Freitag, 29. Juni 2018

Flugschrift: Von Ankara nach Teheran



Im nordsyrischen Afrin feierten die jihadistischen Gangs am 24. Juni gebührlich den Warlord Recep Tayyip Erdoğan als ihren Führer durch das Entleeren ihrer Munition in das sich verdunkelnde Firmament. Querschläger haben dabei mehrere Kollateralschäden gefordert. In das urbane Afrin war die türkische Armee am 18. März dieses Jahres einmarschiert. Das unter ihrem Oberbefehl stehende islamistische Frontvieh drohte triumphierend mit der Annihilation aller „Ungläubigen“. In Afrin begann auch der Niedergang der türkischen Opposition – längst bevor am Urnengrab die Perpetuierung des faschistischen Präsidialregimes Erdoğans erpresst und erzwungen wurde. In Afrin hätte eine türkische Opposition, die etwas auf sich hält, zum Dolchstoß entschlossen sein müssen. Sie hätte das säkulare Afrin verteidigen müssen, wie sie İzmir und andere lebensfreudige Refugien gegen die Muslimbrüder verteidigt. Währenddessen haben die traditionslaizistische Cumhuriyet Halk Partisi – bis auf wenige honorige Ausnahmen innerhalb der Partei – und die ultranationalistische İyi Parti die militärische Aggression gegen Afrin als nationales Gebot ausgerufen. Die Reihen waren geschlossen.

Während von Afrin nie eine terroristische Bedrohung für die Türkei ausging, hat die von der nationalen Opposition heilig gesprochene Türkische Armee im eroberten Afrin dort nun ein Pseudoemirat rivalisierender islamistischer Milizen etabliert, inklusive Shariatribunale, Niqabpflicht, Zwangskonversionen, brutaler Gangfehden und Massenflucht. Eine Vorentscheidung für die Verfestigung des faschistischen Präsidialregimes Erdoğans traf auch das deutsche Auswärtige Amt als es zu Beginn des Jahres den Empfang von Mevlüt Çavuşoğlu, dem Gesandten Erdoğans, als familiäre Versöhnung inszenierte – just in dem Moment als in der Türkei die Propagandamaschinerie gegenüber Afrin zu überhitzen drohte. Das zivilisatorische Antlitz zu wahren, heißt heute bei den Deutschen Vladimir Putin, Viktor Orbán, Hassan Rouhani und den jihadistischen Eroberern von Afrin den Vortritt zu lassen, um dann Recep Tayyip Erdoğan wenig später selbst zu gratulieren. Gratuliert haben auch die Analysten internationaler Finanzinstitute. Man verspricht sich vom Führer Kontinuität und Stabilität, das heißt: Grabesruhe.

Während Muharrem İnce, die enttäuschte Hoffnung der laizistischen Opposition, am Vortag des 24. Juni zu seinen in Millionen mobilisierten Parteigängern in İstanbul sprach, wurden im kurdischen Van, unweit zum Iran, die Freunde der kriminalisierten Halkların Demokratik Partisi durch die Straßen geprügelt. Tränengasschwaden hingen über der Stadt. Nach der demokratischen Farce sicherte sich Muharrem İnce ab: Weder er noch seine Partei haben „Freiheit für eine Person“ gefordert, gemeint war Selahattin Demirtaş, die inhaftierte Galionsfigur der antinationalistischen Opposition. Wie in Afrin feuerten in İstanbul die Freunde des faschistischen Präsidialregimes blind in die Luft. Sie feierten nicht einzig ihren Sieg – die Auszählung war längst noch nicht beendet. Sie drohten einer Opposition, die ihren Sieg nicht anerkennt, mit Massakern. Dass die türkische Opposition in dieser Atmosphäre nicht zu Protesten aufrief, ist verständlich, doch sie hätte lange zuvor Syrien als den Vorboten der aggressiven Racketisierung erkennen müssen, die auch der eigenen Heimat droht.

Man mochte in den vergangenen Tagen meinen, die Trümmeranhäufung der tagtäglichen Katastrophen sei unaufhörlich, da erhoben sich aus dem Iran Rufe, die die regressive Identifizierung mit der Kollektivbestie durchbrachen. Historisch erfolgte die nationale Formierung in der Islamischen Republik über die Teilung der Gattung in Gläubige und Ungläubige und in der antisemitischen Identifikation von Korruption und Verderbtheit im „Großen und kleinen Satan“, den Vereinigten Staaten von Amerika und Israel. Der heiligste Staatszweck der Islamischen Republik ist die Vernichtung Israels, ihr konkretes Mittel der militärische Vorstoß zur Levante. „Tod Israel“ – das ist die Schnittmenge jeder Agitation im khomeinistischen Staat.

