Freitag, 4. Oktober 2019

Flugschrift: Aufruf zur Solidarität mit den Protestierenden im Irak



Wir sind weder Getreue von Muqtada al-Sadr noch von Ayatollah Ali al-Sistani,
wir sind weder Sunniten noch Schiiten, wir sind Iraker!
Aus welchem Grund tötest du uns? Mein täglicher Lohn besteht aus 8 Dollar, wir wollen leben!“
Ein Protestierender auf Baghdads Straßen, 3. Oktober 2019

Der heutige Iran besteht nicht nur aus dem Iran“, so jüngst der ranghohe Kleriker Ahmad Alamolhoda, der die wöchentliche Khutba-Predigt in der nordöstlichen Stadt Mashhad zu verantworten hat. „Der Iran ist nicht beschränkt auf seine geografischen Grenzen“, so der Agitator in traditioneller Robbe. „Die Milizen der al-Hashd ash-Shaʿabi im Irak, die Hezbollah im Libanon, die Ansar Allah im Jemen, die nationale Front in Syrien, der Islamische Jihad und die Hamas in Palästina sind Iran. Sie alle sind Iran geworden. Der Sayyid des Widerstandes (gemeint ist Hassan Nasrallah, Führer der Hezbollah) hat erklärt, dass der Widerstand in der Region einen Imam hat und dass dieser Imam der ehrwürdige Führer der Islamischen Revolution im Iran (Ali Khamenei) ist“.

Der Vorsitzende des berüchtigten Teheraner Revolutionsgerichts, Musa Ghazanfarabadi, sprach unlängst offen aus, dass jene libanesischen und irakischen, afghanischen und pakistanischen Shiah-Milizen der „Achse des Widerstandes“ die Verteidigung der „Islamischen Revolution“ im Iran übernehmen, sobald die „inneren Kräfte“ darin zu scheitern drohen. In die iranischen Krisenprovinzen Khuzestan und Lorestan, beide in jüngerer Vergangenheit Zentren von Straßenprotesten, sind unlängst Teile der Shiah-Milizen aus Syrien und dem Irak eingedrungen. Die Agenda der khomeinistischen Despotie ist die Entgrenzung ihres terroristischen Apparats und jedes Business erleichtert es ihr, die Realisierung ihrer mörderischen Aggressionsstrategie in Syrien und anderswo zu finanzieren.

Die Jugend im Iran – das weiß auch der Khutba-Prediger – ist für die „Islamische Revolution“ längst verloren. Langjährige Haftstrafen und tagtägliche Repression zögern einzig noch die fortschreitende Erosion des khomeinistischen Staates mit der Fratze einer Republik hinaus. Erfolgreicher rekrutierte bislang die khomeinistische Despotie ihr Märtyrermaterial zwischen den Trümmern der regionalen Katastrophen, an deren Fortschreiten sie wesentlich beiträgt: in Syrien, dem Jemen oder dem Irak etwa. Die reguläre irakische Staatsarmee etwa ist nicht viel mehr als die überkonfessionelle Fassade des Unwesens sektiererischer Milizen unter direkter Kontrolle der khomeinistischen Despotie – und das längst vor der Degradierung des Generalleutnants Abdul-Wahab al-Saadi, einem Kritiker konfessionalistischer Milizen und der Korruption innerhalb der militärischen Verbände, wenige Tage vor dem Ausbruch der jüngsten Massenproteste.

Es wäre fatal verfehlt, die irakische Katastrophe einzig auf die iranische Infiltration herunterzubrechen. Die Saat zur Konfessionalisierung wurde noch unter Saddam Hussein ausgestreut; die Racketisierung des Staatsapparates hat zweifelsohne parteiübergreifenden Charakter. Und doch ist es der khomeinistische Iran, der mit seiner aggressiven Expansionsstrategie den Irak noch tiefer in die Abgründe der Krise reißt. Die südirakische Region um al-Basrah etwa, gelegen am irakisch-iranischen Grenzfluss Shatt al-Arab, ist eine der ressourcenreichsten, weit über den Irak hinaus. Doch nirgendwo anders leben die Menschen im Irak elendiger als im dunklen Schatten der Tiefpumpen, die aus der Erde ragen. Für das Funktionieren der Erdölförderung sind die Massen an jungen Männern längst überschüssiger Menschenmüll. Die Milizen dagegen werben mit den Zutritt zu einem den Märytrertod preisenden Männerbund.

Es ist das entscheidende revolutionäre Moment der jüngst ausgebrochenen Massenproteste in Baghdad und den südirakischen Provinzen, dass die Protestierenden auf der Straße die katastrophale Infiltrierung des Iraks durch die khomeinistische Despotie mit ihrem Unwesen der Milizen als den entscheidenden Beschleuniger von Racketisierung und Verelendung erkannt haben und sich selbst der Vereinnahmung verweigern. Wie bei den Protesten im vergangenen Jahr werden auch in diesen Stunden wieder die Rekrutierungszentren der Shiah-Milizen wie Asa'ib Ahl al-Haq oder Kata'ib Hezbollah niedergebrannt und Slogans gegen die Einverleibung des Iraks durch die khomeinistische Despotie gerufen. Die Protestierenden bestehen vor allem aus jenen jungen Männern, die die Shiah-Milizen als ihr Märtyrermaterial identifiziert haben, aber auch einige junge Frauen treten selbstbewusst bei den Straßenprotesten auf.

Währenddessen scheint sich inzwischen die Annahme zu bewahrheiten, dass der iranische Generalmajor Qasem Soleimani – der die Qods-Pasdaran befehligt, also jene staatseigene Guerilla der „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“, die dem Expansionsauftrag weit über die geografischen Grenzen des Irans hinaus verpflichtet ist – als Schattenkommandeur über die mörderische Niederschlagung der Proteste wacht. Trotzt dieser permanenten Eskalationsstrategie – oder gerade deswegen – bleibt der khomeinistische Iran dem deutschen Friedhofsverwalter der Sargnagel, an dem er sich mit seinem Fetisch von der „regionalen Stabilität“ krallt. So trafen sich am 19. und 20. August Regimeschergen mit der deutschen Prominenz aus Auswärtigem Amt und Finanzaufsicht im Berliner Maritim Hotel zum „Banking und Business Forum Iran Europe“. Als einen „Akt europäischer Souveränität“ charakterisiert unlängst das Auswärtige Amt im Handschlag mit den französischen und britischen Amtskollegen jenes europäische Clearingsystem Instex, das das weitere Business mit dem Iran garantieren soll. Amtsherr Heiko Maas gesteht durchaus ein, dass der als schicksalhaft verteidigte Vertrag eine iranische Erpressung – Reduzierung der Urananreicherung gegen Business – ist. Doch gerade im „kritischen Dialog“ mit der khomeinistischen Bestie wähnen sich die Europäer als moralisch integer, als „ehrlicher Makler“, der kultursensibel die in Blei gegossene Grabesruhe achte, während die US-amerikanische Konkurrenz die nächste (in Wahrheit doch längst eingetretene) Eskalation herauf provoziere.

Auf den Straßenprotesten im Iran selbst wurde in jüngerer Vergangenheit wieder und wieder der militärische Abzug aus Syrien und ein Ende der Finanzierung der libanesischen Hezbollah und der palästinensischen Hamas gefordert. Während der wochenlangen Arbeiterproteste in der Provinz Khuzestan riefen sie vor den Filialen der Nationalbank Melli sowie der Saderat – die in die Finanzierung der Hezbollah, Hamas und des Palästinensischen Islamischen Jihads involviert sind – Slogans wie „Mutter der Korruption, hier bist du, hier bist du“, „Sie zahlen die Löhne nicht und rufen Tod für Amerika, aber wir wissen, unser Feind ist hier“ und „Tod der Mafia“. Im Berliner Maritim Hotel dagegen war auch die hiesige Direktion der Bank Melli geladen. Gegen einige der streikenden Arbeiter und ihren Freunden aus der Provinz Khuzestan verhängten die berüchtigten Revolutionsgerichte inzwischen langjährige Haftstrafen: Esmail Bakhshi (14 Jahre Haft), Sepideh Qoliyan, Amirhossein Mohammadifard, Asal Mohammad, Sanaz Allahyari, Amir Amirgholi (alle jeweils 18 Jahre Haft) und Mohammad Khonifar (sechs Jahre Haft).

In Indonesien protestierten vor wenigen Tagen Zehntausende gegen eine Strafrechtsreform, die das Verbot außerehelicher Intimität diktiert und zugleich die Ahndung von Korruption zu verunmöglichen droht. Im Sudan erzwangen Massenproteste das Ende von Omar al-Bashir. Viele der Frauen, die an den Straßenprotesten einen hohen Anteil hatten, forderten ausdrücklich ein Ende der organisierten misogynen Verfolgung. Selbst in der Beton-Diktatur in Ägypten kam es jüngst wieder zu Protesten. Es ist längst nicht entschieden, dass die Meister der Krise und Konterrevolution auch die nächsten Siege davontragen werden.

Solidarität mit den Straßenprotesten in Baghdad wie Basra:
für einen freien und säkularen Irak!

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