Dienstag, 15. Oktober 2019

Flugschrift in Gedenken an Hevrîn Xelef: Kein weiterer Meter der türkischen Aggression!



Hevrîn Xelef war am 12. Oktober auf dem Weg von Qamishlo nach Manbij, als sie auf dem M4-Highway von einer Todesschwadron der berüchtigten Miliz Ahrar al-Sharqiyah überrascht wurde. Die Milizionäre zerrten sie auf die Straße und richteten sie und ihre Entourage unter dem Gebrüll „Allahu Akbar“ hin. Die Bilder ihrer geschändeten Leiche kursieren seither als Snuff-Film. Wenige Stunden nach der Hinrichtung jubelte Yeni Şafak, eines der aggressivsten türkischen Propagandagazetten, triumphierend über eine „erfolgreiche Operation“, bei der die „Terroristin“ Hevrîn Xelef „neutralisiert“ wurde.

Die Feministin Hevrîn Xelef war bis zu ihrem Tode Generalsekretärin der syrischen Partei Hizbul Suri Müstakbel, die im März 2018 im vom „Islamischen Staat“ befreiten Rakka gegründet wurde, um die Idee eines säkularen und nicht-ethnizistischen Syrien zu vertreten. Der Parteivorsitzende ist mit Ibrahim al-Qaftan ein Veteran der syrischen Revolte gegen das al-Ba'ath-Regime. Er stand dem Revolutionsrat der im Jahr 2012 vom Regime befreiten Stadt Manbij vor, verließ diesen jedoch wenig später aufgrund der Korruption innerhalb der sunnitischen Opposition.

Hevrîn Xelef, ermordet am 13. Oktober 2019 

Wie in Afrin sind an der Spitze der türkischen Aggression auch in diesen Tagen die islamistischen Warlords der syrischen Katastrophe. Die Miliz Ahrar al-Sharqiyah, die umtriebig von den Frontverläufen der türkischen Militärkampagnen twittert, wurde im Jahr 2016 unter Beteiligung von Abu Mariyyah al-Qahtani, einem Veteran der irakischen al-Qaida, gegründet und rekrutierte in der Vergangenheit vor allem aus dem Gouvernement Deir ez-Zor geflüchtete Soldaten des gescheiterten Kalifats. Wie zuvor in Afrin ist die Miliz eines der umtriebigsten Frontkommandos der jüngsten türkischen Aggression. Aus ihren Reihen und denen der Sultan Murad Brigade – sie gilt seit längerem als präferierte Guerilla des MİT, dem türkischen Secret Service – war in den vergangenen Tagen der Slogan „baqiya“ zu hören, die Kurzform für „al-Dawla al-Islamiya baqiya“, was nichts anderes heißt als: „der Islamische Staat bleibt“. Nicht von ungefähr spricht Erdoğan von seiner Militärkoalition als „Armee des Propheten Mohammed“.

Der Mord an Hevrîn Xelef demonstriert, dass die Türkei in Nordsyrien nicht etwaige „legitime Sicherheitsinteressen“ (Nordatlantikpakt-Generalsekretär J. Stoltenberg) verfolgt. Die Türkei rächt sich dafür, dass sich in Nordsyrien trotz des verheerenden Erbes des „Islamischen Staates“ und des al-Ba'ath-Regimes und trotz der türkischen Totalisolation sich ein Gemeinwesen etabliert hat, in dem nicht Gangrivalitäten und die Entführungsmafia herrschen wie unter türkischer Okkupation. Die Föderation Nordsyrien wird nicht gehasst, weil sie etwa identisch ist mit „dem Berg“, eine gängige türkische Metapher für die PKK. Sie wird gehasst, weil sie durch ihre bloße Existenz die neo-osmanische Großraumpolitik tagtäglich provoziert. Von Beginn an kritisierten die Föderalisten die Vereinnahmung der sunnitischen Opposition durch die Türkei und Qatar. Und von Beginn an vermieden sie jede militärische Konfrontation, die nicht der Verteidigung des Erreichten oder der Befreiung vom Kalifat diente. Das Arabisierungsregime der al-Ba'ath hat jahrzehntelang Hass gesät, doch die Föderalisten haben ihn nicht geerntet. Sie konterten den arabischen Nationalchauvinismus, der sich in Entrechtung, Verfolgung und Folter tagtäglich konkretisierte, nicht durch eine nationalistische Gegenmobilisierung.