Und in diesen Tagen schlägt es ihr in Teheran und anderswo im Iran erneut entgegen: „Palästina, Syrien, das sind die Gründe unserer Misere“ (das heißt: die Finanzierung der Hamas und die aggressive Stabilisierung des Regimes Bashar al-Assads), „Verlasst Syrien“, „Nicht Gaza (Hamas), nicht der Libanon (Hezbollah), unser Leben für den Iran“ und „Unser Feind ist hier, es ist eine Lüge, wenn sie sagen, unser Feind ist Amerika“.

Denn es sind nicht etwaige Sanktionen gegen die islamistischen Staatsrackets, die die Versorgung der Iraner mit Medikamenten und ähnliches erschweren. Es ist das mafiotische Akkumulationsregime der Khomeinisten selbst, das vielen Iranern das Gröbste verweigert, sie von den Wasserressourcen abschneidet, die rurale und städtische Peripherie dem Elend überlässt, die Lohntüte durchfrisst, die nationale Währung gänzlich entwertet. Die regimefeindlichen Iraner, die heute die Straßen Teherans einnehmen, täuschen sich nicht darüber, dass mit dem europäischen Iran-Business einzig die terroristische Aggression nach außen forciert wird. Sie fordern unmissverständlich in ihren Slogans den militärischen Abzug aus Syrien und ein Ende der Finanzierung der libanesischen Hezbollah und der palästinensischen Muslimbrüder der Hamas.

Ausgegangen sind die jüngsten Proteste vom Teheraner Bazar. Große Teile des Bazars standen im Jahr 1979 noch an den Barrikaden der „Islamischen Revolution“. Das Modernisierungsregime von Mohammad Reza Pahlavi mit seiner beschleunigten Industrialisierung drohte den tradierten Status der Bazare zu zerstören. Doch auch in der Islamischen Republik büßte der Bazar seine zuvor zentrale ökonomische Funktion nach für nach ein. Seine Produkte werden heute von Billigimporten aus China, Indien und Pakistan verdrängt. Fabriken sowie Export und Import sind längst unter Kontrolle der militaristischen Revolutionsgarde, dem wesentlichen Akteur eines islamomafiotischen Akkumulationsregimes. Dem noch andauernden Streik der Teheraner Bazaris schlossen sich nicht nur die Bazare in Shiraz, Kermanshah und anderswo an, auch viele andere Iraner nahmen die Gelegenheit wahr, die Massenproteste zu Beginn des Jahres wieder zu beleben.

Die Wochen zuvor protestierten in Ahvaz Stahlarbeiter unter Slogans wie „Sie zahlen die Löhne nicht und rufen Tod für Amerika, aber unser Feind ist hier“. Hieß es bei Imam Khomeini noch „Streik ist eine Sünde“ – die konspirativen Streikkomitees des Industrieproletariats aus den Revolutionsjahren wurden ab dem Juli 1981 durch Massenhinrichtungen gänzlich zerschlagen –, streiken im Iran tagelang ganze Schlüsselindustrien, wie zuletzt die Transporteure. Das ideologische Elend der Islamischen Republik – anders als in der Türkei – ist nicht mehr zu kaschieren. Am al-Quds-Tag, an dem der Bluthund Khomeini im Jahr 1979 ausrief, es werde alsbald nur noch eine einzige Partei existieren: die „Partei Allahs“ (Hezbollah), erfolgte auch in diesem Jahr die Orchestrierung nach klassischem Muster: Die Mullahs marschierten in traditioneller Robe, davor oder dahinter invalide Veteranen, dann das Gros aus mit Brotkrümeln Korrumpierten, zwangsverpflichteten Beamten mit ihren Familien und Milizionären der „Revolutionswächter“, der Hezbollah und Basiji. Doch selbst das Bildmaterial der Regimeagenturen aus Missiles-Attrappen, Scheinhinrichtungen und in Flammen aufgehenden Judenpuppen konnte nicht über die repressive Kümmerlichkeit der „Mobilisierung“ täuschen. Passanten machten sich über die erbärmlichen Häufchen, die den motorisierten Einpeitschern hinterhertrotteten, lächerlich. Andere konterten den staatstragenden Slogan „Tod Israel“ lachend mit der Verächtlichmachung eines Propheten: „Tod Ismael“.

