioniert. Unter anderem soll al-Hayes die Befehlsgewalt über ein kleines Sednaya in der ruralen Peripherie von Aleppo gehabt haben, in dem Hunderte von Verschwundenen hingerichtet wurden. Auch sei der Warlord am profitablen Business mit versklavten Ezidinnen involviert gewesen und habe staatenlos gewordene Soldaten des Kalifats für die Ahrar al-Sharqiya rekrutiert. Als am 12. Oktober 2019 Hevrîn Xelef in eine Razzia der Ahrar al-Sharqiya geriet, zerrten die Männer sie an den Haaren durch den Staub, schlugen auf sie ein und richteten sie schlussendlich hin. Die türkische Propaganda pries diesen bestialischen Mord als Triumph über den Feind. Die Gazete Yeni Akit etwa jubelte: »Kritischer Name getötet«. Hevrîn Xelef war bis zu ihrem Tode Generalsekretärin der Partiya Sûriya Pêşerojê, die im befreiten Rakka gegründet wurde, um das Ideal der syrischen Revolution gegen das Baʿth-Regime mit der Idee eines säkularen und föderalen, aber nicht ethnizistischen Syriens zu verwirklichen. Frauenorganisationen aus Nordostsyrien fordern in diesen Tagen eine Strafverfolgung der misogynen Schlächter: »Wir werden die Präsenz von Frauenmördern in den Entscheidungszentren nicht akzeptieren.«
Die Warlords verkündeten am 29. Januar ihre Vereinigung zur nationalen Armee unter dem Kommando von Generalmajor Murhaf Abu Qasra, einem Veteranen der al-Nusrah. Der Tahrir al-Sham folgen die Ahrar al-Sham, die Muslimbrüder-affiliierte Sham Legion, das Halsabschneider-Harakat Nour al-Din al-Zenki, die Salafiyya-Brigaden Suqour al-Sham und die Fraktionen der türkischen MİT-Proxys, wie etwa die misogynen Mörder der Ahrar al-Sharqiya. Der berüchtigte Warlord Abu Amsha, der in der Region Afrîn eine lukrative Raubökonomie etabliert hat und durch das US-amerikanische Finanzministerium sanktioniert ist, wurde zum Kommandeur der Hama-Brigade ernannt. Abu Amsha ist vertraut mit Devlet Bahçeli, dem türkischen Rudelführer der Grauen Wölfe. Noch ist die Vereinigung nur förmlich. Die rivalisierenden Warlords werden den Preis dafür kennen, ihre territoriale Geltung und damit ihre mafiotischen Privilegien aufzugeben.
In die nationale Armee wird nunmehr auch die Ansar al-Islam integriert, jene jüngste Generation an kurdischen Taliban. Und auch die Islamische Partei Turkestans, die transnationale Brigade al-Muhajirin wal-Ansar mit ihren Veteranen des Kaukasus-Emirats und Ansar al-Tawhid haben ihre Integration in die nationale Armee bekannt gemacht. Ansar al-Tawhid ist eine Restauration der Jund al-Aqsa, die in jenen Tagen, als der heutige Justizminister noch ehebrechende Frauen hinrichtete, in dunkler Schrift auf den Fassaden von Mädchenschulen verkündete: »Mädchen, kleidet euch mit dem Niqab oder wir schneiden eure Hälse durch«.
Am Folgetag der Ernennung von Ahmed al-Sharaa zum Präsidenten Syriens empfing dieser den Emir von Katar in Damaskus. Das Triumvirat aus den Veteranen der al-Nusrah, Hassan al-Shaybani, Anas Khattab und Generalmajor Murhaf Abu Qasra, war am 15. November nach Ankara gereist. Am 26. Januar sprach der MİT-Direktor İbrahim Kalın in Damaskus mit al-Sharaa; am 28. Januar traf eine hochrangige russische Delegation in Damaskus ein. Nach dem saudischen Riyadh wird al-Sharaa in diesen Tagen in Ankara empfangen. Die Diplomatie der Konterrevolution ist rastlos. Seit 1991 hat keine andere Militärdiktatur wenige Tage nach der Staatsübernahme so viel Anerkennung zugesprochen bekommen wie jene der Tahrir al-Sham. Abdullah al-Muhaysini hohnlächelt indessen nicht mehr an der Seite Halbwüchsiger, denen er zuvor noch paradiesische Belohnungen aus schwarzäugigen Jungfrauen für den suizidalen Tod an der Front versprach. In diesen Tagen grinst der Salafiyya-Geistliche an der Seite von Maher Khalil al-Hasan, dem Minister für das Ressort Binnenmarkt, und wirbt für saudische Investitionen in Syrien.
Eine demokratische Föderation in Nord- und Ostsyrien, die Hevrîn Xelef vor ihrem Tod repräsentierte und die der türkischen Aggression nach wie vor standhält, sowie ein freier Iran wären die Antipoden zu dieser permanenten Konterrevolution. Die Autonome Administration hält weiterhin circa 30 Prozent des syrischen Territoriums. Ihre Militärkoalition befreite nicht nur die Region vom Islamischen Staat, sie bewährte sich auch als Barriere gegen das khomeinistische Regime. Während die Parteinahme für den 7. Oktober und somit auch für die rivalisierenden Achsen der Konterrevolution an US-amerikanischen und europäischen Universitäten weiterhin als fashionable gilt, wird Israel unter den demokratischen Föderalisten im Nordosten Syriens und den relevanten Fraktionen der iranischen Opposition – Monarchisten, Republikaner, die Parteien aus Rojhilatê Kurdistanê, die jüngeren Generationen im Iran selbst – als natürlicher Alliierter ausgemacht. Die Ko-Vorsitzende des Exekutivorgans der Autonomen Administration, Îlham Ehmed, äußerte jüngst im Gespräch mit dem israelischen Analysten Jonathan Spyer, der seit 2012 den Nordosten Syriens bereist, dass es ohne die Akzeptanz von Israels Existenz keinen Ausweg aus der Krise geben wird.
