Wie
zuvor im okkupierten Afrin kursieren wieder Snuff-Filme, die den
Feind – eine „ungläubige, gottlose terroristische Organisation
ohne heilige Schrift“, so einer der Warlords der syrischen
Katastrophe Recep Tayyip Erdoğan – demütigen sollen. „Die
Leichen der Schweine sind unter unseren Füßen“, höhnen die
Milizionäre, während sie über den leblosen Körper einer
Verteidigerin Rojavas trampeln. „Dies ist eine der Nutten, die du
uns gebracht hast“, worauf ein penetrantes „Allahu Akbar“
folgt. Einer der prominentesten Kommandeure aus den Tagen der
Schlacht um das urbane Halab, Yasser Abdul Rahim (in jenen Tagen bei
der Muslimbrüder-nahen Miliz Faylaq al-Sham), fotografiert
sich lächelnd vor
einer weiteren überwältigten, aber noch lebenden Verteidigerin,
während die Männerrotte „Schlachtet sie“ und „Schwein“
krakelt.
Das
sind die „legitimen Sicherheitsinteressen“ der Türkei, die die
Charaktermasken der Politik nur moderieren: der aggressive
territoriale Expansionsdrang an der Seite rivalisierender
Shariah-Gangs nach außen und der repressive Kitt der Fraktionierung
der Republik nach innen. Der Generalsekretär der „Vereinten
Nationen“ drückt seine „tiefe Wertschätzung für die starke
Kooperation“ mit der Türkei aus. Es werde die demografische
Expansionsstrategie der „new settlement areas“ durch die
„Vereinten Nationen“ geprüft –
ganz so als wäre die türkische Aggression einzig ein bürokratischer
Akt. Der Amtsheer des deutschen Auswärtigen Amtes scheint allein
nach Ankara zu reisen, um mit seinem türkischen Amtskollegen
Annegret Kramp-Karrenbauer zu verhöhnen. Währenddessen halluziniert
der Generalsekretär des Nordatlantikpaktes über einen
„entscheidenden Beitrag“ der Türkei zur physischen Zerschlagung
des „Islamischen Staates“.
Während
Donald Trump vor weniger als einem Jahr bei der Begründung seiner
„Next door“-Politik davon fabulierte, dass „Präsident Erdoğan“
ausrotten wird, was vom „Islamischen Staat“ übrig geblieben ist,
übernahmen die Derivate der syrischen al-Qaida das Gouvernement
Idlib nahezu in Gänze und verleibten sich zudem die ersten Dörfer
im okkupierten Afrin ein. Die in Idlib stationierte türkische Armee
verharrte in Passivität. Selbst angesichts der Konfrontationen in
syrischen Grenzdörfern wie Atmeh schritt die türkische Armee nicht
ein. Anders als ihre Helden in Afghanistan – die noch gezwungen
waren, sich in Höhlen zu tarnen – herrschen die syrischen Derivate
von al-Qaida seitdem über ein weitflächiges Territorium entlang
eines Teils der Südgrenze des Nordatlantikpakts.
In
diesem Idlib, nicht mehr als 5 Kilometer von der türkischen Grenze
entfernt: im Dorf Barisha, wurde jüngst Abu Bakr al-Baghdadi
aufgespürt. In Idlib, soviel sollte man dabei wissen, verfügt die
türkische Armee über ein System von Observationsposten. Die
Identifizierung und Tötung des flüchtigen Kalifen geschah in
direkter Koordination zwischen US-amerikanischem Militär und dem
militärischen Verband der Föderalisten Nordsyriens, so erklärten
es Mazlum Abdî, Kommandeur der Hêzên Sûriya Demokratîk, und
hochrangige Beamte aus dem State Department sowie dem Pentagon
übereinstimmend. Wenig später wurde auch Abu Hasan al-Muhajir, die
rechte Hand des Kalifen, im türkisch okkupierten Cerablus getötet.
Auch dies wurde zwischen US-Amerikanern und Föderalisten
koordiniert. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Beide
Tötungen geschahen im Terrain türkischer Protektorate und
ohne türkische Beteiligung. Das US-amerikanische Militär scheint –
anders als Donald Trump – ganz genau zu wissen, wem sie bei der
Eliminierung der Reststrukturen des „Islamischen Staates“ trauen
kann und wem eben nicht. Milizionäre innerhalb der „Nationalen
Armee Syriens“ – das organisierte Frontvieh des türkischen
Militärs – versprechen indessen, „die Städte der atheistischen
Kurden“ zu erobern, während sie ihre Drohung mit einem Nashid des
„Islamischen Staates“ unterlegen,
dem schaurigen „Klirren der Schwerter“.
Eine
Kooperative aus der al-Nusra Front, des ursprünglichen Flügels von
al-Qaida in Syrien, mit kleineren salafistisch-jihadistischen
Einheiten wie der „Bin Laden Front“ oder der „Abdullah Azzam
Brigade“ hat in Idlib seine Despotie als „Syrische Regierung der
Errettung“ längst und unbedrängt von der türkischen Armee
institutionalisiert. Selbst im traditionell sunnitisch-konservativen
Idlib ist diese bei vielen als Etablierung eines Idlibstan verhasst.
Die ständigen russischen Bombardements auf die „Deeskalationszone“
haben den jihadistischen Zugriff auf Idlib nur noch verstärkt. Teile
der stärksten Verbände innerhalb der türkeihörigen „Nationalen
Armee“ – die syrischen Taliban der Ahrar al-Sham und die den
Muslimbrüdern nahen Faylaq al-Sham – nahmen im März 2015 Seite an
Seite mit der al-Nusra Front und unter dem Namen Jaysh al-Fatah das
urbane Idlib und wenig später weitflächig das gleichnamige
Gouvernement ein. Die „Armee der Eroberung“ genoss dabei die
Generosität der Türkei, Katars und Saudi-Arabiens. Fusionsgespräche
scheiterten schlussendlich am nationalistischen Flügel von Ahrar
al-Sham, den ständigen Revierfehden und Gerüchten über feindselige
Intrigen.
In den
Monaten zuvor begann die syrische al-Qaida in den Gouvernements
Aleppo und Idlib ihre Militärkampagne zur Etablierung eines
Konkurrenz-Kalifats zum rivalisierenden „Islamischen Staat“. Die
al-Nusra Front sowie ein weiteres Derivat der al-Qaida, die „Garnison
von al-Aqsa“, überrannten dabei die Frontpositionen der mit der
„Freien Syrischen Armee“ assoziierten Brigade der Kata'ib Shams
al-Shamal (als Teil der Allianz der Fajr al-Hurriya) und zerrieb ihre
Bataillone. Ahrar al-Sham und weitere Milizen aus der Sham Front,
einer Erweiterung der türkeinahen „Islamischen Front“,
kooperierten mit der syrischen al-Qaida. Das aufgeriebene „Nördliche
Bataillon der Sonne“, die kurdische al-Akrad Front (und somit weite
Teile der Allianz „Morgenröte der Freiheit“) sowie Fraktionen
des Harakat Hazzm und der „Syrischen Revolutionsfront“ gründeten
in der Folge die Jaysh al-Thuwar, die „Armee der Revolutionäre“.
Auch die Brigade al-Shamal al-Democrati aus der Bergregion von Idlib,
dem Jabal Zawiya, traf die Aggression der syrischen al-Qaida. Die
Brigadisten, die zuvor als Kritiker der forcierten Jihadisierung aus
der „Syrischen Revolutionsfront“ ausgestoßen wurden, flüchteten
gen Afrin.
Die
„Nördliche Brigade der Demokratie“ und die „Armee der
Revolutionäre“ wurden sodann Teil der militärischen
Dachorganisation der Föderation Nordsyrien. Sie verstehen sich
selbst als Bewahrer einer ursprünglichen „Freien Syrischen Armee“
und kritisieren die Türkei, dass sie die konterrevolutionären Ideen
der al-Nusra Front und anderer jihadistischer Gangs unter der Fassade
einer „(Pseudo-)Freien Syrischen Armee“ tarnt. Die „Armee der
Revolutionäre“ nahm etwa an Befreiung von Rakka sowie an der
Verteidigung von Afrin teil. Die Brigade al-Shamal al-Democrati
scheiterte an dem Unwillen anderer daran, in Idlib einen Militärrat
zu initiieren, um die Region von der türkischen Armee als auch den
salafistisch-jihadistischen Feinden der Revolution zu befreien, ohne
sie dem Regime auszuhändigen. Es ist eines der Elemente der
kursierenden Dolchstoßlegende*, zu leugnen, dass die
anti-jihadistischen Fraktionen der „Freien Syrischen Armee“ Teil
der Föderation sind. Die „Armee der Revolutionäre“ war es auch,
die im Februar 2016 die islamistische Sham Front aus dem Städtchen
Tell Rifaat und von dem Militärflughafen Minaq verdrängte. Tell
Rifaat nahm bis dahin eine Schlüsselfunktion für die Logistik
zwischen der Türkei und den jihadistischen Gangs in Aleppo ein. Sie
kam damit auch dem Regime und der Hezbollah zuvor und bewahrte so die
Hoffnung, die Isolation des Kantons Afrin zu durchbrechen. Die
türkische Armee rächte die alliierte Sham Front und bestrafte das
freie Afrin mit ihren Haubitzen.
Komplementär
zur militärischen Dachorganisation der Föderation Nordsyrien, der
Hêzên Sûriya Demokratîk (bekannt sind sie unter dem englischen
Namen: den Syrian Democratic Forces, SDF), hat sich am 10. Dezember
2015 die politische Dachorganisation des „Demokratischen Rates
Syriens“ (Meclîsa Sûriya Demokratîk, MSD) gegründet. Die darin
organisierten Parteien sehen sich einem säkularen und föderalen
Syrien verpflichtet. Anders als es die Legende von der
„stalinistischen Diktatur der PKK“ erzählt, sind in der
Generalversammlung sowie im Exekutivrat verschiedene Parteien
präsent: etwa die „Assyrische Partei der Einheit“, eine in
Opposition zum Regime der Hizb al-Ba'ath gegründete Partei der
christlichen Assyrer, oder die vor allem arabische „Syrische
Nationale Allianz für Demokratie“, einer Partei, die sich in
Tradition der ursprünglichen Proteste gegen das Regime im
südsyrischen Daraa sieht und assoziiert ist mit der Brigade
al-Shamal al-Democrati.
Die
Wahrheit ist: Die Revolution gegen das Regime der Hizb al-Ba'ath
pervertierte in dem Moment zur Konterrevolution als sie sich
militarisierte und in der Folge jihadisierte. Nicht allein in dem
Werben um Finanzierung durch Saudi-Arabien, Katar oder die Türkei
unterwarf sie sich denselben Mechanismen wie die Shia-Milizen und
Regimeschergen aufseiten des Feindes. Exemplarisch stehen dafür die
Biografien der Milizionäre: Mustafa Sejari – Nicholas A. Heras vom
Center for a New American Security in Washington D.C. nannte ihn vor
einigen Jahren „A Rising Star in Northwest Syria’s Militant
Opposition“ – etwa, der im türkischen Gaziantep das Politbüro
der mit der „Freien Syrischen Armee“ assoziierten Mu'tasim
Division, benannt nach einem Kalifen aus der Dynastie der Abbasiden,
führt und einer der zentralen Figuren bei der Organisierung der
„Nationalen Armee“ ist. Noch als junger Mann rückte Mustafa
Sejari – sein Nom de guerre war Assad al-Islam – in den
Lattakia-Militärrat der „Freien Syrischen Armee“ auf und wurde
alsdann zum Lattakia-Kommandeur der „Syrischen Revolutionsfront“
von Jamal Maarouf** ernannt. Die Ränge in seiner Karriere als
Warlord änderten sich, seine Gesinnung kaum: Amerika hindere die
„muslimische Jugend“ an der Revolution, da es sein Wille sei,
dass „unsere Jugendlichen“ getötet werden. In einer
Vice-Reportage, die der auf Twitter umtriebige Revolutionskader nach
wie vor auf Youtube präsentiert, brüllt er
im März 2014 in der Mitte seiner Milizbrüder: „Wir müssen vor
der ganzen Welt hervorheben, dass wir dies alles nur begonnen haben,
um das Wort Allahs über alles zu bringen. Wir werden den islamischen
Staat durch die Hände der Helden von al-Sham etablieren.“ Nein –
er meinte nicht das Pseudokalifat gleichen Namens, das ihn und seine
Milizen in verlustreiche Revierfehden zwang. Als
Revolutionsfunktionär wurde Mustafa Sefari am 1. Januar 2018 von dem
Middle East Institut nach Washington, D.C. eingeladen. Er warb für
die Finanzierung der türkisch infiltrierten Fraktionen der „Freien
Syrischen Armee“, die den Iran daran hindere, Syrien zu
infiltrieren. Seine Miliz, die Mu'tasim Division, erhielt in den
Jahren zuvor von den US-Amerikanern großzügig Militärmaterial;
heute ist sie eine der von der Türkei privilegierten Milizen der
„Nationalen Armee“.
Zwischen
den Protesten im Irak und Libanon, bei denen vor allem auch die
aggressive Ermächtigung der Staatsapparate durch konfessionelle
Rackets in den Fokus der Kritik gerät, traf der US-amerikanische
Präsident Donald Trump eine fatale Entscheidung, die seiner noch im
Dezember vergangenen Jahres angedrohten „Next door“-Politik folgt
und das nordöstliche Syrien an die östlichen Großmeister der
Rackets und sektiererischen Thugs aushändigt. Die erste Front
stießen in der Folge des US-amerikanischen withdrawal die türkischen
Aggressoren zwischen Tell Abyad und Serê Kaniyê auf, einer Region,
wo der „Islamische Staat“ Jahre zuvor „next door“ zur Türkei
lag. Von hier passierten seine Suizidschwadronen die Grenze
ungehindert, um in Diyarbakır am 6. Juni, in Suruç am 20. Juli und
Ankara am 10. Oktober 2015 vor allem Kritiker des türkischen Regimes
zu massakrieren. Wäre noch Kobanê an den „Islamischen Staat“
gefallen, hätten die Genozideure über einen durchgängigen
Grenzstreifen von mehr als 200 Kilometern mit der Türkei geherrscht.
Als der kurdische Konter-Jihad Tell Abyad befreite, rächte das
türkische Militär die flüchtenden Soldaten des Kalifats mit seiner
Artillerie. Im inzwischen türkisch okkupierten Tell Abyad werden
wieder die Parteigänger des „Islamischen Staates“, unter ihnen
ein Emir des gescheiterten Kalifats, gesichtet.
Wie
aus den Tagen der Okkupierung von Afrin ist in diesen Tagen dieselbe
Plünderungsökonomie zu beobachten. Zu Beginn der türkischen
Militärkampagne „Operation Olivenzweig“ erhob die in Istanbul
sitzende syrische Exil-Ulema in einer Fatwa die Eroberung von Afrin
zur jihadistischen Anstrengung und verhieß die Beutenahme durch die
Frontkämpfer Allahs als islamisch rechtens. Im jüngst okkupierten
Serê Kaniyê hält inzwischen
Essam al-Buwaydhani, Führer der berüchtigten Miliz Jaysh al-Islam,
die Khutba-Predigt, in der er die theologische Rechtsmäßigkeit der
Raubbeute hervorhebt: „Jeder Jihadist muss wissen, dass wir in
diese Region gekommen sind, um sie von den Ungläubigen zu befreien.“
In ihrer früheren Bastion Ost-Ghouta wurde die „Armee des Islams“
als sunnitische Variante der „Shabbiha“, der regimetreuen
Steroid-Miliz, gefürchtet. Erzwungenes Verschwinden säkularer
Regimekritiker wie die „Douma 4“, eine mafiotische
Schmuggelindustrie im isolierten Ost-Ghouta, bestialische Folter –
das ist die „Armee des Islam“, die in diesen Tagen östlich von
Serê Kaniyê in deutschen Panzergefährten des Typs „Leopard
2A4“ posiert.
Wie Syrian Observatory for Human Rights hervorhebt,
folgen die Entführungsindustrie und die Raubökonomie der
jihadistischen Gangs durchaus einem höheren Zweck als der Allahs
Willen: Sie sind der Hebel der demografischen Strategie, mit der die
abtrünnigen Autochthonen aus Afrin und nun auch aus Nordostsyriens
zur Flucht gezwungen werden.
Die imperiale
Aggressivität der Türkei ist wahrlich kein Ausdruck innerer Stärke.
Sie verhält sich viel mehr wie ein von der Krise Getriebener. Das
demografische Tabula rasa, das in den türkischen Protektoraten
verfolgt wird, entspricht einer brutalen Steigerung der
Straßenschlachtung in den abtrünnigen Distrikten im kurdischen
Südosten der Türkei, in Diyarbakır-Sur, Şırnak oder Cizre. Das
türkische Propagandaorgan in Staatshand TRT Haber veröffentlichte
Ende September Details der „new settlement areas“, die in diesen
Tagen von den „Vereinten Nationen“ so ganz neutral geprüft
werden. Die monströse türkische Wohnungsbaubehörde TOKİ werde
demnach den Neubau von etwa 200.000 Einheiten für 24,4 Milliarden
Euro übernehmen. Der fromme Wunsch in Ankara ist es, dass die
Europäische Union im Sinne der Migrationsabwehr das Zubetonieren des
okkupierten Nordsyriens (teil-)finanziert. Nach dem Bekanntwerden der
Details schossen die Aktien der türkischen Beton-Mafia aus Zement-
und Betonproduzenten an der Istanbuler Börse in die Höhe.
