Vor
einigen Tagen sprach Recep
Tayyip Erdoğan in der Provinzstadt Kocaeli über den inhaftierten
Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş. Die Justiz, so der
Staatspräsident im Wissen, dass sie von ihm nicht unabhängig ist,
müsse so bald wie möglich ihre Entscheidung fallen. Als populärster
Politiker der Halkların Demokratik Partisi (HDP) drohen Selahattin
Demirtaş, der in Wahrheit weniger ein Beschuldigter als eine Geisel
ist, 142 Jahre Haft. In der Anklageschrift wird ihm vor allem
nachgetragen, dass er zu Solidaritätsdemonstrationen mit Kobanê
aufrief, als die syrische Grenzstadt im Jahr 2014 an den „Islamischen
Staat“ zu fallen drohte. Aus den blutrünstigen Kehlen der von
Erdoğan Agitierten dröhnte in Kocaeli der orchestrierte Ruf nach
der Todesstrafe: „İdam, İdam“ („Hinrichtung, Hinrichtung“).
Ohne kurzes Innehalten versprach Erdoğan, er hätte es wieder und
wieder gesagt, dass wenn ihm die Nationalversammlung einen
Hinrichtungsbeschluss vorlegen würde, werde er mit seiner
Unterschrift nicht zögern.
Der
„Volkswille“, von ihm agitiert und propagandistisch verwaltet,
und dessen wesentliche demokratische Institution, die
Nationalversammlung, sind dem Muslimbruder Erdoğan heilig, solange
letztere von den Abtrünnigen befreit ist. Agitator und Brüllvieh
machen den Tod der Abtrünnigen und Verräter zum demokratischen
Programm. Als Erdoğan nach der türkischen Okkupation von Afrin in
Giresun die getöteten „Terroristen“ nachzählte, überbrückte die
Parteijugend in Milizkluft sein kurzes Schweigen mit dem Gebrüll
„Ungläubige“ und dem heiligen Vers 3:12: „Bald werdet ihr
geschlagen sein und euch in der Hölle scharren“. Vor wenigen
Tagen versprach Erdoğan
in Zonguldak neben einer Militärkampagne gegen das nordirakische
Sinjar die Wiedereinführung der Todesstrafe. Wieder hallte es
„Hinrichtung, Hinrichtung“ durch das Brüllvieh.
Bei
einer internen Ansprache vor den Kadern der AK Parti hatte Erdoğan
dagegen Diskretion eingefordert.
„Das kann ich nicht öffentlich sagen, das bespreche ich mit euch“,
schwor er die Parteifunktionäre auf einen speziellen Auftrag ein.
„Ihr wisst, wer wer ist“, trug Erdoğan den Anwesenden auf, die
Parteigänger der HDP zu identifizieren und repressiv zu bedrängen:
„Wenn ein Gemeindevertreter von uns nicht weiß, wer wer ist, dann
soll er gefällig sein Amt niederlegen. Wir sagen ins Visier nehmen,
ihr müsst sie ins Visier nehmen.“
In Suruç,
dem Grenzdistrikt zum syrischen Kobanê, demonstrierte sein Gefolge
wenig später drastisch, wie die Direktive Erdoğans auszuführen
ist. Suruç liegt in der Provinz Urfa, in der Stämme und Clans
traditionell als Sub-Souveräne der türkischen Zentralgewalt
fungieren. Ihr feudal-mafiotisches Akkumulationsregime ist – längst
vor dem Eroberungsfeldzug der Muslimbrüder Erdoğans – in den
tiefen Staat der Konterguerilla (siehe etwa Sedat Edip Bucak und
Susurluk kazası) integriert. Doch anders als andere Distrikte der
Provinz Urfa ist Suruç eine Bastion der kriminalisierten HDP von
Selahattin Demirtaş. Was einen der Abgeordneten der AK Parti für
die Provinz, İbrahim Halil Yıldız, und seine Entourage dazu
provoziert, in Suruç wie eine mafiotische Erpresserbande
aufzutreten. Am 14. Juni betraten sie die Marktstube für Kleinwaren
der Familie Şenyaşar, die ihnen als Parteigänger der abtrünnigen
HDP – „Ihr wisst, wer wer ist“ (Erdoğan) – verhasst ist. Auf
einen verbalen Disput und der Aufforderung der Familie, sie nicht
weiter zu bedrängen, folgt ein zunächst leichtes Gerangel während
des Verlassens der Marktstube, das aber schlagartig eskaliert.