Freiheit für Ramin Hossein Panahi 

Die Slogans der Stunde sind unmissverständlich: „Nieder mit dem Vilayat-eFaqih“, der Befehlsgewalt des (Obersten) Rechtsgelehrten Ali Khamenei bis zum Austritt des okkulten zwölften Imams aus der Verborgenheit. Und: „Wir wollen kein Regime der Akhundha“ (Akhund ist der persische Name für einen Kleriker). Sadeq Larijani, Bandenführer der iranischen Justiz, drohte jüngst den Protestierenden mit der Todesstrafe. Lassen wir sie nicht allein.

Samstag, 23. Juni 2018

Die Demokratie der Henker – Flugschrift in der Hoffnung auf eine baldige Niederlage des faschistischen Agitators



Vor einigen Tagen sprach Recep Tayyip Erdoğan in der Provinzstadt Kocaeli über den inhaftierten Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş. Die Justiz, so der Staatspräsident im Wissen, dass sie von ihm nicht unabhängig ist, müsse so bald wie möglich ihre Entscheidung fallen. Als populärster Politiker der Halkların Demokratik Partisi (HDP) drohen Selahattin Demirtaş, der in Wahrheit weniger ein Beschuldigter als eine Geisel ist, 142 Jahre Haft. In der Anklageschrift wird ihm vor allem nachgetragen, dass er zu Solidaritätsdemonstrationen mit Kobanê aufrief, als die syrische Grenzstadt im Jahr 2014 an den „Islamischen Staat“ zu fallen drohte. Aus den blutrünstigen Kehlen der von Erdoğan Agitierten dröhnte in Kocaeli der orchestrierte Ruf nach der Todesstrafe: „İdam, İdam“ („Hinrichtung, Hinrichtung“). Ohne kurzes Innehalten versprach Erdoğan, er hätte es wieder und wieder gesagt, dass wenn ihm die Nationalversammlung einen Hinrichtungsbeschluss vorlegen würde, werde er mit seiner Unterschrift nicht zögern.

Der „Volkswille“, von ihm agitiert und propagandistisch verwaltet, und dessen wesentliche demokratische Institution, die Nationalversammlung, sind dem Muslimbruder Erdoğan heilig, solange letztere von den Abtrünnigen befreit ist. Agitator und Brüllvieh machen den Tod der Abtrünnigen und Verräter zum demokratischen Programm. Als Erdoğan nach der türkischen Okkupation von Afrin in Giresun die getöteten „Terroristen“ nachzählte, überbrückte die Parteijugend in Milizkluft sein kurzes Schweigen mit dem Gebrüll „Ungläubige“ und dem heiligen Vers 3:12: „Bald werdet ihr geschlagen sein und euch in der Hölle scharren“. Vor wenigen Tagen versprach Erdoğan in Zonguldak neben einer Militärkampagne gegen das nordirakische Sinjar die Wiedereinführung der Todesstrafe. Wieder hallte es „Hinrichtung, Hinrichtung“ durch das Brüllvieh.

Bei einer internen Ansprache vor den Kadern der AK Parti hatte Erdoğan dagegen Diskretion eingefordert. „Das kann ich nicht öffentlich sagen, das bespreche ich mit euch“, schwor er die Parteifunktionäre auf einen speziellen Auftrag ein. „Ihr wisst, wer wer ist“, trug Erdoğan den Anwesenden auf, die Parteigänger der HDP zu identifizieren und repressiv zu bedrängen: „Wenn ein Gemeindevertreter von uns nicht weiß, wer wer ist, dann soll er gefällig sein Amt niederlegen. Wir sagen ins Visier nehmen, ihr müsst sie ins Visier nehmen.“

