Bislang
wollte dieses Europa über das Unwesen der Shia-Milizen nur wenig
wissen, die im Irak mit Massakern und eigener Entführungsindustrie
ein Ende der seit Wochen andauernden Proteste der irakischen Jugend
gegen das herrschende Verelendungsregime mit seinem Unwesen
konfessionalistischer Rackets verfolgen. Dieses Europa wollte kaum
etwas wissen über die hunderten Toten, in deren Schädel sich
metallene Reizgaskanister gebohrt haben; über die auf der Straße
durch Todesschwadronen Hingerichteten. Über den jungen Poeten Safaa
etwa, der in Baghdad durch eine dieser Reizgasgranaten ermordet
wurde. Sein Antlitz prägt die Fassaden des revolutionären Midan
at-Tahrir in Baghdad, es findet sich dagegen keine einzige Erwähnung
seines Namens in irgendeiner deutschsprachigen Reportage.
Gedenken an
Safaa, ermordet am 28. Oktober 2019 (Fotografie: Ziyad Matti)
Um die
Todesschwadronen, die von Baghdad bis Basra gefürchtet und verhasst
sind, ranken keine nebelumschlungenen Gerüchte. Sie haben Namen, die
jedem Iraker bekannt sind: die Badr Korps, die Kata'ib Hezbollah, die
„Bataillone des Imam Ali“, die Khorasani Brigade, die Miliz
Asa'ib Ahl al-Haq von Qais al-Khazali, einer der zentralen Figuren
der konfessionalistischen Gewalt der jüngeren Vergangenheit. Diese
mit dem khomeinistischen Iran assoziierten Shia-Milizen haben den
irakischen Staatskörper und vor allem seine Repressionsorgane längst
infiltriert; sie sind assoziiert mit Parteien der politischen Shia,
haben Abgeordnete im Nationalparlament und in ihren eigenen Reihen
Emissäre der Islamischen Republik Iran. Die Repräsentanten dieser
Milizen denunzierten von Beginn an die sozialrevolutionäre Erhebung
der irakischen Jugend gegen das herrschende Verelendungsregime als
einen „feindlichen Plot“ von US-Amerikanern und Zionisten und
drohen seither mit gnadenloser Rache. Einer dieser Warlords, Abu
Mahdi al-Muhandis, nannte sich selbst einen stolzen Soldaten von
Qasem Soleimani. Doch auch für den Schattenkommandeur dieser
Shia-Milizen, dem Iraner Qasem Soleimani, interessierte sich dieses
Europa bis zu seinem Tode nur in Maßen. Man wusste, wer er ist und
nirgends täuschte man sich darüber, dass er ein Bluthund der
khomeinistischen Despotie ist, der als Kommandeur der berüchtigten
Qods-Pasdaran, jener Staatsguerilla der „Armee der Wächter der
Islamischen Revolution“, die Gewaltarchitektur eines strategisch
verfolgten „schiitischen Halbmondes“ zu verantworten hat. Dieses
Europa wusste also genau soviel, um davon überzeugt zu sein, dass
das Überleben dieses Mannes eine der Schicksalsfragen unserer Tage
sein muss. Je aggressiver die khomeinistische Bestie brüllt, umso
einfühlender und beschwichtigender, nahezu ehrerbietend, reagiert
die Europäische Union gegenüber der Islamischen Republik Iran. Dies
ist das Grundprinzip ihrer Politik unter deutscher Führung, getarnt
als „Deeskalation“ und „kritischer Dialog“.
Inzwischen
meint man in diesem Europa mehr über Qasem Soleimani zu wissen. Er
genieße „bei vielen Iranern Kultstatus“ (Christian Hanelt), sei
ein „Volksheld“ (Stefan Kornelius), kurzum eine „Legende“.
Noch vor seinem Tod hat dieses Europa auch die Protestierenden im
Irak für sich entdeckt. Nein – nicht die seit Wochen in Baghdad,
Nasiriyah und anderswo ausharrenden irakischen Sozialrevolutionäre.
Viele der „schiitischen Demonstranten“, von denen man in Europa
urplötzlich sprach, waren gekleidet in Milizkluft und konnten an der
Seite namhafter Warlords in der militärisch gesicherten Grünen Zone
von Baghdad nahezu ungestört auf einem Teil der US-amerikanischen
Repräsentanz die Flaggen irantreuer Milizen hissen. Wollte man zuvor
von der Emanzipation der (als schiitisch identifizierten) Jugend vom
Milizunwesen und der Shia-Variante eines „Islamischen Staates“
kaum etwas wissen, hatte Europa wieder den Irak vor Augen, der den
eigenen Projektionen entspricht: rasend, getrieben vom Hass auf
Amerika, zu beschwichtigen nur durch diplomatische Einfühlung.
Im
vergangenen November wurden im Iran mehrere hundert Protestierende in
weniger als einer Woche ermordet. Oppositionelle sprechen von etwa
1.500 Getöteten. Ein Body Count höher als in den dunkelsten Tagen
der syrischen Front. Dieses Europa interessierte sich nur wenig für
die Toten. Die Europäische Union in Person von Federica Mogherini
forderte auch von den Regimekritikern, dass „sie friedlich
protestieren“, nachdem etwa die Proteste in Mahshahr, dem
logistischen Zentrum der iranischen Petroleumindustrie in der Provinz
Khuzestan, mit militärischer Wucht begraben wurden. Unweit der
Grenze zum Irak im kurdischen Kermanshah und Ilam; in Tabriz und
Rasht im Nordwesten Irans; in Gorgan und Mashhad im Nordosten; in
Birjand im Osten; in Bushehr und Bandar Abbas ganz im Süden – kaum
eine Region, die nicht teilnahm an den Novemberprotesten. Unzählige
Filialen von Finanzinstituten, die mit der „Armee der Wächter der
Islamischen Revolution“ affiliiert sind, wurden niedergebrannt. In
den Slogans der Protestierenden wurden, wie die Jahre zuvor, vor
allem die Katastrophenpolitik des khomeinistischen Regimes in Syrien,
dem Irak und Gaza kritisiert: „Unser Vermögen (aus den
Erdölverkäufen) ist verschwunden – es wurde alles an Palästina
(an die Hamas und den Jihad) gegeben“. Und nun ist dieses Europa
überzeugt davon, dass der Mann, der wie kein anderer für diese
Katastrophenpolitik stand, im Iran ein nationaler Held sein muss.
Einen „schier
nicht enden wollende(n) Zug von Trauernden“ erblickte fasziniert
„Der Spiegel“, als der Sarg mit Qasem Soleimani aus dem Irak in
das iranische Ahvaz überführt wurde. „Es war ein Meer von
Trauernden“ fieberte die „Süddeutsche Zeitung“ vom
Beerdigungszug durch Teheran. „Der Spiegel“ kitzelte das morbide
Interesse an der Einheit zwischen Masse und Führer mit einem
stundenlangen Livestream vom Trauerzug, der viel mehr einem letzten
Aufgebot des vom khomeinistischen Souverän verhetzten Brüllviehs
glich. Das ARTE Journal verhöhnt jene, die in diesen Tagen im Iran
aufgrund von Blasphemie gegenüber dem Märtyrer Soleimani verhaftet
werden: „Selten waren die Iraner so vereint wie in diesen Tagen“.
Kaum einer hinterfragte in diesem Europa das Offensichtliche:
Massenaufmärsche in der „Islamischen Republik“ folgen einer
totalitären Orchestrierung. Schüler, Staatsbeamte und alle anderen,
deren Anwesenheit leicht zu überprüfen ist, werden gezwungen,
teilzunehmen. Kolonnen von Omnibussen und die Flotte von Mahan Air
bringen die Regimebüttel aus dem ganzen Iran zu den Marschzügen.
Große Teile des Trauerzugs bestanden aus Angehörigen der
verschiedenen Milizen, wie etwa der afghanischen Hezbollah, der
Fatemiyoun Brigade.*
Allein im
urbanen Konglomerat Teheran-Karaj leben 16 Millionen Menschen, in
relativer Nähe liegen weitere Großstädte wie Zanjan, Hamadan, Arak und Qom. Wenn ein totalitärer wie hochmilitarisierter Staat,
in dem etwa 82 Millionen Menschen leben, nicht mehr einige
hunderttausend Getreue und Gezwungene zu einem Aufmarsch, der als
nationale Mobilmachung inszeniert wird, auf die Straße bringen kann,
würde dieser Staat längst nicht mehr existieren. Die Propaganda von
der Masse und die Lüge von der Einheit im Staat der Märtyrer sind
die wirkmächtigsten Instrumente, die die Khomeinisten beherrschen.
Der Spiegel spricht von „mehr als eine Million Menschen“ in
Teheran, was angesichts der logistischen Anstrengungen des
khomeinistischen Staates weiterhin eine Minderheit wäre. Man möge
sich daran erinnern, dass am 15. Juni 2009 nach Aussagen vom
langjährigen Stadtvater Teherans, dem Revolutionsgardisten Mohammad
Bagher Ghalibaf, 3 Millionen Menschen gegen das Regime – also unter
dem Risiko, getötet zu werden – protestierten.
Was auf den
Betrachter wie ein Gewusel und spontaner Prozess der Anteilnahme
wirkte, war in Wahrheit vom khomeinistischen Souverän streng
durchchoreografiert. Anders als die jährlichen Aufmärsche unterlag
der Rachefeldzug für Qasem Soleinmani dem militärischen Gebot der
Stunde. Sinn des Ganzen war es, Einheit zu simulieren in einem Staat,
in dem es jüngst noch brannte, und den US-Amerikanern glaubhaft zu
machen, was die Europäer längst verinnerlicht haben: die
Aussichtslosigkeit eines Regime Change. Oder wie Javad Zarif
gegenüber Donald Trump genüsslich auskostete: „Haben Sie je in
ihrem Leben ein solches Meer von Menschen gesehen? Wollen sie
weiterhin den Clowns zuhören, die Sie bezüglich unserer Region
beraten?“
Es ist
durchaus fragwürdig, dass aus der Tötung von Qasem Soleimani eine
weitere Schwächung der khomeinistischen Despotie und ihrer
Satelliten im „schiitischen Halbmond“ folgen wird. Im Irak haben
die US-Amerikaner in den vergangenen Jahren die Position der
Khomeinisten zumeist gestärkt. Nach dem Ende Saddam Husseins wurden
die ent-baʿthifizierten Institutionen zur Beute der Parteien der
politischen Shia. Die schiitischen Milizen, die zuvor als
Todesschwadronen Sunniten, unkeusche Frauen, als homosexuell
identifizierte Männer und Spirituosenverkäufer terrorisiert haben,
wurden angesichts des „Islamischen Staates“ zu de
facto-Koalitionären gemacht. Die US-amerikanische Feindseligkeit
gegenüber einer Unabhängigkeit Kurdistans im Nordirak und der
Duldung der Einnahme von Kirkuk durch die Kata'ib Hezbollah und
andere Shia-Milizen ermöglichten eine Konsolidierung der irakischen
Staatsruine als Satellitenregime der Islamischen Republik. Einer der
engsten Vertrauten von Ali Khamenei und dessen Chief of Staff,
Mohammad Mohammadi Golpayegani, sprach in jenen Tagen ganz offen aus,
dass es die „Anordnungen des obersten Führers (Khamenei) und die
Anstrengungen des Generals Soleimani“ waren, die den „zionistischen
Plot“ in Kurdistan verhindert hätten.
Spätestens
der Tod von Qasem Soleimani hat enttarnt, dass im irakischen
Nationalparlament das khomeinistische Brüllvieh in Fraktionsstärke
sitzt. Wie lange der anti-US-amerikanische Fraternisierungseffekt
zwischen den rivalisierenden Shia-Milizen – den nationalislamischen
Sadristen und den Khomeinisten – anhält, ist indesen fraglich.
Über die Forderung schiitischer Abgeordneter im irakischen
Nationalparlament nach einem withdrawal des US-amerikanischen
Militärs aus dem Irak schienen sich in Europa nicht wenige zu
erfreuen. Verschwiegen wurde, dass die Sitzung von anderen
Abgeordneten boykottiert wurde. Auf dem revolutionären Midan
at-Tahrir in Baghdad wurde sodann der Slogan „Wir sind Iraker,
dieses Parlament repräsentiert uns nicht“ populär. Ab dem ersten
Tag der Proteste wird dort ein Ende des Milizwesens und der
aggressiven Infiltrierung des Iraks durch den khomeinistischen Iran
gefordert. Von souveränistischen Fraktionen innerhalb der
Protestierenden wird seit längerem auch ein Ende der Präsenz
US-amerikanischen Militärs im Irak sowie der türkischen Armee, die
sich tief in den Nordirak hineingegraben hat, gefordert.
Nach kurzer
Freude in dem Moment, als der Tod von Qasem Soleimani bekannt wurde,
fürchten die irakischen Sozialrevolutionäre nicht ohne Grund, dass
sie das erste Objekt der Rache der khomeinistischen Bestie werden
könnten. Milizionäre streuen das Gerücht, dass in der
US-amerikanischen Repräsentanz Dokumente aufgefunden wurden, die
Namen und weitere persönliche Daten von Oppositionellen enthielten,
die im Dienst der US-Amerikaner stünden. In Wirklichkeit kamen die
Randalierer nicht über den Empfangsbereich der US-amerikanischen
Repräsentanz hinaus. Seit längerem werden die Sozialrevolutionäre
als „The American Joker“ denunziert. Noch am späten 2. Januar,
wenige Stunden vor der Tötung von Qasem Soleimani und Abu Mahdi
al-Muhandis, hatte sich der Verdacht verhärtet, dass ein
Sturmangriff der Kata'ib Hezbollah auf die Protestjugend anstehe. Die
Milizionäre hatten zuvor die Grüne Zone verlassen und sich unweit
jener Brücken aufgehalten, die von den Sozialrevolutionären
okkupiert sind. Der Sturmangriff blieb zunächst aus. Während das
staatlich inszenierte Märtyrerspektakel um Qasem Soleimani Europa in
den Bann zog, rächten sich Shia-Milizionäre an jungen Irakern, die
sich im südirakischen Nasiriyah und Basra weigerten, an Trauerzügen
um Soleimani teilzunehmen. Das alles ist es aber nicht, was Michael
Lüders, Volker Perthes, Jürgen Trittin und andere Deutsche zu
notorischen Mahnern werden lässt. Die Übernahme der
khomeinistischen Propaganda, die Lüge der Einheit des nationalen
Rachekollektivs, verrät vor allem den autistischen Selbstbezug der
Europäer. Sie wollen recht haben in ihrer ständigen Beschwörung
der Eskalationsspirale, um sich als Mediator zu behaupten. Sie sind
dabei bereit, über Leichen zu trampeln.
* Etwa 10.000
Afghanen, die im Iran leben, wurden in den vergangenen Jahren
rekrutiert; der khomeinistische Staat versprach ihnen und ihren
Familien ein Ende der Kriminalisierung ihrer Existenz. Viele von
ihnen starben an der syrischen Front.
** Sowieso
ist so mancher auf dem Midan at-Tahrir zu einer Kritik der
US-amerikanischen Politik fähig, die anders als in Europa nicht
zwanghaft borniert ist. „Die Historiografie wird bezeugen, dass
US-amerikanische M1 Abrams ihnen (den Shia-Milizen) die Macht über
den Irak gebracht und die Tuk-Tuks ihnen die Macht wieder genommen
haben“, so ein Banner auf dem Midan at-Tahrir. Im Januar 2015
präsentierte die khomeinistische Kata'ib Hezbollah einen Konvoi aus
M1 Abrams & Humvee mit wehenden Flaggen der Shia-Miliz. Die
irakische Hezbollah hatte sie vermutlich zuvor von der regulären
irakischen Armee und der vom khomeinistischen Iran infiltrierten
Regierung in Baghdad erhalten.
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