Nachdem
jüngst der US-amerikanische Kongress den Genozid an den anatolischen
Armeniern anerkannt hat, begannen die türkische Armee und ihr
islamistisches Frontvieh den Fokus ihrer Aggression auf Tell Tamir –
das außerhalb der 32 Kilometer tiefen „Sicherheitszone“ liegt –
zu richten. Tell Tamir wurde von christlichen Assyrern gegründet,
die die genozidale Verfolgung von 1915 überlebten und aus der
heutigen türkischen Provinz Hakkari nach Irakisch-Kurdistan
flüchteten. Im Jahr 1933 – das britische Mandat über den heutigen
Irak nahm zuvor sein Ende – wurden tausende Assyrer in Semile unter
Führung der irakischen Armee massakriert. Die Überlebenden
flüchteten – auch wenn das französische Mandatsregime über
Syrien mit Internierung und Aushändigung an die Häscher drohte –
nach Nordostsyrien, wo sie auf dem „Hügel der Datteln“ Tell
Tamir bauten. Die türkische Militärkampagne gegen Nordsyrien ist
auch ein Rachefeldzug gegen jene, die die türkische
Großraumexpansion blockieren.
Und
sie ist auch eine Drohung mit dem Grab an die eigene Opposition. Eine Kritik an der
militärischen Aggression ist in der Türkei nahezu verunmöglicht. Die
mehrheitlich kurdische Halkların Demokratik Partisi kann im wahrsten
Sinne des Wortes kaum noch
einen Schritt machen. Ein großer Teil der republikanischen Cumhuriyet Halk
Partisi hat die Militärkampagne begrüßt, ein anderer Teil schweigt oder
wird, wie Sezgin Tanrıkulu, von Erdoğans Rachejustiz verfolgt. Canan
Kaftancıoğlu, die Istanbuler Bezirksvorsitzende der
„Republikanischen Volkspartei“ und Kritikerin des
Nationalchauvinismus – sie muss sich vor Gericht verantworten, da sie in 35 Tweets den Staatspräsidenten und die Türkische
Republik beleidigt und sich der „Propaganda für eine
terroristische Organisation“ schuldig gemacht habe –, kritisierte die Militärkampagne ein wenig schwammig. Sie nahm aber jüngst mit
Sezgin Tanrıkulu an der 760. Aktionswoche der Cumartesi Annelerinin,
den „Samstagsmüttern“, einer Vereinigung von Müttern vor allem
kurdischer „Verschwundener“ aus den bleiernen Jahren der
Konterguerilla, teil. Als am 10. Februar 1999 der von nahezu allen
geliebte Sänger Ahmet Kaya bei einer Gala erklärte, er werde
demnächst auch ein einziges Lied auf kurdisch singen und er widme
die Auszeichnung auch den „Samstagsmüttern“, bewarf ihn das
Publikum bestehend aus der strenglaizistischen Prominenz der
türkischen Kulturindustrie mit dem Tischbesteck. Es buhte ihn
gnadenlos aus und schimpfte ihn einen „Zuhälter mit Vorhaut“.
Serdar Ortaç, der nach Ahmet Kaya sprach, sah in dessen Worten der
Versöhnung die Drohung mit der Spaltung der Republik: „In dieser
Epoche gibt es weder Sultan noch Padischah. Die Türkei ist auf dem
Weg Atatürks. Dieses Vaterland gehört uns, nicht anderen.“
Aufgrund seiner Worte an diesem Abend drohten Ahmet Kaya bis zu 12
Jahre Haft. Nach Morddrohungen und Hetzkampagnen gegen ihn verließ
er im selben Jahr die Türkei und verstarb später im Exil. Im
traditionellen Ressentiment der Laizisten sind Kurden archaische
Untermenschen, willfährige Instrumente imperialistischer Intrigen.
In den Gerüchten der Muslimbrüder dagegen sind Kurden „Ungläubige“
und atheistische Feinde des Islam.
Von
dem Militärflughafen Sarrin, südlich von Kobanî, startete das
Kommando, das Abu Bakr al-Baghdadi tötete. Wenige Tage später wurde
von hier aus der US-amerikanische withdrawal aus dem aggressiv
bedrängten Kobanî ausgeführt.
Was zunächst in Ankara mit dem US-Amerikaner Michael Pence und
später im russischen Soči mit Vladimir Putin ausgehandelt wurde,
ist keine Abwendung der militärischen Aggression in Nordsyrien, die
ihre Quelle allein in der Türkei hat; ausgehandelt wurden einzig die
territoriale Erweiterung der Türkei und die Kapitulation der
Föderation Nordsyrien. Ganz ohne sich der Revolutionsnostalgie
hinzugeben, waren die Gründertage der Föderation ein ebenso
durchdachter wie brillanter Coup d'État, der unzählige
Menschenleben den Klauen der syrischen Katastrophe entriss und ein
Gemeinwesen etablierte, das angesichts des brutalen
Arabisierungsregimes der Hizb al-Ba'ath und der Jihadisierung der
sunnitischen Militanten Versöhnung versprach. Anders als in den
sunnitisch „befreiten“ Zonen wurden die überwältigten Soldaten
nicht gelyncht oder ihnen ähnliche Torturen angetan, für die auch
das Regime berüchtigt ist. Die Insignien des Regimes dagegen wurden
konsequent entfernt, seine nationalchauvinistische Indoktrination aus
den Lehrinstitutionen verbannt. Trotz der erzwungenen
Generalmobilisierung wurde nicht gezögert, der Despotie in der
Keimzelle der Kollektivbestie Staat, der patriarchalen Familie, zu
entgegnen. Noch in jedem befreiten Dorf wurden Frauenzentren zur
Aufklärung und Selbstorganisation gegründet. Heute ist Rojava
wieder den türkischen, iranischen, russischen und syrischen Meistern
der Rackets ausgeliefert, die alle eines gemein haben:
antiimperialistische Propaganda, d. h. organisierte Unmündigkeit,
als projizierte Aggressivität.
* Die
Dolchstoßlegende reproduziert das absurde Gerücht, dass die
Revolution gegen das Regime der Hizb al-Ba'ath daran gescheitert ist,
dass die kurdischen Föderalisten, ihr die Loyalität versagt haben,
als dem Regime drohte, auch das urbane Aleppo zu verlieren. Dabei war
es die rurale Peripherie, aus der im Juli 2012 die sunnitischen
Militanten wie die berüchtigte Harakat Nour al-Din al-Zenki nach
Aleppo einsickerten, um sich in den Betonschluchten einzugraben und
jene als Geisel zu nehmen, die nicht zuvor flüchteten. Als
militärisches Gehirn fungierten vor allem desertierte Militärs. Als
Rekrutierer nahmen Imame und salafistische Wanderprediger eine
zentrale Funktion ein. Als gewiefte Start-up-Unternehmer warben die
Warlords vor allem in Qatar, Saudi-Arabien und der Türkei um
Finanzierung ihrer Milizen, die alsbald ein eigenes ökonomisches
Eigenleben ausbrüteten. Manche Brigade montierte in Aleppo ganze
Fabrikanlagen ab und verkaufte diese in die Türkei. Der Verlust der
Frontposition durch Militante, die ihre Beute schleunigst in das
Hinterland brachten, war ein augenfälliges Phänomen in jenen Tagen.
Die Föderalisten äußerten sich unmissverständlich zu Aleppo, dass
sie für keine Seite Partei einnehmen werden, da beide für Syrien
nur Leid und Devastation brächten. Noch im selben Jahr bedrängte
die al-Nusra Front sowie die mit der „Freien Syrischen Armee“
affiliierte Ahfad al-Rasul Brigade, die „Brigade der Enkel des
Propheten“, das grenznahe Serê Kaniyê. Das Kalkül war es, auch
den Nordosten Syriens in den Abgrund der syrischen Hölle aus
islamistischer Geiselnahme und der Rache des Regimes in Form von
explodierenden Fässern, gefüllt mit Nägeln und Metallsplittern, zu
reißen. Offen flankiert wurden die Aggressoren seitens der Türkei.
**Auch die
„Syrische Revolutionsfront“ von Jamal Maarouf, in deren Reihen
säkulare Nationalisten und islamistische Kader konkurrierten,
zerbrach an den Revierfehden und der aggressiven
Verdrängungsstrategie der al-Nusra Front. Ein Teil der SRF ging in
der al-Nusra Front auf, ein anderer in der Sham Front, einem Upgrade
der „Islamischen Front“. Ein weiterer Teil etablierte im Mai 2015
mit Brigaden, die mit der „Freien Syrischen Armee“ affiliiert
waren, die genannte „Armee der Revolutionäre“.
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