Mittwoch, 30. Oktober 2019

Flugschrift: Solidarität mit der irakischen Jugend gegen die Despotie der Shia-Milizen!


Ein junger Mann fragt die ihm Umstehenden:

Folgt ihr Asa'ib Ahl al-Haq (khomeinistische Shia-Miliz)?“
Die Umstehenden antworten:
Nein!“

Folgt ihr Muqtada al-Sadr (national-populistischer Shia-Kleriker und Milizführer)?
Nein!“

Folgt ihr den al-Hashd ash-Shaʿbi (Dachorganisation aller Shia-Milizen, auch rivalisierender wie die der Sadristen)?
Nein!“

Wer seid ihr dann?“
Iraker!“


Nach dem gnadenlosen Konter der mit dem khomeinistischen Iran assoziierten Shia-Milizen schien im Irak die Grabesruhe wieder gewahrt zu sein. Doch die irakischen Sozialrevolutionäre ruhten nicht. Unter Slogans wie: „Mit dem Kniefall vor den Mächtigen erhaltet ihr kein Brot“, riefen sie zum Generalstreik am 25. Oktober auf. Die Proteste wurden gewaltig: In Samawah im Gouvernement Muthanna wurde die Repräsentanz des Klerikers Ammar al-Hakim und seiner Partei der „Nationalen Weisheit“ niedergebrannt. Ammar al-Hakim gehört zu einer der mächtigsten Familien des schiitischen Klerus, er selbst war Vorsitzender des „Obersten Islamischen Rates im Irak“. Auch die Repräsentanz der erzkonservativen „Partei der Tugend“ von Mohammad Yaqoobi, der als einer der ranghöchsten Kleriker der irakischen Shia als „absolute Instanz der Nachahmung“ zu gelten hätte, traf der Zorn der Protestierenden. Selbst übergroße Banner mit dem Antlitz des verstorbenen Ayatollahs Mohammad Baqir al-Hakim, Gründer des „Obersten Islamischen Rates im Irak“, wurden unter der Freude der Umstehenden heruntergerissen.


Am verhasstesten sind den Protestierenden die mit dem khomeinistischen Iran assoziierten Shia-Milizen, die die gnadenlose Niederschlagung der Hungerrevolte verfolgen, während die regulären interkonfessionellen Armeeverbände nicht selten zwischen die Fronten geraten und nicht wenige der Soldaten mit den Protestierenden fraternisieren. Im südirakischen Nasiriyah wird die Repräsentanz der khomeinistischen Kata'ib Hezbollah niedergebrannt, genauso wie die der berüchtigten Shia-Milizen des Badr Korps, der Khorasani Brigade sowie der Asa'ib Ahl al-Haq von Qais al-Khazali, einer der zentralen Figuren der sektiererischen Gewalt der vergangenen Jahre. Einer der populärsten Slogans der Protestierenden ist „Heraus mit dem Iran, Baghdad wird frei sein“. Jene, die für ihre Korruption und ihr sektiererisches Unwesen kritisiert werden, kontern die Proteste mit entfesselter Gewalt: über 50 Tote an einem einzigen Tag.


Als Vorsitzender der Dachorganisation der Shia-Milizen macht Falih al-Fayadh aus seinem Herzen keine Mördergrube: „Wir werden uns rächen. Wir können niemanden dulden, der sich gegen den Irak verschwört.“ Die Drohungen werden ausgesprochen von einem Mann, der zum engsten Beraterstab des mächtigen „Nationalen Sicherheitsrates“ gehört. Die politische Shia, ihre Milizen und Förderer, also der khomeinistische Iran, haben zentrale Institutionen der „inneren Sicherheit“ des Iraks längst infiltriert. So habe etwa die Miliz Asa'ib Ahl al-Haq in Kooperation mit dem „Nationalen Sicherheitsrat“ den iranischen Dissidenten und Gründer des Telegram-Kanals „Amad News“, Ruhollah Zam, im Irak entführt und ihn an den khomeinistischen Iran ausgehändigt. Wahrlich existiert nirgends ein Protest der Massen, in dessen Schatten sich nicht auch die Rivalitäten konkurrierender Fraktionen im Staat äußern: im Irak ist es etwa die Revierfehde des sozialfaschistischen Klerikers Muqtada al-Sadr und seiner „Friedensbrigade“ – ursprünglich die berüchtigte Mahdi Armee – mit anderen Shia-Milizen. Darauf ist aber nur ein Bruchteil des Konfliktes herunterzubrechen.