Neben den
Brüdern der Familie Şenyaşar wird auch ein Bruder des
AKP-Abgeordneten mit schweren Blutungen ins Hospital gebracht, wo
dieser wenig später verstirbt. Eine Rotte an Angehörigen des
AKP-Abgeordneten ermordet im Hospital die Brüder Adil und Celal
Şenyaşar vor den Augen der Ärzte. Ihrem Vater Hacı Esvet wird mit
einer Gasflasche der Schädel zertrümmert, auch er verstirbt wenig
später. Die Polizei bleibt während der Lynchmorde passiv. Mit
Tränengasgranaten wird dagegen am nächsten Tag der Beerdigungszug
für die beiden ermordeten Brüder der Familie Şenyaşar gesprengt.
Der lokale
Repräsentant der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) sowie die vielen
Augenzeugen machten, ohne Zweifel zu hegen, die Angehörigen des
Abgeordneten der AK Parti als Aggressoren aus. In Haft genommen
wurden aber mit Fadıl, Mehmet und Ferit Şenyaşar die überlebenden
Brüder der Familie sowie der Kandidat der HDP für ein
Abgeordnetenmandat der Provinz Urfa. Es ist nur eine weitere
Perfidie, dass Erdoğan und die von ihm monopolisierte
Propagandamaschinerie die Mordtat ihres Parteivolks als eine
„terroristische Aktion“ der PKK umlügen.
Am
selben Tag wie das Massaker in Suruç prügelte eine
ultranationalistische Rotte in Malatya – eine östliche Provinz,
die zwischen Aleviten und Sunniten, Kurden und Türken zerrissen ist
– mit Eisenstangen auf Parteiangehörige der HDP ein. In
Kocaeli ähnelten sich
am selben Tag die Szenen. In Haliliye drohten die Verfolger jüngst: „Wir werden euch in den Bergen begraben. Wir
werden es mit euch wie in Suruç machen“. Während solche
Prügelkommandos nicht selten von Polizisten als „unsere Freunde“
angesprochen und mit brüderlicher Empathie bedacht werden, werden
tagtäglich Parteigänger der kriminalisierten HDP inhaftiert.
Dass die
Staatsfront aus Grauen und Grünen Wölfen die Halkların Demokratik
Partisi so rabiat bedrängt und sich nicht auf die stärkste
Oppositionspartei in der Nationalversammlung, die laizistische
Cumhuriyet Halk Partisi, konzentriert, sollte nicht überraschen. Am
7. Juni 2015 verunmöglichte der direkte Einzug der Partei eine
erneute absolute Mehrheit der Muslimbrüder. Was folgte, war
gnadenlose Rache: Masseninhaftierungen, militärische Kampagnen gegen
Distrikte wie Cizre, Nusaybin und Yüksekova (in denen über 90
Prozent sich schuldig gemacht hatten, sich für die abtrünnige
Partei entschieden zu haben), organisierte Pogrome in den
anatolischen Provinzen, suizidale Massaker in Suruç, Ankara und
Gaziantep mit mehr als hundert Ermordeten – und letztendlich die
Immunitätsaufhebung für die Abgeordneten, um dem Greifarm des
Inhaftierungsregimes bis in die Nationalversammlung zu verlängern.
Der Erfolg gibt Erdoğan recht: mit seiner antikurdischen
Eskalationsstrategie machte er sich Devlet Bahçeli, dem Rudelführer
der ultranationalistischen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), zum
Adjutanten, während er nicht wenige Graue Wölfe abwarb. Allein die
Atmosphäre der Rechtlosigkeit im kurdischen Südosten ermöglichte
es den Muslimbrüdern, während des Referendums um die einschneidende
Verfassungsänderung systematisch zu manipulieren. Auch İbrahim
Halil Yıldız und sein Gefolge traten hierbei wieder rabiat auf.
Die
naheliegendste Strategie der „Volksallianz“ (Cumhur İttifakı)
aus Muslimbrüdern und Grauen Wölfen, sich eine absolute Mehrheit in
der Nationalversammlung zu sichern, ist das Drücken der Halkların
Demokratik Partisi unter die 10 Prozent-Hürde. Wenn dies am 24. Juni
geschehen sollte, trägt auch die national-türkische Opposition
ihren Anteil daran. Sie hat – bis auf erwähnenswerte Ausnahmen
innerhalb der CHP – von Beginn an die nationalchauvinistische
Feindmarkierung geteilt. Wider besseres Wissen hat sie die
militärische Aggression gegen das säkulare Afrin als nationales
Gebot ausgerufen. Während vom föderalen Afrin nie eine
terroristische Bedrohung für die Türkei ausging, hat die heilige
Türkische Armee im eroberten Afrin ein Homeland für rivalisierende
islamistische Milizen etabliert, inklusive Shariatribunale,
Niqabpflicht, Zwangskonversionen und Massenflucht. In der an der
Türkei angrenzenden Provinz Idlib herrschen bis heute weitflächig
die syrischen Derivate der al-Qaida.
Die
oppositionelle Allianz „Millet İttifakı“, die nicht von
ungefähr das islamisch konnotierte „millet“ (eine Nation geeint
im Glauben) im Namen trägt, ist die durchaus nicht aussichtslose
Unternehmung der traditionslaizistischen CHP die Muslimbrüder
Erdoğans aus den Reformjahren, wo ihnen die überschwänglichen
Sympathien der Ökonomen und Liberalen galten, zu imitieren. Hierfür
ist sie ein Verbund eingegangen mit der ultranationalistischen İyi
Parti von Meral Akşener, eine abtrünnige Graue Wölfin, und der
kleineren islamistischen Saadet Partisi von Temel Karamollaoğlu. Bei
der Massenmobilisierung ist Muharrem İnce, die aktuelle Galionsfigur
der Traditionslaizisten, zumindest in den Großstädten Istanbul,
Ankara und Izmir den Muslimbrüdern Erdoğans bei weitem überlegen.
Ohne Zweifel würde ein Erfolg von İnce und der historischen Partei
Mustafa Kemals die Verdunkelung der Türkei durch die islamistische
Racketisierung zumindest ein wenig aufbrechen. Ihr Stammklientel sind
jene säkularen Türken, die sich an die nationalistischen Lebenslügen der
Republik klammern, aber eben auch an die individuellen Freiheiten,
die sich in die Republik eingeschlichen haben. Doch eine Opposition,
die nicht dezidiert antimilitaristisch ist und mit der aggressiven
Türkifizierungspolitik bricht, wird allerhöchstens eine verkümmerte
sein können.
Lisa Çalan
verlor am 5. Juni 2015 durch eine Detonation in Diyarbakır beide
Beine. Das erste von mehreren Massakern einer türkischen
Schläferzelle des „Islamischen Staates“ an Freunde der HDP.
(Foto: Yuksekovahaber.com).
Der
entscheidende Erfolgsfaktor der Staatsfront Erdoğans könnte
außerhalb der Türkei liegen: Seit Wochen schraubt sich die
türkische Armee mehr und mehr in den bergigen Nordosten des Iraks
hinein. Im anatolischen Niğde drohte Erdoğan kürzlich: „So wie
wir Afrin, Jarablus, al-Bab und Azaz befreit haben, werden wir, so es
Allah will, auch den terroristischen Sumpf in Qandil austrocknen.“
In Afrin, Jarablus und al-Bab befehden sich heute islamistische
Gangs. Die geschlagenen Warlords aus Ost-Ghouta und anderswo sind der
Türkei das demografische Material zur Re-Osmanisierung. Aus jener
„befreiten“ Region Nordsyriens heißt es auch, die Türkei der
Muslimbrüder, dieser Meister der Jihadisierung, rekrutiere unter den
sunnitischen Militanten ein Korp für die Schlacht um Qandil. Die
türkische Propaganda überschlägt sich indessen in Gerüchten, dass
das türkische Militär mehrere Kommandeure der Guerilla in Qandil
neutralisiert und alsbald das irakisch-iranische Grenzgebirge erobert
hat.
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