Die dezidiert säkulare Föderation Nordsyrien blockiert die türkische Großraumexpansion – und sie provoziert Neid und Rachegelüste. Während die Föderation – weit über die Parteigänger von Abdullah Öcalan und Murray Bookchin hinaus – für Kurden, Araber, assyrische und armenische Christen ein Versprechen auf bessere Tage ist, herrschen in jenen Teilen Syriens, in denen die Türkei ausgiebig investiert hat, eine misogyne Apartheid zwischen Frauen und Männern, brutale Gangrivalitäten, eine absurde Türkifizierung oder längst wieder das bleierne Regime aus al-Ba'ath, Hezbollah und russischer Militärpolizei.

Die imperialen Ambitionen der Türkei sind wahrlich kein Ausdruck innerer Stärke. Der Staat der Muslimbrüder realisiert vielmehr einzig noch Einheit in der Aggression gegen ein Drittes. Die Paranoia von der Teilung des Vaterlandes ist ein zentrales Moment türkischer Ideologie über sonstige Gesinnung hinweg; sie entspricht dem Zwang zur nationalen Homogenität in Ansehung der Krisenhaftigkeit der eigenen Staatlichkeit. Zugleich nährt sie sich von der Leugnung des Genozids an den anatolischen Armeniern als konstitutives Moment der Staatsgründung; Kehrseite der kollektiven Verdrängung sind permanente Selbstviktimisierung und pathische Projektion. Die Kurden, sobald sie sich der Staatsloyalität nicht hingeben, sind den Muslimbrüdern „Zoroastrier“, „Feueranbeter“ und „Atheisten“; den laizistischen Nationalchauvinisten sind sie archaische Untermenschen, willfährige Instrumente imperialistischer Intrigen. So überrascht es nicht, dass im Gleichklang der Prediger „Cübbeli“ Ahmet Hoca, jahrelang eine Spottfigur der Laizisten, von Allah eine „Armee von Engeln“ herabgesandt sieht, die der türkischen Armee gegen kurdische „Atheisten“ beikommt, die „Judendiener“ und zugleich eine tödliche „armenische Saat“ seien, und mit Beyazıt Karataş, ein pensionierter General und Stratege der strenglaizistischen Vatan Partisi droht, dass die türkische Armee 30 Kilometer in das nordsyrische Territorium vorrücken und alle „Schachfiguren“ der US-Amerikaner eliminieren wird. Im aggressiven Wahn sind sie eins. Einer der wenigen Antimilitaristen innerhalb der etablierten Parteien, Sezgin Tanrıkulu von der Cumhuriyet Halk Partisi, wird von der türkischen Rachejustiz verfolgt.

Es bedarf in diesen Tagen keine weiteren geostrategischen Analysen. Die Verantwortlichen in Nordsyrien haben alles gesagt. Vom Militärrat der christlichen Assyrer-Aramäer in Syrien, Mawtbo Fulhoyo Suryoyo (MFS), zum Kommandeur der Hêzên Sûriya Demokratîk (HSD/SDF), Mazlum Kobanê: sie alle bedauern Donald Trumps fatale Entscheidung des withdrawal als Geschenk an die russischen, iranischen und türkischen Großmeister der Rackets. 

The world first heard of us, the Syrian Democratic Forces (SDF), amid the chaos of our country’s civil war. I serve as our commander in chief. The SDF has 70,000 soldiers who have fought against jihadi extremism, ethnic hatred, and the oppression of women since 2015. They have become a very disciplined, professional fighting force. They never fired a single bullet toward Turkey.

We lost 11,000 soldiers, some of our best fighters and commanders, to rescue our people from this grave danger. The forces that I command are now dedicated to protecting one-third of Syria against an invasion by Turkey and its jihadi mercenaries. The area of Syria we defend has been a safe refuge for people who survived genocides and ethnic cleansings committed by Turkey against the Kurds, Syriacs, Assyrians, and Armenians during the last two centuries. We are now standing with our chests bare to face the Turkish knives.
Mazlum Kobanê, Kommandeur der SDF, am 13.10. 2019 in einem Gastbeitrag für Foreign Policy


Keine Kommentare: