Hevrîn Xelef
war am 12. Oktober auf dem Weg von Qamishlo nach Manbij, als sie auf
dem M4-Highway von einer Todesschwadron der berüchtigten Miliz Ahrar
al-Sharqiyah überrascht wurde. Die Milizionäre zerrten sie auf die
Straße und richteten sie und ihre Entourage unter dem Gebrüll
„Allahu Akbar“ hin. Die Bilder ihrer geschändeten Leiche
kursieren seither als Snuff-Film. Wenige Stunden nach der Hinrichtung
jubelte Yeni Şafak, eines der aggressivsten türkischen
Propagandagazetten, triumphierend über eine „erfolgreiche
Operation“, bei der die „Terroristin“ Hevrîn Xelef
„neutralisiert“ wurde.
Die
Feministin Hevrîn Xelef war bis zu ihrem Tode Generalsekretärin der
syrischen Partei Hizbul Suri Müstakbel, die im März 2018 im vom
„Islamischen Staat“ befreiten Rakka gegründet wurde, um die Idee
eines säkularen und nicht-ethnizistischen Syrien zu vertreten. Der
Parteivorsitzende ist mit Ibrahim al-Qaftan ein Veteran der syrischen
Revolte gegen das al-Ba'ath-Regime. Er stand dem Revolutionsrat der
im Jahr 2012 vom Regime befreiten Stadt Manbij vor, verließ diesen
jedoch wenig später aufgrund der Korruption innerhalb der
sunnitischen Opposition.
Hevrîn
Xelef, ermordet am 13. Oktober 2019
Wie in Afrin
sind an der Spitze der türkischen Aggression auch in diesen Tagen
die islamistischen Warlords der syrischen Katastrophe. Die Miliz
Ahrar al-Sharqiyah, die umtriebig von den Frontverläufen der
türkischen Militärkampagnen twittert, wurde im Jahr 2016 unter
Beteiligung von Abu Mariyyah al-Qahtani, einem Veteran der irakischen
al-Qaida, gegründet und rekrutierte in der Vergangenheit vor allem
aus dem Gouvernement Deir ez-Zor geflüchtete Soldaten des
gescheiterten Kalifats. Wie zuvor in Afrin ist die Miliz eines der
umtriebigsten Frontkommandos der jüngsten türkischen Aggression.
Aus ihren Reihen und denen der Sultan Murad Brigade – sie gilt seit
längerem als präferierte Guerilla des MİT, dem türkischen Secret
Service – war in den vergangenen Tagen der Slogan „baqiya“ zu
hören, die Kurzform für „al-Dawla al-Islamiya baqiya“, was
nichts anderes heißt als: „der Islamische Staat bleibt“. Nicht
von ungefähr spricht Erdoğan von seiner Militärkoalition als
„Armee des Propheten Mohammed“.
Der Mord an
Hevrîn Xelef demonstriert, dass die Türkei in Nordsyrien nicht
etwaige „legitime Sicherheitsinteressen“
(Nordatlantikpakt-Generalsekretär J. Stoltenberg) verfolgt. Die
Türkei rächt sich dafür, dass sich in Nordsyrien trotz des
verheerenden Erbes des „Islamischen Staates“ und des
al-Ba'ath-Regimes und trotz der türkischen Totalisolation sich ein
Gemeinwesen etabliert hat, in dem nicht Gangrivalitäten und die
Entführungsmafia herrschen wie unter türkischer Okkupation. Die
Föderation Nordsyrien wird nicht gehasst, weil sie etwa identisch
ist mit „dem Berg“, eine gängige türkische Metapher für die
PKK. Sie wird gehasst, weil sie durch ihre bloße Existenz die
neo-osmanische Großraumpolitik tagtäglich provoziert. Von Beginn an
kritisierten die Föderalisten die Vereinnahmung der sunnitischen
Opposition durch die Türkei und Qatar. Und von Beginn an vermieden
sie jede militärische Konfrontation, die nicht der Verteidigung des
Erreichten oder der Befreiung vom Kalifat diente. Das
Arabisierungsregime der al-Ba'ath hat jahrzehntelang Hass gesät,
doch die Föderalisten haben ihn nicht geerntet. Sie konterten den
arabischen Nationalchauvinismus, der sich in Entrechtung, Verfolgung
und Folter tagtäglich konkretisierte, nicht durch eine
nationalistische Gegenmobilisierung.
Die dezidiert
säkulare Föderation Nordsyrien blockiert die türkische
Großraumexpansion – und sie provoziert Neid und Rachegelüste.
Während die Föderation – weit über die Parteigänger von
Abdullah Öcalan und Murray Bookchin hinaus – für Kurden, Araber,
assyrische und armenische Christen ein Versprechen auf bessere Tage
ist, herrschen in jenen Teilen Syriens, in denen die Türkei
ausgiebig investiert hat, eine misogyne Apartheid zwischen Frauen und
Männern, brutale Gangrivalitäten, eine absurde Türkifizierung oder
längst wieder das bleierne Regime aus al-Ba'ath, Hezbollah und
russischer Militärpolizei.
Die
imperialen Ambitionen der Türkei sind wahrlich kein Ausdruck innerer
Stärke. Der Staat der Muslimbrüder realisiert vielmehr einzig noch
Einheit in der Aggression gegen ein Drittes. Die Paranoia von der
Teilung des Vaterlandes ist ein zentrales Moment türkischer
Ideologie über sonstige Gesinnung hinweg; sie entspricht dem Zwang
zur nationalen Homogenität in Ansehung der Krisenhaftigkeit der
eigenen Staatlichkeit. Zugleich nährt sie sich von der Leugnung des
Genozids an den anatolischen Armeniern als konstitutives Moment der
Staatsgründung; Kehrseite der kollektiven Verdrängung sind
permanente Selbstviktimisierung und pathische Projektion. Die Kurden,
sobald sie sich der Staatsloyalität nicht hingeben, sind den
Muslimbrüdern „Zoroastrier“, „Feueranbeter“ und „Atheisten“;
den laizistischen Nationalchauvinisten sind sie archaische
Untermenschen, willfährige Instrumente imperialistischer Intrigen.
So überrascht es nicht, dass im Gleichklang der Prediger „Cübbeli“
Ahmet Hoca, jahrelang eine Spottfigur der Laizisten, von Allah eine
„Armee von Engeln“ herabgesandt sieht, die der türkischen Armee
gegen kurdische „Atheisten“ beikommt, die „Judendiener“ und
zugleich eine tödliche „armenische Saat“ seien, und mit Beyazıt
Karataş, ein pensionierter General und Stratege der
strenglaizistischen Vatan Partisi droht, dass die türkische Armee 30
Kilometer in das nordsyrische Territorium vorrücken und alle
„Schachfiguren“ der US-Amerikaner eliminieren wird. Im
aggressiven Wahn sind sie eins. Einer der wenigen Antimilitaristen
innerhalb der etablierten Parteien, Sezgin Tanrıkulu von der
Cumhuriyet Halk Partisi, wird von der türkischen Rachejustiz
verfolgt.
Es bedarf in
diesen Tagen keine weiteren geostrategischen Analysen. Die
Verantwortlichen in Nordsyrien haben alles gesagt. Vom Militärrat
der christlichen Assyrer-Aramäer in Syrien, Mawtbo Fulhoyo Suryoyo
(MFS), zum Kommandeur der Hêzên Sûriya Demokratîk (HSD/SDF),
Mazlum Kobanê: sie alle bedauern Donald Trumps fatale Entscheidung
des withdrawal als Geschenk an die russischen, iranischen und
türkischen Großmeister der Rackets.
The world
first heard of us, the Syrian Democratic Forces (SDF), amid the chaos
of our country’s civil war. I serve as our commander in chief. The
SDF has 70,000 soldiers who have fought against jihadi extremism,
ethnic hatred, and the oppression of women since 2015. They have
become a very disciplined, professional fighting force. They never
fired a single bullet toward Turkey.
We lost
11,000 soldiers, some of our best fighters and commanders, to rescue
our people from this grave danger. The forces that I command are now
dedicated to protecting one-third of Syria against an invasion by
Turkey and its jihadi mercenaries. The area of Syria we defend has
been a safe refuge for people who survived genocides and ethnic
cleansings committed by Turkey against the Kurds, Syriacs, Assyrians,
and Armenians during the last two centuries. We are now standing with
our chests bare to face the Turkish knives.
Mazlum
Kobanê, Kommandeur der SDF, am 13.10. 2019 in einem Gastbeitrag für
Foreign Policy
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