Hayʼat Tahrir al-Sham hat den despotischen Staat nicht revolutionär zerschlagen. Die Männer um al-Julani haben sich vielmehr, wie bei einem Coup d’État, die Institutionen des Ancien Régime einverleibt und diese wieder in ihrer despotischen Durchschlagskraft potenziert. Wie Karim Franceschi, Kommandeur der Internationalen Brigaden bei der Befreiung von Raqqa, nach der Übernahme der syrischen Ministerien pointierte, ist das in der jüngeren Vergangenheit der Region alles andere als präzedenzlos: Auch der Islamische Staat im Irak war eine ebenso spektakuläre wie dämonische Spiegelung jener Despotie, die er zu beerben bemühte. Nicht von ungefähr waren hochrangige Kader Saddam Husseins bis in die höchsten Kommandostrukturen des Islamischen Staates vorgedrungen. Entgegen vieler Mythen, die um den Islamischen Staat ranken, war die genozidale Organisation in ihrem Fundament nicht multinational, ihre zentralen Figuren waren vor allem Iraker. Als al-Julani noch ein Kader der irakischen al-Qaida war, habe er mit Fadel Ahmed Abdullah al-Hiyali über die Ausweitung des Islamischen Staates auf Syrien beraten. Al-Hiyali galt als Schattenmann von al-Abu Bakr Baghdadi; unter Saddam Hussein hatte al-Hiyali Karriere im militärischen Sicherheitsdienst gemacht. Al-Hiyali überzeugte al-Baghdadi, der in der Folge al-Julani, der bis dahin eine hohe Funktion für den Islamischen Staat in der Provinz Nineveh einnahm, nach Syrien entsandte. Noch vor 2011 verfolgte die irakische al-Qaida eine Strategie des Aushungerns der ezidischen Dörfer in der Sinjar-Region. Am 14. August 2007 wurde in der ezidischen Gemeinde von Til Ezer ein Lastzug zur Detonation gebracht. Die rurale Gemeinde hatte den Lastzug in der bloßen Hoffnung erwartet, er durchbreche das Embargo. Weitere VBIEDs folgten in der Gemeinde von Siba Sheikh Khidir. 796 Eziden wurden allein an diesem Tag ermordet.
Anders als auf der irakischen Hizb al-Baʿth prangte auf dem syrischen Regime das Stigma, ein Feind der Ahl as-Sunnah zu sein. Wurde der dynastische Staat auch mit aller Inbrunst als ein Regime der häretischen »Nusairier« verächtlich gemacht, sollte daran erinnert werden, dass es vor der bewussten Eskalation des innerislamischen Schismas durch das khomeinistische Regime und die Militanten der Ahl as-Sunnah eine überkonfessionelle Republik der Angst war. Der Sunnit Farouk al-Sharaa etwa war nicht nur einer der hochrangigsten Beamten der syrischen Hizb al-Baʿth, der Cousin von Ahmed al-Sharaa war zwischen 1984 und 2006 auch Minister für auswärtige Affären und bis 2014 Vizepräsident Syriens. Die Verachtung der Geistlichen der Ahl as-Sunnah für die »Nusairier« ist dabei kein jüngeres Phänomen, das unter dem dynastischen Regime überhaupt erst aufgekommen ist. Ibn Taymiyya (1263 – 1328), der als einer der geistigen Architekten der Salafiyya gilt, und sein Fatwa über die Alawiten als schändlichere Ungläubige als Christen und Juden wurden zu Beginn der syrischen Katastrophe unter anderem vom berüchtigten Muslimbruder Yusuf al-Qaradawi referenziert. Diese tradierte Verachtung zwang Hafez al-Assad zunächst zur Selbstverleugnung, bevor das khomeinistische Regime in den 1980er Jahren begann, in die Vereinnahmung der Alawiten zu investieren.
Das Stigma der Staatsbestie, ein Feind der Ahl as-Sunnah zu sein, verschwand am 8. Dezember von einem Tag auf den anderen, doch die Instrumente der Despotie überdauern. Wie im Irak wird sich das Staatschamäleon der Hayʼat Tahrir al-Sham spätestens in der Aggression gegen die abtrünnigen Kurden zu seinem bestialischen Charakter bekennen.
(1) Al-Awda war zunächst Kommandeur einer Brigade, die mit der Freien Syrischen Armee assoziiert war. Während des südsyrischen »Versöhnungsprozesses« im Jahr 2018 machten ihn die Russen zum Kommandeur der 8. Brigade des 5. Korps, einer russischen Schattenarmee innerhalb der Baʿth-Armee. Als in Folge der israelischen Militärkampagne gegen die Hezbollah und der Tötung von Hassan Nasrallah am 27. September auch eine Lähmung des Baʿth-Staates eintrat, wandte sich al-Awda wieder gegen das ruinöse Regime. Einige der wendischen Warlords aus dem Süden Syriens gelten als zentrale Figuren im lukrativen Captagon-Business. Im narkoterroristischen Spinnengewebe Südsyriens sind ihnen das khomeinistische Regime und die Hezbollah verhasste Rivalen und Partner in Crime zugleich. Und doch waren es Männer aus dem Süden, die am 7. Dezember als Erstes in Damaskus eintrafen, nicht die Tahrir al-Sham.