Montag, 18. November 2019

Von Baghdad bis Mashhad – kein weiterer Tag für die khomeinistische Despotie Solidaritätsaufruf mit den Protesten im Irak und Iran



Special Representative of the Secretary-General for Iraq and Head of the United Nations Assistance Mission for Iraq“, nennt sich jenes Amt, das Jeanine Antoinette Hennis-Plasschaert innehat. Die hochrangige Funktionärin der „Vereinten Nationen“ gibt mit Blick auf den Irak den europäischen Weg vor. So äußerte sie über Twitter ihre Sorge, die irakische Ökonomie könne Schaden an den wochenlangen Protesten nehmen. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan dagegen fragt sich als berüchtigter Verschwörungsspekulant, wer sich hinter den Protesten im Irak tarne: „Wir haben eine Vermutung. Wir denken, es könnte auf den Iran überschwappen. Das Bestreben ist es, die islamische Welt zu brechen und einen gegen den anderen auszukontern. Denken Sie daran, dass einige antitürkische Aussagen aus dem Irak kamen“.

Die zentralen Koordinaten der regionalen Expansionsstrategie der khomeinistischen Despotie und ihres „schiitischen Halbmondes“ liegen im Irak und dem Libanon. Seit Jahren vereinnahmen auch in Baghdad und vor allem im Südirak die Parteien und Milizen der politischen Shia die urbanen Fassaden mit ihren tugendterroristischen Drohungen, der immerzu gleichen antizionistischen Hetze, der Märtyrerverehrung als Verächtlichmachung des Lebens und der Forderung nach der keuschen Erscheinung der Frauen unter dem Chador. Es war noch Saddam Hussein höchstpersönlich, der die Krise in Folge der irakisch-iranischen Katastrophe (1980-88) mit frauenfeindlichen Kampagnen exorzierte. Saddam Hussein zerschlug das relativ progressive Familienrecht des Iraks, das etwa verbot, Mädchen und junge Frauen davon abzuhalten, an schulischer Bildung teilzuhaben. Während die Propaganda des Baʿth-Regimes die Frau wieder auf ihre Reproduktionsfunktion verpflichtete, wurden Frauenmorde im Namen der Familienehre de facto legalisiert. Die Todesschwadronen der Saddam-Fedajin ermordeten indessen, bis in die Endjahre des Regimes hinein, Frauen als „Prostituierte“, die die nationale Ehre befleckt hätten – die staatlich geförderte Prostitution war zuvor noch ein florierendes Gewerbe vor allem im Südirak.

Mit dem erhofften Ende der Despotie Saddam Husseins wurden die Frauen Iraks jedoch nicht befreit. Die US-amerikanische Zwangsverwaltung duldete die Etablierung einer Paralleljustiz. Die ent-baʿthifizierten Institutionen wurden zur Beute konfessionalistischer Parteien. Während schiitische Imame in ihren Gangterritorien die Sharia unterhielten, galt in der ruralen Peripherie traditionelles Stammesrecht. Vor allem in Baghdad und dem südirakischen Basra machten schiitische Gangs Jagd auf „unkeusche“ Frauen und ermordeten Hunderte von ihnen. Wenn auch im Irak nach wie vor kein gesetzlicher Verschleierungszwang wie in der Islamischen Republik Iran existiert, so sind sich doch vom „quietistischen“ Großayatollah Ali al-Sistani bis zum national-populistischen Agitator Muqtada al-Sadr alle Alt-Herren der Shia darin einig, dass der Wert einer Frau in der Keuschheit, also in der Verschleierung ihrer Reize liegt. Im Jahr 2014 verbot das Bildungsministerium irakischen Schülerinnen, „tabarruj“ zu praktizieren. Mit dem islamischen Terminus „tabarruj“ werden jene Frauen verächtlich gemacht, die ihre Schönheit außerhalb des Hauses entschleiern. Seither herrscht ein Kleidungszwang, mit dem verunmöglicht werden soll, dass die weiblichen Konturen der Schülerinnen zu erahnen sind. Im vergangenen Jahr kam es zu einer erneuten Serie an Frauenmorden. Die erfolgreiche Instagram-Influencerin Tara Fares war eine jener Frauen, die auf der Straße aufgelauert und ermordet wurden. Shimaa Qasim Abdulrahman, „Miss Iraq 2015“, exilierte nach Jordanien, nachdem sie die Drohung erhalten hatte, das nächste Opfer zu sein. In diesen Tagen tritt Shimaa wieder selbstbewusst auf dem Midan at-Tahrir auf, dem Zentrum der seit Tagen andauernden Straßenproteste in Baghdad. Auf den Fassaden rund um den Midan at-Tahrir ist das Bild ein gänzlich anderes als das der Shia-Milizen. Frauen mit offenem Haar und in revolutionärer Pose sind eines der häufigsten Motive auf dem grauen Beton.