In Suruç, dem Grenzdistrikt zum syrischen Kobanê, demonstrierte sein Gefolge wenig später drastisch, wie die Direktive Erdoğans auszuführen ist. Suruç liegt in der Provinz Urfa, in der Stämme und Clans traditionell als Sub-Souveräne der türkischen Zentralgewalt fungieren. Ihr feudal-mafiotisches Akkumulationsregime ist – längst vor dem Eroberungsfeldzug der Muslimbrüder Erdoğans – in den tiefen Staat der Konterguerilla (siehe etwa Sedat Edip Bucak und Susurluk kazası) integriert. Doch anders als andere Distrikte der Provinz Urfa ist Suruç eine Bastion der kriminalisierten HDP von Selahattin Demirtaş. Was einen der Abgeordneten der AK Parti für die Provinz, İbrahim Halil Yıldız, und seine Entourage dazu provoziert, in Suruç wie eine mafiotische Erpresserbande aufzutreten. Am 14. Juni betraten sie die Marktstube für Kleinwaren der Familie Şenyaşar, die ihnen als Parteigänger der abtrünnigen HDP – „Ihr wisst, wer wer ist“ (Erdoğan) – verhasst ist. Auf einen verbalen Disput und der Aufforderung der Familie, sie nicht weiter zu bedrängen, folgt ein zunächst leichtes Gerangel während des Verlassens der Marktstube, das aber schlagartig eskaliert.

Neben den Brüdern der Familie Şenyaşar wird auch ein Bruder des AKP-Abgeordneten mit schweren Blutungen ins Hospital gebracht, wo dieser wenig später verstirbt. Eine Rotte an Angehörigen des AKP-Abgeordneten ermordet im Hospital die Brüder Adil und Celal Şenyaşar vor den Augen der Ärzte. Ihrem Vater Hacı Esvet wird mit einer Gasflasche der Schädel zertrümmert, auch er verstirbt wenig später. Die Polizei bleibt während der Lynchmorde passiv. Mit Tränengasgranaten wird dagegen am nächsten Tag der Beerdigungszug für die beiden ermordeten Brüder der Familie Şenyaşar gesprengt.

Der lokale Repräsentant der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) sowie die vielen Augenzeugen machten, ohne Zweifel zu hegen, die Angehörigen des Abgeordneten der AK Parti als Aggressoren aus. In Haft genommen wurden aber mit Fadıl, Mehmet und Ferit Şenyaşar die überlebenden Brüder der Familie sowie der Kandidat der HDP für ein Abgeordnetenmandat der Provinz Urfa. Es ist nur eine weitere Perfidie, dass Erdoğan und die von ihm monopolisierte Propagandamaschinerie die Mordtat ihres Parteivolks als eine „terroristische Aktion“ der PKK umlügen.

Am selben Tag wie das Massaker in Suruç prügelte eine ultranationalistische Rotte in Malatya – eine östliche Provinz, die zwischen Aleviten und Sunniten, Kurden und Türken zerrissen ist – mit Eisenstangen auf Parteiangehörige der HDP ein. In Kocaeli ähnelten sich am selben Tag die Szenen. In Haliliye drohten die Verfolger jüngst: „Wir werden euch in den Bergen begraben. Wir werden es mit euch wie in Suruç machen“. Während solche Prügelkommandos nicht selten von Polizisten als „unsere Freunde“ angesprochen und mit brüderlicher Empathie bedacht werden, werden tagtäglich Parteigänger der kriminalisierten HDP inhaftiert.

Dass die Staatsfront aus Grauen und Grünen Wölfen die Halkların Demokratik Partisi so rabiat bedrängt und sich nicht auf die stärkste Oppositionspartei in der Nationalversammlung, die laizistische Cumhuriyet Halk Partisi, konzentriert, sollte nicht überraschen. Am 7. Juni 2015 verunmöglichte der direkte Einzug der Partei eine erneute absolute Mehrheit der Muslimbrüder. Was folgte, war gnadenlose Rache: Masseninhaftierungen, militärische Kampagnen gegen Distrikte wie Cizre, Nusaybin und Yüksekova (in denen über 90 Prozent sich schuldig gemacht hatten, sich für die abtrünnige Partei entschieden zu haben), organisierte Pogrome in den anatolischen Provinzen, suizidale Massaker in Suruç, Ankara und Gaziantep mit mehr als hundert Ermordeten – und letztendlich die Immunitätsaufhebung für die Abgeordneten, um dem Greifarm des Inhaftierungsregimes bis in die Nationalversammlung zu verlängern. Der Erfolg gibt Erdoğan recht: mit seiner antikurdischen Eskalationsstrategie machte er sich Devlet Bahçeli, dem Rudelführer der ultranationalistischen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), zum Adjutanten, während er nicht wenige Graue Wölfe abwarb. Allein die Atmosphäre der Rechtlosigkeit im kurdischen Südosten ermöglichte es den Muslimbrüdern, während des Referendums um die einschneidende Verfassungsänderung systematisch zu manipulieren. Auch İbrahim Halil Yıldız und sein Gefolge traten hierbei wieder rabiat auf.

Die naheliegendste Strategie der „Volksallianz“ (Cumhur İttifakı) aus Muslimbrüdern und Grauen Wölfen, sich eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung zu sichern, ist das Drücken der Halkların Demokratik Partisi unter die 10 Prozent-Hürde. Wenn dies am 24. Juni geschehen sollte, trägt auch die national-türkische Opposition ihren Anteil daran. Sie hat – bis auf erwähnenswerte Ausnahmen innerhalb der CHP – von Beginn an die nationalchauvinistische Feindmarkierung geteilt. Wider besseres Wissen hat sie die militärische Aggression gegen das säkulare Afrin als nationales Gebot ausgerufen. Während vom föderalen Afrin nie eine terroristische Bedrohung für die Türkei ausging, hat die heilige Türkische Armee im eroberten Afrin ein Homeland für rivalisierende islamistische Milizen etabliert, inklusive Shariatribunale, Niqabpflicht, Zwangskonversionen und Massenflucht. In der an der Türkei angrenzenden Provinz Idlib herrschen bis heute weitflächig die syrischen Derivate der al-Qaida.

Die oppositionelle Allianz „Millet İttifakı“, die nicht von ungefähr das islamisch konnotierte „millet“ (eine Nation geeint im Glauben) im Namen trägt, ist die durchaus nicht aussichtslose Unternehmung der traditionslaizistischen CHP die Muslimbrüder Erdoğans aus den Reformjahren, wo ihnen die überschwänglichen Sympathien der Ökonomen und Liberalen galten, zu imitieren. Hierfür ist sie ein Verbund eingegangen mit der ultranationalistischen İyi Parti von Meral Akşener, eine abtrünnige Graue Wölfin, und der kleineren islamistischen Saadet Partisi von Temel Karamollaoğlu. Bei der Massenmobilisierung ist Muharrem İnce, die aktuelle Galionsfigur der Traditionslaizisten, zumindest in den Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir den Muslimbrüdern Erdoğans bei weitem überlegen. Ohne Zweifel würde ein Erfolg von İnce und der historischen Partei Mustafa Kemals die Verdunkelung der Türkei durch die islamistische Racketisierung zumindest ein wenig aufbrechen. Ihr Stammklientel sind jene säkularen Türken, die sich an die nationalistischen Lebenslügen der Republik klammern, aber eben auch an die individuellen Freiheiten, die sich in die Republik eingeschlichen haben. Doch eine Opposition, die nicht dezidiert antimilitaristisch ist und mit der aggressiven Türkifizierungspolitik bricht, wird allerhöchstens eine verkümmerte sein können.


Lisa Çalan verlor am 5. Juni 2015 durch eine Detonation in Diyarbakır beide Beine. Das erste von mehreren Massakern einer türkischen Schläferzelle des „Islamischen Staates“ an Freunde der HDP. (Foto: Yuksekovahaber.com).

Der entscheidende Erfolgsfaktor der Staatsfront Erdoğans könnte außerhalb der Türkei liegen: Seit Wochen schraubt sich die türkische Armee mehr und mehr in den bergigen Nordosten des Iraks hinein. Im anatolischen Niğde drohte Erdoğan kürzlich: „So wie wir Afrin, Jarablus, al-Bab und Azaz befreit haben, werden wir, so es Allah will, auch den terroristischen Sumpf in Qandil austrocknen.“ In Afrin, Jarablus und al-Bab befehden sich heute islamistische Gangs. Die geschlagenen Warlords aus Ost-Ghouta und anderswo sind der Türkei das demografische Material zur Re-Osmanisierung. Aus jener „befreiten“ Region Nordsyriens heißt es auch, die Türkei der Muslimbrüder, dieser Meister der Jihadisierung, rekrutiere unter den sunnitischen Militanten ein Korp für die Schlacht um Qandil. Die türkische Propaganda überschlägt sich indessen in Gerüchten, dass das türkische Militär mehrere Kommandeure der Guerilla in Qandil neutralisiert und alsbald das irakisch-iranische Grenzgebirge erobert hat.