„Die
türkische Demokratie lebt“, atmet Europa auf – ganz so, als
hätte am 23. Juni auch die demokratische Legitimierung der
europäischen Kollaboration mit der türkischen Katastrophenpolitik
angestanden. Doch der 23. Juni ist nicht der Tag der Wiedergeburt der
viel beschworenen türkischen Demokratie. Viel mehr – und einzig
darin liegt die Hoffnung – ist der 23. Juni der Tag, an dem das
jahrelang mächtigste Instrument der Muslimbrüder Erdoğans, den
Staatsapparat zu erobern, an Wirkung verloren hat: der Schritt zur
Urne als Mobilisierung des „nationalen Willens“, als
Triumphkulisse des faschistischen Agitators.
Als Diktatur
war das Regime der AK Parti – die „reine, unbefleckte“ Partei –
von jeher unzureichend charakterisiert. Recep Tayyip Erdoğan begann
in den 1970er Jahren seine Karriere bei den Akıncılar, der
militanten Parteijugend der Millî Selamet Partisi („Nationale
Heilspartei“). Die türkischen Muslimbrüder um ihren verstorbenen
Vordenker Necmettin Erbakan dämonisierten die Modernisierung nicht
als ganzes, viel mehr beschworen sie die Untergrabung des moralischen
Fundaments von Staat und Ökonomie durch ein säkularistisches, das
Vaterland verratendes und auf die Frommen und Gläubigen verächtlich
herabblickendes Establishment. Ihre Propaganda galt einer
Industrialisierung mit islamischem Antlitz, der Verteufelung des
Zinses, einer forcierten Schwerindustrialisierung im kahlen Anatolien
und der moralischen Erbauung der entfremdeten Muslime. Sie war
durchtränkt von antisemitischen Projektionen und
Verschwörungsgelüsten.*
Die bleierne
Stille der Militärdiktatur, die im September 1980 anbrach, traf die
Muslimbrüder im Vergleich zu ihren Konkurrenten noch am wenigsten.
In den städtischen Zentren Anatoliens, vor allem in Konya und
Kayseri, etablierten sich die islamischen Holdings, das ökonomische
Rückgrat des späteren Erfolges der Muslimbrüder. Vor allem die
deutschen Moscheen der Millî Görüş fungierten als Märkte, wo das
Ersparte der Gläubigen den Holdings zugeführt wurde. Der
Familiennachzug ab den frühen 1970ern reizte die Fürsorglichkeit
der Muslimbrüder gegenüber den Emigrierten weiter an. Sie belehrten
die autoritätsgläubigen Väter und Mütter aus Anatolien über die
sündhaften Versuchungen, die ihre Kinder in der Diaspora zu
entfremden drohten, und gründeten einen eigenen
Helal-Industriezweig.
Nach einer
Korruptionsaffäre bei den Istanbulern Wasserwerken, in die der
Stadtvater Nurettin Sözen von der traditionslaizistischen
Sosyaldemokrat Halkçı Parti involviert war, gelang es im Jahr 1994
der islamischen Refah Partisi mit dem zuvor noch wenig populären
Erdoğan das urbane Moloch zu erobern. In der gewaltigen
Binnenimmigration konservativ sunnitischer Türken und Kurden, die
das dörfliche Elend nach Istanbul zwang, gründete das
Mobilisierungspotenzial der Muslimbrüder.
Nicht nur mit
dem berüchtigten Ausspruch „Minarette sind unsere Bajonette,
Kuppeln unsere Helme, Moscheen unsere Kasernen, Gläubige unsere
Soldaten“ ließ Erdoğan als Stadtvater Istanbuls kaum Zweifel an
seine Verachtung für die laizistische Republik. Den Pogrommord von
Sivas im Juli 1993 – ihre Parteimitglieder hetzten die Rotte auf –
verzieh die Republik der Refah Partisi noch großzügig – waren die
toten Aleviten doch staatsfeindlichen Umtrieben verdächtigt und die
etatistische Einfühlung in die kochende sunnitisch-türkische
Volksseele nahezu unbegrenzt. Die direkten Provokationen gegenüber
Militär und Justiz dagegen forderten eine Reaktion geradezu heraus.
Nach einer Verbotsserie der Refah Partisi und dann der Fazilet
Partisi aufgrund „antilaizistischer Bestrebungen“ durch das
türkische Verfassungsgericht gründeten Erdoğan und seine
Weggefährten die AK Parti mit der Fassade einer Volkspartei, die
ökonomische Prosperität und die Reformierung des verkrusteten
Staatsapparates versprach. Einige türkische Liberale trauten der
Fassade und sprachen ihrerseits der AK Parti ihre kritische
Solidarität aus.
Istanbuls
Beton-Mafia und ihr Patron
Angesichts
einer sie weiterhin skeptisch beäugenden Armee und Justiz, den
Garanten der alten Ordnung, blieb der Schritt an die Urne das
mächtigste Instrument der Muslimbrüder Erdoğans, das Erreichte zu
sichern und weitere Institutionen des Staates zu erobern. Die
Muslimbrüder verfügten seit 1994 ungebrochen über das Kommando
über die kommunalen Institutionen der Großstädte Istanbul und
Ankara sowie der ökonomischen Zentren Anatoliens Kayseri und Konya –
und somit auch über die städtischen Budgets. Durch arrangierte Ehen
und familiärem Klüngel etablierte sich eine eigene islamische
Bourgeoisie, die das angestammte laizistische Establishment zu
verdrängen drohte. Erdoğan älteste Tochter Esra heiratete Berat
Albayrak, dessen Vater Sadık Albayrak früher Abgeordneter für die
Refah Partisi war. Berat führte zunächst die Çalık-Holding des
aus dem östlichen Malatya stammenden Entrepreneurs Ahmet Çalık,
die unter Erdoğans Schwiegersohn die Turkuvaz Medya Grubu –
inklusive der Gazette Sabah, einer der aggressivsten Propagandaorgane
– mit einem generösen Kredit staatseigener Finanzinstitute und
einer Beteiligung des Emirats Katar übernahm. Serhat Albayrak, der
ältere Bruder von Berat, übernahm hier später die Führung. Berat
ist inzwischen türkischer Finanzminister. Die jüngste
Erdoğan-Tochter Sümeyye heiratete Selçuk Bayraktar, dessen
Familienholding Drohnen für das Militär – benannt nach
„Märtyrern“ – produziert.
In diesem
April traten Erdoğan und seine Ehegattin im Çiragan-Palast am Ufer
des Bosporus als Trauzeugen der pompösen Ehelichung der Tochter des
in Istanbul angestammten Industriellen Yildirim Demirören mit dem
Sohn von Hasan Kalyoncu auf. Der in Trabzon geborene Hasan Kolyoncu
wurde noch in den Tagen der Millî Selamet Partisi ein Muslimbruder
und Weggefährte von Necmettin Erbakan. Bis zu seinem Tode im Jahr
2007 war Kalyoncu ein honoriges Mitglied der Beton-Mafia. Das
familieneigene Kalyon Konglomerat, die etwa den neuen Istanbuler
Flughafen konstruierte, übernahm inzwischen die Turkuvaz Medya Grubu
von der Çalık Holding. Yıldırım Demirören dagegen ist ein
klassischer Repräsentant des alteingesessenen laizistischen
Establishments Istanbuls, der sein Schicksal der AK Parti anvertraut
hat. Auch ihn drängte Erdoğan dazu, sich in den Propagandamarkt
einzukaufen. Die durch drastische Steuernachforderungen geschwächte
Doğan Holding war zunächst gezwungen, die bis dahin
nationalliberale Gazette Milliyet und später die Hürriyet sowie die
türkischen Anteile an CNN Türk an die Demirören Holding
abzutreten. Erdoğan selbst verdächtigte Aydın Doğan, in eine
verschwörerische „parallele Struktur“ involviert zu sein. Die
Krawallgazette Yeni Akit überzog Doğan, der sich dem Regime
erfolglos anbiederte, mit rassistischen und antisemitischen
Gerüchten.
Ein weiterer
Clan dieses mafiotischen Regimes sind die Gebrüder um Ahmet
Albayrak, entfernte Verwandte von Erdoğans Schwiegersohn Berat. Ihr
Konglomerat verwertet die Müllmassen Istanbuls, kontrolliert den
Hafen von Trabzon, betoniert – und agitiert mit ihrer Hausgazette
Yeni Şafak das Brüllvieh. Ahmet Albayrak war früher
Bezirksvorsitzender der Refah Partisi in Fatih, während Erdoğan im
gegenüberliegenden Beyoğlu die Partei führte. Es erstaunt kaum,
dass es die Propagandaorgane dieser mit der AK Parti assoziierten
Holdings waren, die nach dem Verlust Istanbuls am 31. März Ekrem
İmamoğlu panisch als die personifizierte Intrige von „FETÖ“,
US-Amerikanern und „dem Berg“ (als krude Metapher für die PKK)
denunziert haben. Sie fürchten um ihre Pfründe.
Diese
Etablierung einer der AK Parti nahen Bourgeoisie ging einher mit
einem aggressiven Klassenhass gegen das angestammte säkularistische
Establishment und seinen antisemitischen Zerrbildern. Während der
Proteste um den Gezi Park, mit dessen Zubetonierung das Kalyon
Konglomerat vertraut werden sollte, fantasierte Erdoğan von einer
verschwörerischen „Zins Lobby“ (faiz lobisi) als Dunkelmänner
der „Plünderer“, die nach „des Volkes Schweißes“ giere: In
der Folge kursierten Boykottaufrufe gegen jene türkischen
Finanzinstitute, die mit der laizistischen Bourgeoisie identifiziert
wurden.
Istanbul ist
der AK Parti und ihrem islamomafiotischen Regime nicht gänzlich
verloren gegangen, sitzt sie doch weiterhin in mehr als der Hälfte
der Bezirksrathäuser. Zudem werden durch Gesetzesänderungen die
Zuständigkeiten von Ekrem İmamoğlu und seines Amtskollegen in
Ankara, Mansur Yavaş, drastisch eingeschränkt. Um den Agitator
Erdoğan ist es währenddessen im Moment relativ still. Er ist viel
mehr bemüht, sich angesichts der Krise der neo-osmanischen
Regionalpolitik in Libyen, Syrien und dem Sudan wieder an Donald
Trump und den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping
heranzuwanzen. Die Türkei, so Erdoğan, werde es niemanden
zugestehen, einen Keil zwischen ihr und China zu schlagen. Auch die
Uiguren in der Region Xinjiang würden, so wird der türkische
Staatspräsident in chinesischen Propagandaagenturen zitiert,
aufgrund der ökonomischen Prosperität Chinas glücklich leben. Und
doch könnte die Ernüchterung bei der AK Parti alsbald in Panik
umschlagen. Im Angesicht der ökonomischen Krise konnte die Partei
die konservative Kleinbourgeoisie, die nicht von dem kommunalen
Auftragsklüngel profitiert und unter der Verteuerung der Waren
ächzt, nicht mehr so vereinnahmen wie noch zuvor. Ekrem İmamoğlu
gewann überraschend auch in den jahrelangen Bastionen der AK Parti,
wo ein Teil der konservativen Kleinbourgeoisie heimisch ist: Fatih,
Eyüpsultan und Üsküdar. Das mächtigste Instrument der
Muslimbrüder, den Staatsapparat zu infiltrieren und ihre Macht
gegenüber rivalisierenden Fraktionen im Staat abzusichern, hat fatal
an Wirkung verloren.
Und doch
spottet es der Realität im Staat der Muslimbrüder, dass der nächste
Schritt an die Urne das Regime schlagartig zur Kapitulation zwingen
könnte. Am Folgetag des 23. Juni begann der Gerichtsprozess gegen 16
Angeklagte, die verdächtigt werden, die Proteste um den Gezi Park
provoziert und finanziert zu haben. Neben der Architektin Mücella
Yapıcı, dem exilierten Journalisten Can Dündar und dem ebenfalls
geflüchteten Theatermime Mehmet Ali Alabora ist Osman Kavala –
Mäzen der Stiftung Anadolu Kültür, die sich der
Versöhnungsfolklore widmet wie etwa ein armenisch-türkisches
Jugendorchester – einer der Angeklagten. Kavala sei der Finanzier
der „Plünderer“ gewesen, so Erdoğan, doch hinter ihm selbst
tarne sich „der berühmte ungarische Jude Soros“. „Dies ist der
Mann“, dem Staatspräsident folgend, der andere beauftrage,
„Nationen zu spalten“. Garo Paylan von der Halkların Demokratik
Partisi spricht von Kavala präzise als eine Geisel des Regimes.
Einige Tage
später begann ein weiterer Gerichtsprozess. Canan Kaftancıoğlu,
die Provinzvorsitzende der Cumhuriyet Halk Partisi in Istanbul, ist
angeklagt, in 35 Tweets den Staatspräsidenten und die Türkische
Republik beleidigt und sich der „Propaganda für eine
terroristische Organisation“ schuldig gemacht zu haben. Es drohen
ihr bis zu 17 Jahren Haft. Mit manchen der Tweets hat sie selbst das
eigene laizistische Milieu irritiert. Etwa mit ihrer Kritik an dem
Slogan „Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals“ und ihrem Gedenken
an das Katastrophenjahr 1915 – sie sprach explizit vom Genozid an
den Armeniern („ermeni soykırımı“). Die Denunziationskampagne,
die die Propagandaorgane der Holdings und der Staatspräsident
Erdoğan höchstpersönlich gegen sie führen, verfolgt vor allem
eines: die Rache und Bestrafung jener Politikerin, der nicht nur der
höchste Anteil am Sieg von Ekrem İmamoğlu in Istanbul
zugeschrieben wird. Canan Kaftancıoğlu ist das, was das Regime
zutiefst fürchtet: feministisch, nicht zu korrumpieren mit
nationalem Furor wie viele ihrer Parteigenossen und ohne
Berührungsängste zur Halkların Demokratik Partisi. Yeni Akit
denunzierte sie als „Schweinefleischsüchtige“ und „offene
Feindin des Islam“. Nachdem sie sich mit Selahattin Demirtaş
solidarisiert hatte und Fotografien von ihr mit dem inhaftierten
kurdischen Oppositionspolitiker zu kursieren begannen, häuften sich
die Drohungen: „Man wird dich dorthin bringen, wo Selo ist“.
Aufreibende
Tage für Canan Kaftancıoğlu
Über eines
sollte sich spätestens seit dem 31. März niemand mehr täuschen:
eine Opposition, die mit dem Regime der Grünen und Grauen Wölfen
nationalchauvinistisch in Konkurrenz treten möchte, wird gnadenlos
scheitern. Anders als in den Jahren zuvor besann sich zuletzt die
Republikanische Volkspartei darauf, sich dem korrupten Apparat, der
ökonomischen Krise und ihren verheerenden Folgen zu widmen. Teile
der Traditionslaizisten wie der Istanbuler Kommunalpolitiker Gürbüz
Çapan, Sezgin Tanrıkulu oder eben Canan Kaftancıoğlu
solidarisieren sich offen mit Demirtaş. Es wird für den Erfolg der
Opposition entscheidend sein, dass sie gegenüber den
Nationalchauvinisten innerhalb ihrer Partei nicht eine Minorität
bleiben.
Der Erfolg in
Istanbul war schlussendlich möglich geworden durch den Aufruf von
Selahattin Demirtaş und seiner Partei an ihre eigenen Parteigänger,
zum Erfolg von Ekrem İmamoğlu massenhaft beizutragen. Das
durchsichtige Manöver der AK Parti, kurz vor dem 23. Juni einen
Brief von Abdullah Öcalan zu veröffentlichen, in dem dieser zur
Neutralität aufgerufen hätte, verriet, dass es allen bewusst war,
dass die kurdische Diaspora in Istanbul über die ausschlaggebenden
Prozente entscheiden würde. Erdoğan sowie Devlet Bahçeli, der
Oberwolf der Milliyetçi Hareket Partisi, raunten noch über eine
bösartige Verschwörung von Demirtaş und „dem Berg“ gegen
Öcalan – während letzterer an anderen Tagen die Todesstrafe für
Öcalan fordert. Doch diese absurde Szenerie endete einzig darin,
dass die Majorität unter Istanbuls Kurden noch entschlossener für
Imamoğlu auftrat.
Die Freunde
der Halkların Demokratik Partisi trifft die Repressionsmaschinerie
am gnadenlosesten. In ihrer Abwesenheit wurde vor wenigen Tagen Helin
Öncü von einem Schwurgericht schuldig gesprochen, sich an der
„Einheit und Integrität des Staates“ versündigt zu haben.
Erschwerte lebenslange Haft für die junge Frau entschied das Gericht
in Şirnak. Wenig später wurde Helin in der westtürkischen
Grenzprovinz Edirne verhaftet. Ihre letzte Hoffnung war die riskante
Flucht über den Grenzfluss Evros. Helin harrte während der
militärischen Operationen in den abtrünnigen Distrikten im Südosten
im Winter 2016 in Cizre aus – der Schlachtruf Grauer Wölfe war in
jenen Tagen: „Wir wollen keine Militäroperation, wir wollen ein
Massaker“. Am 31. März diesen Jahres zog Helin für die HDP in den
Stadtrat von Kızıltepe ein.
Eine
verschwörerische Allianz aus HDPKK, LGBT und der Champagnerindustrie
Genauso wie
das Regime der AK Parti als Diktatur unzureichend charakterisiert
ist, ist auch das Bild einer „Islamischen Republik“ für die
Türkei fehlerhaft. Bislang nahm die AK Parti Abstand davon, das
niedergeschriebene Gebot zum laizistischen Charakter der Republik in
der türkischen Verfassung zu tilgen. Dieser symbolische
Frontalangriff auf das Erbe Mustafa Kemals würde auch einen Teil der
eigenen Parteigänger gegen sie aufbringen und die de facto Allianz
mit unterschiedlichen nationalchauvinistischen Fraktionen, wie die mit der
Vatan Partisi, aufsprengen. Die türkische Kulturindustrie geizt nach
wie vor nicht mit nackter weiblicher Haut und es wird ihr gewährt,
solange kein Zweifel an der patriotischen Gesinnung aufkommt. Erdoğan
selbst begibt sich häufig in die Nähe der Botulinumtoxin
geschwängerten Prominenz wie İbrahim Tatlıses, Ajda Pekkan und
Sibel Can, die ihm Schlachtgesänge zur Eroberung von Afrin widmen.
Auf theologischer Strenge gründet der Erfolg der Muslimbrüder
Erdoğans nicht.
Erdoğans
konservative Revolution verfolgt die stärkere Unterfütterung der
türkischen Staatsideologie mit dem Islam und den Triumph einer
„frommen Generation“ (dindar nesil) – einer im Glauben geeinten
und patriotischen Nation, verfleischlicht im Führer – über die
Kritiker seines Regimes. Um diesen Schritt für Schritt zu erzwingen,
hat etwa die Moscheebehörde Diyanet, die Händchenhalten zwischen
Verliebten als sündhaft denunziert, ein bei weitem höheres Budget
als etwa das Ministerium für Forschung, Industrie und Technologie.
Durch kommunale Budgets mitfinanzierte Stiftungen – wie die TÜRGEV,
die „Türkische Stiftung für den Dienst an der Jugend und der
Bildung“, die 1996 in Istanbul „unter der Führung seiner
Exzellenz Recep Tayyip Erdoğans“ gegründet wurde und in deren
Vorstand Sohn Bilal und Tochter Esra sitzen – kümmern sich um die
vielen jungen Menschen, die die familiäre Befürsorgung enttreten,
um anderswo zu studieren. Auf diesem Marktsegment sind auch die
fundamentalislamischen Tarikats wie die Süleymancılar präsent.
Doch der
Erfolg dieser (Re-)Islamisierungsstrategie ist bescheiden. Zum einen
fürchtet das Regime die Frommsten unter den Frommen als
Konkurrenten. Sind die Tarikat doch eine reale Parallelstruktur, die
– ganz so wie bei den Gülenisten, mit denen die AK Parti jahrelang
kollaborierte bis die Rivalität eskalierte – drohen, sich eines
Tages gegen den Staat der Muslimbrüder zu wenden. Zum anderen
provoziert der (Re-)Islamisierungsapparat bei vielen auch eine
Entfremdung vom Islam herauf – ganz so wie wir es aus dem Iran
kennen. Die Generaldirektion für Bildungswesen der
konservativ-sunnitischen Provinz Konya etwa klagt, dass nicht wenige
der in den islamischen İmam-Hatip-Gymnasien zur Frömmigkeit
gezüchtigten Schüler nicht von der Heiligkeit des Islam überzeugt
werden können. Selbst Homosexualität sei für viele Schüler,
ächzen die Beamten, ein Triebschicksal und keine „Perversität“.
Nicht zu
leugnen ist, dass die fromme Generation in Massen existiert. Sie
frömmelt nicht nur, sie ist militant organisiert,
ultramilitaristisch, permanent narzisstisch gekränkt angesichts der
klaffenden Lücke zwischen der halluzinierten nationalen
Glückseligkeit und der Realität, selbstverschuldet unmündig und
darin noch umtriebiger im Hass auf jene, die mit dem Zwangskollektiv
nicht identisch sind. Erdoğan, der seine eigene Biografie als von
der laizistischen Bourgeoisie verächtlich gemachter Junge frommer
Eltern zum „Freund des Volkes“, nach dessen Leben die „armenische
Diaspora“, die „Zins Lobby“ und andere halluzinierte
Intriganten trachten, zum Drehpunkt seiner Agitation macht,
verfleischlicht wie kein anderer dieses Kollektiv der chronisch
Gekränkten. In der inneren Türkei von Konya bis nach Erzurum ist
dieses generationenübergreifende Rudel Grüner und Grauer Wölfe
vorherrschend. In den anatolischen Kreisstädten, wo die Republik
einzig als Kaserne ankam, existiert die historische Partei Mustafa
Kemals vor allem dort, wo noch Aleviten leben. Ansonsten muss die AK
Parti weitflächig allerhöchstens ihren Partner in crime, die MHP
der Grauen Wölfe, sowie deren Abspaltung, die İyi Parti, fürchten.
Es sind
Brüche, die die türkische Geografie charakterisieren und die in den
Großstädten, wo sich die dörfliche Idiotie in manchem Mahalle noch
verhärtet, noch drastischer zum Vorschein kommen. Und doch ist ein
urbanes Moloch wie Istanbul auch ein Versprechen an das Leben.
Während es in der Provinz den Wenigsten möglich ist, sich aus dem
familiären Käfig zu befreien, ist Istanbul selbst noch für
Homosexuelle aus dem Iran und Syrien ein nahes Exil. Es waren vor
allem jene, die für Erdoğans Märtyrerkitsch von Leichentüchern
und den penetranten moralischen Ermahnungen – etwa das
Geburtendiktat – nichts als Verachtung übrig haben, die am Abend
des 23. Juni auf den Straßen ausgelassen gefeiert haben. Ein
häufiges Motiv des Abends war das fröhliche Anstoßen mit einem
Gläschen Rakı oder einer Dose Tuborg. In Murat Özer, Vorsitzender
des Graswurzeljihad-NGO İmkander, köchelt es vor sich hin: „Lasst
sie mit Champagner feiern. Sie wollen Rache für Afrin. Wir sind
Millionen, die an die gleichen Ideale glauben ...Wir (dagegen) haben
ein Versprechen an die Märtyrer!“ Die Gazette Yeni Akit empört
sich indes über knallende Champagnerkorken, die die monströse
Hügelmoschee Çamlıca in Üskudar getroffen hätten. Die
Prestigemoschee wurde übrigens vom Beton-Gangster Hasan Gürsoy aus
dem Boden gestampft, einen Mitschüler Erdoğans in den Tagen als sie
auf das İmam-Hatip-Gymnasium in Fatih gingen. Als Erdoğan
Stadtvater Istanbuls wurde, trat Gürsoy von der Anavatan Partisi zur
Refah Partisi seines Jugendfreundes über.
In den
Großstädten, allen voran in Istanbul und Izmir, leben zu viele
Menschen, für die es eine nicht zu ertragene Unverschämtheit ist,
wenn Erdoğan und andere frömmelnde Agitatoren ihnen das Leben
diktieren wollen. In den vergangenen Jahren waren die kraftvollsten
Proteste in Istanbul jene, die die staatliche Institutionalisierung
des familiären Zwangskollektivs entschlossen von sich wiesen. In
etwa so wie die protestierenden Frauen am 8. März in Istanbul, deren
Pfiffe und Slogans gegen die polizeiliche Repression auch dann nicht
verstummten, als der Gebetsruf aus einer nahen Moschee erklang. Nach
Erdoğan hätten die Frauen nicht nur den Gebetsruf verächtlich
gemacht viel mehr noch die blutrote Fahne.
Am 30. Juni
trafen sich im zentralen Taksim trotz Verbotes durch das
Gouverneursamt tausende Istanbuler – unter ihnen Ahmet Şık von
der Halkların Demokratik Partisi – zum Pride Marsch (Onur
Yürüyüşü). Die Polizei trieb sie mit Reizgas durch die Straßen.
Yeni Akit ließ sich jüngst über ein verschwörerisches Projekt von
Ekrem İmamoğlu aus, Istanbul den „Verirrten zu übergeben“. Der
Vorsitzende der Diyanet-Behörde, Ali Erbaş, sprach von
„Ketzerei gegenüber der Schöpfung“ und die faschistische
Jugendorganisation Alperen Ocakları beharrte darauf, dass Fatih
Sultan Mehmet Istanbul nicht für die Morallosen erobert hätte.
Viele der Kommunen, die von der Cumhuriyet Halk Partisi gehalten
werden wie etwa das südtürkische Mersin oder Hopa im türkischen
Nordosten, dagegen erklärten ihre Solidarität. Sie twitterten in
Farben des Regenbogens: „Nicht der Hass, die Liebe wird gewinnen“.
Woraufhin die Kommunen unter Kommando der AK Parti konterten: „Unsere
Familie ist alles“. Die von der AK Parti geführte Kommune Ağrı
ergänzte, sie verfluche „jede Perversion und jede Unmoral, die
Allah verflucht“ habe.
Der 23. Juni
macht Hoffnung und doch sollte sich niemand täuschen: die AK Parti
hat die absolute Kontrolle über die Justiz; der Polizeiapparat und
die paramilitärischen Verbände werden beherrscht von Grünen und
Grauen Wölfen; Graswurzelislamisten wie İHH İnsani Yardım Vakfı,
İmkander und İyilikder aus dem Dunstkreis der radikalsten
Fraktionen der Muslimbrüder treten als fürsorgliches Staatssurrogat
auf, fungieren als Logistiker des syrischen Jihads und finanzieren im
Sudan und anderswo Moscheen der Indoktrination; die militärische
Okkupation Afrins hat den säkularsten Teil Syriens in eine
shariatische Hölle gestoßen. Fürs erste also ist die Opposition
weiterhin gezwungen, sich zu verteidigen: Freiheit für Selahattin
Demirtaş und alle anderen inhaftierten Oppositionellen, keinen
einzigen Tag Knast für Canan Kaftancıoğlu.
* Erdoğan
selbst inspirierte als junger Mann ein antikommunistisches Epos
namens „Die rote Kralle“ (Kızıl Pençe) zum Abfassen eines
Dramas: Mas-Kom-Yah: „Freimaurer-Kommunisten-Juden“. Hierin
erzählt der Dramatiker Erdoğan von der Verfeindung eines türkischen
Fabrikanten namens Ayhan Bey mit seinem Sohn, der das Vaterland als
junger Mann verlässt und in der Fremde dem Islam abtrünranig wird.
Überschattet wird der Konflikt zwischen Vater und Sohn vom
Aufbegehren der unter dem Diktat von Ayhan Bey stehenden Malocher,
die aufgewiegelt werden von einem sich als türkischer Muslim
tarnenden jüdischen Kommunisten, der sie schlussendlich zum Mord an
den frommen Bey aufhetzt. Das Theaterensemble des jungen Erdoğan,
dem auch der heutige Istanbuler AKP-Funktionär Atilla Aydıner
angehörte, reiste zur Ausführung dieser Variante der
antisemitischen Dolchstoßlegende bis 1980, dem Jahr der anbrechenden
Militärdiktatur, durch die Türkei.
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