Es ist nicht nur eine Hungerrevolte: Liegt der Konsens der Protestierenden darin, dass herrschende Verelendungsregime zu Fall zubringen, befreit sich in Baghdad die Jugend auch von den tugendterroristischen Zwängen, die in den vergangenen Jahren Festivals und säkulare Festlichkeiten mehr und mehr verunmöglicht haben. Junge Frauen und Männer trotzen in Baghdad der verhängten Sperrstunde, tanzen, singen und inhalieren auf der Straße den Dampf ihrer Wasserpfeifen. „Die Trennung von Staat und Religion ist viel besser als die Trennung von Mann und Frau“, ist einer der Slogans auf dem Midan at-Tahrir, der nicht für alle sprechen mag, aber für viele, die in diesen Tagen auf der Straße ausharren. Junge Pärchen, die ihre Hände halten, sich küssen und dabei vor Barrikaden fotografieren, sind in diesen Tagen im befreiten Zentrum Baghdad alles andere als selten.


Und doch traf bislang der Massenprotest in Europa und anderswo vor allem auf Ignoranz. In Folge der syrischen Katastrophe ist Desillusionierung längst kaltem Desinteresse gewichen. Dabei könnten die Unterschiede zu Syrien kaum augenfälliger sein. Über Syrien lag von Anbeginn der Schatten des innerislamischen Schismas und der regionalen Rivalitäten. Es dauert nicht lange und die militante Opposition unterwarf sich denselben Mechanismen wie das Regime. Start-up-Warlords warben vor allem in Qatar, Saudi-Arabien und der Türkei um Finanzierung ihrer Milizen gegen das ungläubige „Nusairier-Regime“. Imame und salafistische Wanderprediger fungierten als Rekrutierer. Auf Seiten des Feindes fungierten die iranische Revolutionsgarde, die libanesische Hezbollah, die konfessionelle Steroid-Miliz der Shabbiha sowie Shia-Milizen aus dem Irak und anderswoher als Komplementär. Gebrochen wurde mit diesen fatalen Mechanismen der konfessionellen Racketisierung einzig in Rojava, das in diesen Tagen von beiden Seiten in der Existenz bedroht wird. In Baghdad dagegen protestieren sie konfessionsübergreifend und Seite an Seite gegen das Regime, während die Kritik an dem Unwesen der Shia-Milizen und der aggressiven Infiltration des Iraks durch den khomeinistischen Iran im schiitischen Südirak am entschiedensten geäußert wird.


Nach dem Ende der al-Baʿth-Despotie flüchteten viele Iraker in die Blutsurenge konfessioneller Zugehörigkeit. Die Todesschwadronen der politischen Shia sowie die nahezu täglichen suizidalen Massaker der irakischen al-Qaida und ihrer Derivate produzierten eine Atmosphäre permanenter Angst. In Baghdad und anderswo harrten die Iraker in ihren nach Konfessionen getrennten Stadtteilen aus. Im sunnitischen „Islamischen Staat“ kulminierte diese Katastrophe gescheiterter Befreiung. Die Emanzipation der (als schiitisch identifizierten) Jugend vom Milizunwesen und der Shia-Variante eines „Islamischen Staates“ – so etwa der Titel einer frühen Schrift von Ruhollah Khomeini, die aus seinen Vorlesungen im irakischen Najaf besteht – ist der entscheidende Bruch mit dieser Katastrophe. Jene Generation, die ihre Jugend im Schatten islamistischer Blutfehden verbracht hat und die das Rückgrat der Massenproteste ist, ist ermüdet vom sektiererischen Unwesen. An der Universität Basra im Südirak ist der Slogan unmissverständlich: „Nein zu Muqtada (al-Sadr) und Nein zu Hadi (al-Amiri), Nein zu Qais (al-Khazali) und Nein zu Ammar (al-Hakim) – sie sind der Grund der Zerrüttung“. Die Genannten sind die zentralen Figuren rivalisierender Shia-Milizen und ihres Unwesens. „Die Historiografie wird bezeugen, dass US-amerikanische M1 Abrams ihnen (den Shia-Milizen) die Macht über den Irak gebracht und die Tuk-Tuks ihnen die Macht wieder genommen haben“, so ein Banner auf dem Midan at-Tahrir. Im Januar 2015 präsentierte die Kata'ib Hezbollah einen Konvoi aus M1 Abrams & Humvee mit wehenden Flaggen der Shia-Miliz. Die irakische Hezbollah hatte sie vermutlich zuvor von der regulären irakischen Armee und der vom khomeinistischen Iran infiltrierten Regierung in Baghdad erhalten. Die Tuk-Tuks sind jene motorisierten Dreiräder, die am Midan at-Tahrir die Logistik der Proteste übernehmen.


Am Vorabend des 40. Jahrestages der Geiselnahme des US-amerikanischen Diplomatenkorps in Teheran durch die Khomeinisten attackieren Iraker in der „heiligen Stadt“ Karbala, südlich von Baghdad, die iranische Repräsentanz. Sie reißen die Flagge der „Islamischen Republik Iran“ herunter und hissen die des Iraks. Auf der Fassade prangt der Slogan: „Karbala ist frei. Verschwinde Iran“. In Najaf, wo Ruhollah Khomeini früher die revolutionäre Etablierung eines „Islamischen Staates“ lehrte, wird von Protestierenden eigenhändig die „Imam Khomeini Straße“ in „Straße der Gefallenen der Oktoberrevolution“ umbenannt. Und in Baghdad ist der Slogan: „Zur Hölle mit Qasem Soleimani“, jenem Kommandeur der Qods-Pasdaran, die dem Expansionsauftrag weit über die geografischen Grenzen des Irans hinaus verpflichtet ist.

Alle Fotografien von Ziyad Matti (Baghdad, 3. und 13. November)

Das heißt nicht, dass die Proteste xenophob sind. Einer der häufigsten Forderungen – wenn auch mit nationalem Pathos vorgetragen – ist die nach einer Staatsbürgernation, die nicht zur Beute aggressiver Rackets und ihrer Meister wird, deren Agenda aus pathischer Projektion und organisierter Unmündigkeit besteht. Eine ezidische Delegation aus dem Nordirak wird auf dem Midan at-Tahrir überschwänglich begrüßt, während irakische Christen ohne Angst selbstbewusst an den Protesten teilhaben. Die Fassadenbemalung erinnert auch an den Genozid des „Islamischen Staates“ im ezidischen Sinjar-Gebirge.

Im Irak existiert innerhalb der organisierten Shia noch eine relevante „quietistische“ Fraktion um den Großayatollah Ali al-Sistani, die als Mediator zwischen dem Interesse der khomeinistischen Despotie, ihren Satelliten in Baghdad, den fragilen Parteienallianzen und den Protestierenden auftritt. Sie vermag das Potenzial dazu haben, den khomeinistischen Zugriff auf den Irak leicht abzuschwächen und ökonomische wie politische Reformen zu ermöglichen, zugleich droht sie darin, die sozialrevolutionäre Momente vom befreiten Midan at-Tahrir zu absorbieren. Anders im Iran, wo die in Europa beschworene Differenz zwischen Reformern und Prinzipalisten einzig noch eine brüchige Fassade ist, die im Iran selbst kaum noch jemanden täuscht. Fraglich war einzig die Zeit, wann auf Irak und Libanon wieder Massenproteste im Iran folgen würden. Provoziert durch die Entscheidung des Regimes, Benzin zu rationieren und den Literpreis exorbitant anzuheben, brachen im ganzen Iran Straßenproteste aus, bei denen inzwischen viel mehr Städte involviert sind als in allen anderen Jahren zuvor. Es bleibt dabei kein Zweifel übrig, dass die Protestierenden die Verteuerungsentscheidung nicht als einzelne Fehlentscheidung missverstehen. Selbst das Blatt Kayhan, die gepresste Meinung von Ali Khameini, integriert die Entscheidung in die aggressive Strategie, die der Entgrenzung der „Islamischen Revolution“ folgt. Israel, so Kayhan, sei der eigentliche Grund der Verteuerung des Benzins, da ohne die Existenz des Judenstaates auch die Finanzierung der „Achse des Widerstandes“ – also der Hezbollah und Hamas, des syrischen al-Baʿth-Regimes und der irakischen Shia-Milizen – hinfällig wäre. Es kann in der khomeinistischen Despotie keine Politik der Reformen existieren, da der aggressive Entgrenzungsdrang der „Islamischen Revolution“, die antijüdische Projektion und der Hass auf die emanzipierte Frau Fundamente der „Islamischen Republik“ sind. Anders kann sie nicht existieren. Folglich fungiert auch keine Figur innerhalb der Islamischen Republik als Appellationsinstanz für die Protestierenden – anders als noch in dem Jahr 2009 mit Mir-Hossein Mousavi oder dem Kleriker Hossein Ali Montazeri. In diesen Tagen heißt es ebenso „Nieder mit Rouhani“ wie „Nieder mit Khamenei“ und „Nieder mit den Gebrüdern Larijani“. Einzig an Reza Shah erinnern einige Slogans, der 1924 am Klerus gescheitert war, die Republik auszurufen, und dann wenig später als Monarch antrat. Einer der häufigsten Slogans in diesen Stunden ist „Kanonen – Panzer – Feuercracker, das Regime der Akhunda wird (dennoch) verschwinden“. Akhunda ist der geläufige Name für den schiitischen Klerus. Oder „Unabhängigkeit – Freiheit – Iranische Republik“.

Eine junge Frau reißt unter frenetischem Jubel der Umstehenden einen der omnipräsenten Regimebanner, auf denen „Nieder mit Amerika“ propagiert wird, herunter. Die Protestierenden kontern die khomeinistische Katastrophenpolitik in Syrien, dem Irak und Gaza mit dem Slogan: „Unser Geld (aus den Erdölverkäufen) ist verschwunden – es wurde alles an Palästina (an die Hamas und den Jihad) gegeben“. Es wird dabei nicht nur in der Kapitale Tehran protestiert, viel mehr in nahezu allen Städten der gleichnamigen Provinz. In Shahriar wird die monumentale Replik des Fingerrings von Ruhollah Khomeini zerstört, während die Umstehenden rufen: „Habt keine Angst: wir stehen Schulter an Schulter“. In Andisheh gerät die „Imam Ali“-Basis der Basij-Miliz in den Fokus der Protestierenden. In Malard trifft der Zorn den Imam der Khutba-Predigt, der zentralen Institution der Agitation in der Islamischen Republik. Und in Eslamshahr werden Porträts mit dem Antliz von Ali Khamenei verbrannt. Ähnlich in der zentraliranischen Provinz Isfahan. Der Protest umfasst über das Zentrum hinaus nahezu alle in der Provinz liegenden Städte. In Kazerun etwa wird eine Hawza, ein theologisches Seminar der Zwölfer-Shia, niedergebrannt. Unweit der Grenze zum Irak im kurdischen Kermanshah, Ilam und Sanandaj; in Tabriz, Zanjan, Ardabil und Rasht im Nordwesten Irans; in Gorgan und Mashhad im Nordosten; in Birjand im Osten; in Bushehr und Bandar Abbas ganz im Süden – kaum eine Region, die nicht teilhat an den Protesten. Intensiv sind die Proteste auch in Mahshahr, dem logistischen Zentrum der iranischen Petroleumindustrie in der Provinz Khuzestan. Unzählige Filialen von Finanzinstituten, die mit der „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“ affiliiert sind, werden niedergebrannt. Allein in Khorramabad, Provinz Lorestan, werden 44 Filialen beschädigt. In Karaj, Provinz Alborz, wird aus der Flagge der Islamischen Republik der stilisierte Namenszug „Allah“ in Form einer Tulpenblüte – wo das Blut eines Märtyrers der „Islamischen Revolution“ fließt, werde eine Tulpe blühen, so die Staatsmythologie – herausgebrannt. Im khomeinistischen Iran ist es verboten, die Nationalflagge nur auf halbmast zu hissen, da dies eine Respektlosigkeit gegenüber dem Wort „Allah“ auf der Flagge wäre. In diesen Stunden brennt die Flagge der Konterrevolution.

Vom Baghdader Midan at-Tahrir existiert inzwischen eine Solidaritätserklärung mit den Protestierenden im Iran:

"From al-Tahrir Square - Baghdad
You are witnessing nowadays the Iraqi demonstrators, who are revolting against their government, shouting loud slogans that might sometimes seem against Iran.
It is crucial for us that you should be aware of the fact that we Iraqi People only have a genuine love for you.
Our problem is with the Iranian sectarian regime who backs the all corrupt politicians, criminals, and murderers in our current government
Our ambition and only purpose is to get rid of our corrupted rulers, we are also looking forward to strong and stable relations with our Iranian neighbours who deserve a just and civilised government.
Long Live the people
Your Iraqi Brothers and Sisters"

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