Das Regime des Sunniten Saddam Hussein war unter seiner panarabischen Fassade ein konfessionalistisches. Der sektiererische Furor eskalierte im Irak indes nach dem Ende der Despotie der Hizb al-Ba'ath: die Kader der politischen Shia infiltrierten die Staatsapparate und vor allem die Repressionsorgane, die alsdann Todesschwadronen ähnelten; die irakische al-Qaida und später der „Islamische Staat“ rächten die Sunniten mit suizidalen Massakern und genozidalen Feldzügen. Heute ist es der schiitische Süden selbst, der sich gegen die Despotie der Shia-Milizen erhebt, während in Baghdad konfessionsübergreifend und Seite an Seite gegen die Verelendung als Folge einer perpetuierten Krise protestiert wird. Die Emanzipation der schiitischen Jugend vom Milizunwesen und der Shia-Variante eines „Islamischen Staates“ – der Titel einer frühen Schrift von Ruhollah Khomeini, die aus seinen Vorlesungen im irakischen Najaf besteht – ist eine direkte Bedrohung für die Islamische Republik Iran. Die zentralen Koordinaten der regionalen Expansionsstrategie des „schiitischen Halbmondes“ liegen im Irak und dem Libanon. Der Führer des mit dem khomeinistischen Iran assoziierten Badr Korps, Hadi Al-Amiri, spricht panisch von einer verschwörerischen „Aufwiegelung“ der Massen durch US-Amerikaner und Israelis.


Indessen protestieren auch Libanesen seit Tagen etwa in Beirut, Sidon oder Baalbek, wo seit jeher die Hezbollah herrscht, gegen Korruption und die Altherren konfessioneller Milizen und mafiotischer Clans. In Tripolis, eine Bastion des sunnitischen Hariri-Clans, werden Porträts des Ministerpräsidenten Saad Hariri heruntergerissen. Im südlibanesischen Nabatiyeh, wo vor allem Schiiten heimisch sind, demolieren Protestierende die Repräsentanz des Hezbollah-Veteranen Mohammed Raad. Parteigänger der Hezbollah sowie der Amal-Miliz drängten zunächst auf die Straße, um die Proteste mit ihrem antiisraelischen Furor zu infiltrieren oder um sie mit organisierten Provokationen in zermürbende Handgemenge zu nötigen. Auf ihre Präsenz folgten jedoch beständig körperliche Konfrontationen; auf ihr Gebrüll „Nasrallah ist ehrenwerter als sie alle“ folgte der Konter: „Alle von ihnen meint alle – Nasrallah ist einer von ihnen“. Währenddessen sprach Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hezbollah, als Suppenküchenpolitiker von begrüßenswerten Sozialreformen und raunte als faschistischer Agitator von verschwörerischen Dunkelmännern, die Chaos schüren.

Im Vergleich zum Irak ist der Fokus der Proteste noch verschwommen. Doch im Libanon wie im Irak ist es vor allem auch die aggressive Ermächtigung der Staatsapparate durch konfessionelle Rackets, die in das Zentrum der Kritik gerät. So fordern junge Liebespärchen etwa, die das Unglück traf, in verschiedene Konfessionen hineingeboren zu sein, die Zivilehe: „Wir wollen im Libanon heiraten, nicht auf Zypern“. Im libanesischen System der konfessionellen Parität haben Parteien der christlichen und muslimischen Konfessionen den Staat unter sich aufgeteilt. Ihre Macht gründet auch in der Exklusivität religiöser Trauung.

Am 13. Protesttag in Folge griff in Beirut eine Anrottung hunderter Hezbollah-Thugs und Parteigänger der Amal-Miliz unter dem Gebrüll „Allah, Nasrallah & Dahieh“* die Protestierenden an. Sie stürmte die Protestzelte, in denen tagelang gekocht und verpflegt wurde, verbrannte sie und schlug mit Metallstangen um sich. Kein Zweifel mehr, dass die Hezbollah im Libanon nicht nur „Staat im Staate“ ist, sie ist auch die organisierte Konterrevolution im Wartestand. Während im Beirut die Protestzelte wieder stehen, bleiben in Baghdad unzählige junge Männer und Frauen trotz einer verhängten Sperrstunde auf der Straße, tanzen, singen und inhalieren den Dampf ihrer Wasserpfeifen. Es ist nicht nur eine Hungerrevolte: In Baghdad befreit sich die Jugend auch von den tugendterroristischen Zwängen eines Regimes, das in den vergangenen Jahren Festivals und säkulare Festlichkeiten mehr und mehr verunmöglicht hat. Beeindruckend auch die Solidarität unter den Protestierenden und die Logistik auf der Straße: mobile Küchen oder etwa auch improvisierte Friseursalons ermöglichen es, tagelang auf den strategisch zentralen Plätzen auszuharren.

Alle Fotografien von Ziyad Matti (Baghdad, 25. - 29. Oktober)

Solidarität mit der irakischen Jugend gegen die Despotie der Shia-Milizen!


* Die Hezbollahis der ersten Stunde – unter ihnen auch Hassan Nasrallah – spalteten sich ursprünglich von der sozialfaschistischen Shia-Bewegung Amal ab. Unter dem Kommando der berüchtigten „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“, die Ruhollah Khomeini in das libanesische Baalbek abordnete, reorganisierten sie sich als „Partei Allahs“, die Hezbollah, die heute weitaus mächtiger ist als die ursprüngliche Amal-Bewegung. Dahieh ist ein Banlieue, in der südlichen Peripherie von Beirut, hier herrscht die Hezbollah. 

Keine Kommentare: