„Wir sind
weder Getreue von Muqtada al-Sadr noch von Ayatollah Ali al-Sistani,
wir sind
weder Sunniten noch Schiiten, wir sind Iraker!
Aus welchem
Grund tötest du uns? Mein täglicher Lohn besteht aus 8 Dollar, wir
wollen leben!“
Ein
Protestierender auf Baghdads Straßen, 3. Oktober 2019
„Der
heutige Iran besteht nicht nur aus dem Iran“, so jüngst der
ranghohe Kleriker Ahmad Alamolhoda, der die wöchentliche
Khutba-Predigt in der nordöstlichen Stadt Mashhad zu verantworten
hat. „Der Iran ist nicht beschränkt auf seine geografischen
Grenzen“, so der Agitator in traditioneller Robbe. „Die Milizen
der al-Hashd ash-Shaʿabi im Irak, die Hezbollah im Libanon, die
Ansar Allah im Jemen, die nationale Front in Syrien, der Islamische
Jihad und die Hamas in Palästina sind Iran. Sie alle sind Iran
geworden. Der Sayyid des Widerstandes (gemeint ist Hassan Nasrallah,
Führer der Hezbollah) hat erklärt, dass der Widerstand in der
Region einen Imam hat und dass dieser Imam der ehrwürdige Führer
der Islamischen Revolution im Iran (Ali Khamenei) ist“.
Der
Vorsitzende des berüchtigten Teheraner Revolutionsgerichts, Musa
Ghazanfarabadi, sprach unlängst offen aus, dass jene libanesischen
und irakischen, afghanischen und pakistanischen Shiah-Milizen der
„Achse des Widerstandes“ die Verteidigung der „Islamischen
Revolution“ im Iran übernehmen, sobald die „inneren Kräfte“
darin zu scheitern drohen. In die iranischen Krisenprovinzen
Khuzestan und Lorestan, beide in jüngerer Vergangenheit Zentren von
Straßenprotesten, sind unlängst Teile der Shiah-Milizen aus Syrien
und dem Irak eingedrungen. Die Agenda der khomeinistischen Despotie
ist die Entgrenzung ihres terroristischen Apparats und jedes Business
erleichtert es ihr, die Realisierung ihrer mörderischen
Aggressionsstrategie in Syrien und anderswo zu finanzieren.
Die Jugend im
Iran – das weiß auch der Khutba-Prediger – ist für die „Islamische Revolution“ längst verloren.
Langjährige Haftstrafen und tagtägliche Repression zögern einzig
noch die fortschreitende Erosion des khomeinistischen Staates mit der
Fratze einer Republik hinaus. Erfolgreicher rekrutierte bislang die
khomeinistische Despotie ihr Märtyrermaterial zwischen den Trümmern
der regionalen Katastrophen, an deren Fortschreiten sie wesentlich
beiträgt: in Syrien, dem Jemen oder dem Irak etwa. Die reguläre
irakische Staatsarmee etwa ist nicht viel mehr als die
überkonfessionelle Fassade des Unwesens sektiererischer Milizen
unter direkter Kontrolle der khomeinistischen Despotie – und das
längst vor der Degradierung des Generalleutnants Abdul-Wahab
al-Saadi, einem Kritiker konfessionalistischer Milizen und der
Korruption innerhalb der militärischen Verbände, wenige Tage vor
dem Ausbruch der jüngsten Massenproteste.
Es wäre
fatal verfehlt, die irakische Katastrophe einzig auf die iranische
Infiltration herunterzubrechen. Die Saat zur Konfessionalisierung
wurde noch unter Saddam Hussein ausgestreut; die Racketisierung des
Staatsapparates hat zweifelsohne parteiübergreifenden Charakter. Und
doch ist es der khomeinistische Iran, der mit seiner aggressiven
Expansionsstrategie den Irak noch tiefer in die Abgründe der Krise
reißt. Die südirakische Region um al-Basrah etwa, gelegen am
irakisch-iranischen Grenzfluss Shatt al-Arab, ist eine der
ressourcenreichsten, weit über den Irak hinaus. Doch nirgendwo
anders leben die Menschen im Irak elendiger als im dunklen Schatten
der Tiefpumpen, die aus der Erde ragen. Für das Funktionieren der
Erdölförderung sind die Massen an jungen Männern längst
überschüssiger Menschenmüll. Die Milizen dagegen werben mit den
Zutritt zu einem den Märytrertod preisenden Männerbund.
Es ist das
entscheidende revolutionäre Moment der jüngst ausgebrochenen
Massenproteste in Baghdad und den südirakischen Provinzen, dass die
Protestierenden auf der Straße die katastrophale Infiltrierung des
Iraks durch die khomeinistische Despotie mit ihrem Unwesen der
Milizen als den entscheidenden Beschleuniger von
Racketisierung und Verelendung erkannt haben und sich selbst der Vereinnahmung verweigern. Wie
bei den Protesten im vergangenen Jahr werden auch in diesen Stunden
wieder die Rekrutierungszentren der Shiah-Milizen wie Asa'ib Ahl
al-Haq oder Kata'ib Hezbollah niedergebrannt und Slogans gegen die
Einverleibung des Iraks durch die khomeinistische Despotie gerufen.
Die Protestierenden bestehen vor allem aus jenen jungen Männern, die
die Shiah-Milizen als ihr Märtyrermaterial identifiziert haben, aber
auch einige junge Frauen treten selbstbewusst bei den
Straßenprotesten auf.
Währenddessen
scheint sich inzwischen die Annahme zu bewahrheiten, dass der
iranische Generalmajor Qasem Soleimani – der die Qods-Pasdaran
befehligt, also jene staatseigene Guerilla der „Armee der Wächter
der Islamischen Revolution“, die dem Expansionsauftrag weit über
die geografischen Grenzen des Irans hinaus verpflichtet ist – als
Schattenkommandeur über die mörderische Niederschlagung der
Proteste wacht. Trotzt dieser permanenten Eskalationsstrategie –
oder gerade deswegen – bleibt der khomeinistische Iran dem
deutschen Friedhofsverwalter der Sargnagel, an dem er sich mit seinem
Fetisch von der „regionalen Stabilität“ krallt. So trafen sich
am 19. und 20. August Regimeschergen mit der deutschen Prominenz aus
Auswärtigem Amt und Finanzaufsicht im Berliner Maritim Hotel zum
„Banking und Business Forum Iran Europe“. Als einen „Akt
europäischer Souveränität“ charakterisiert unlängst das
Auswärtige Amt im Handschlag mit den französischen und britischen
Amtskollegen jenes europäische Clearingsystem Instex, das das
weitere Business mit dem Iran garantieren soll. Amtsherr Heiko Maas
gesteht durchaus ein, dass der als schicksalhaft verteidigte Vertrag
eine iranische Erpressung – Reduzierung der Urananreicherung gegen
Business – ist. Doch gerade im „kritischen Dialog“ mit der
khomeinistischen Bestie wähnen sich die Europäer als moralisch
integer, als „ehrlicher Makler“, der kultursensibel die in Blei
gegossene Grabesruhe achte, während die US-amerikanische Konkurrenz
die nächste (in Wahrheit doch längst eingetretene) Eskalation
herauf provoziere.
Auf den
Straßenprotesten im Iran selbst wurde in jüngerer Vergangenheit
wieder und wieder der militärische Abzug aus Syrien und ein Ende der
Finanzierung der libanesischen Hezbollah und der palästinensischen
Hamas gefordert. Während der wochenlangen Arbeiterproteste in der
Provinz Khuzestan riefen sie vor den Filialen der Nationalbank Melli
sowie der Saderat – die in die Finanzierung der Hezbollah, Hamas
und des Palästinensischen Islamischen Jihads involviert sind –
Slogans wie „Mutter der Korruption, hier bist du, hier bist du“,
„Sie zahlen die Löhne nicht und rufen Tod für Amerika, aber wir
wissen, unser Feind ist hier“ und „Tod der Mafia“. Im Berliner
Maritim Hotel dagegen war auch die hiesige Direktion der Bank Melli
geladen. Gegen einige der streikenden Arbeiter und ihren Freunden aus
der Provinz Khuzestan verhängten die berüchtigten
Revolutionsgerichte inzwischen langjährige Haftstrafen: Esmail
Bakhshi (14 Jahre Haft), Sepideh Qoliyan, Amirhossein Mohammadifard,
Asal Mohammad, Sanaz Allahyari, Amir Amirgholi (alle jeweils 18 Jahre
Haft) und Mohammad Khonifar (sechs Jahre Haft).
In Indonesien
protestierten vor wenigen Tagen Zehntausende gegen eine
Strafrechtsreform, die das Verbot außerehelicher Intimität diktiert
und zugleich die Ahndung von Korruption zu verunmöglichen droht. Im
Sudan erzwangen Massenproteste das Ende von Omar al-Bashir. Viele der
Frauen, die an den Straßenprotesten einen hohen Anteil hatten,
forderten ausdrücklich ein Ende der organisierten misogynen
Verfolgung. Selbst in der Beton-Diktatur in Ägypten kam es jüngst
wieder zu Protesten. Es ist längst nicht entschieden, dass die
Meister der Krise und Konterrevolution auch die nächsten Siege
davontragen werden.
Solidarität
mit den Straßenprotesten in Baghdad wie Basra:
für einen
freien und säkularen Irak!
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