Mittwoch, 10. April 2019

Vom „Festival der Demokratie“ zum „Projekt“ imperialistischer Intriganten - Notizen zum 31. März in der Türkei



Unter dem Präsidialregime Recep Tayyip Erdoğans ist der Schritt zur Urne nicht allein ein Diktat zur demokratischen Legitimierung von Befehl und Gewalt oder, wie es Binali Yıldırım vor seinem Scheitern ausdrückte, ein „Festival der Demokratie“. Der Volkswille, von Erdoğan aufgestachelt und verhetzt, ist dem Liebhaber des Volkes und unzähligen anderen Berufsagitatoren in der Türkei heilig – selbstverständlich nur solange dieser dem eigenen Geltungsdrang entspricht. Auch in den Vortagen des 31. März, an dem das Staatsvolk zur Parteienbesetzung in den kommunalen Institutionen der Republik befragt wurde, nahm Erdoğan sich höchstpersönlich dem Agitieren des nationalen Willens an. Zu seinem Adjutanten machte der Staatspräsident nicht einen der Kandidaten seiner Partei für den 31. März, viel mehr entschied sich Erdoğan für einen Ungläubigen. Einen Tag nach den bestialischen Morden im fernen Christchurch führte Erdoğan während seines Auftritts im westtürkischen Tekirdağ den pathologisch narzisstischen Willen des im rassistischen Wahn mordenden Australiers Brenton Tarrant aus, voyeuristisch teilzuhaben an dessen Kreuzzug. „Schauen wir uns das an“, kommentierte Staatspräsident Erdoğan das von Tarrant mit Action-Camcorder in Echtzeit übertragene Massaker. Auf Brenton Tarrants Blutmarsch folgte auf dem Screen abrupt der Auftritt des Parteivorsitzenden der größten Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, der am Tag zuvor sich in Yalova zu den Morden in Christchurch geäußert hatte und dabei auch daran erinnerte, nicht die durch religiösen Hass zerrissene „Geografie des Islams“ aus den Augen zu verlieren. „Siehe dir diesen unverschämten Mann an, ‹der Terror, der der islamischen Welt entspringt›, sagt er“, geiferte Erdoğan, während sich auf dem Screen Kılıçdaroğlu und der Mörder von Christchurch abwechselten. „So sieht die türkische Opposition aus“, ruft Erdoğan. „Wir müssen verstehen, was es für eine schwere Sünde ist, sich für diesen Mann zu entscheiden, der die Ummah zum Ursprung des Terrors macht. Er wird am 31. März zur Verantwortung gezogen werden.“

Dass am 31. März die aggressive Leichenfledderei Erdoğans nicht verhindert hat, dass seine Partei und die kollaborierende Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) Istanbul, Ankara und weitere Großstädte verloren haben, erhält die Hoffnung zumindest am Leben. Der von ihm denunzierte Oppositionspolitiker Kemal Kılıçdaroğlu, ein der laizistischen Republik verbundener Mann aus einer alevitischen Familie, war in den Jahren zuvor stets daran gescheitert, sobald er dilettantisch mit Erdoğan antizionistisch, pseudo-frömmelnd oder militaristisch in Konkurrenz getreten ist. In den vergangenen Wochen jedoch besannen sich er und seine Partei ganz darauf, sich der ökonomischen Krise und ihren verheerenden Folgen zu widmen. Und doch kann nichts darüber täuschen, dass die historische Partei Mustafa Kemals eine Partei mit stark regionalem Charakter ist, die auf die Küstenprovinzen, den Gürtel um Ankara sowie auf jene anatolischen Distrikte, in denen noch Aleviten leben, beschränkt bleibt. In der inneren Türkei muss Erdoğans Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) wenn überhaupt ihren Partner in crime, die MHP der Grauen Wölfe, sowie deren Abspaltung, die İyi Parti, fürchten. Daran hat sich nichts geändert, viel mehr verhärtet sich die Tristesse von Afyonkarahisar nach Erzurum.

Eine Bedrohung für de facto Staatspartei AKP ist es zweifelsohne, dass dort der Zuspruch zunehmend am Schwinden ist, wo das ökonomische Herz der Türkei schlägt. Am Tropf der kommunalen Institutionen der Großstädte – Istanbul ist wie ein Staat für sich – hängt auch die Klientel der AKP, die Profiteure eines mafiotischen Systems des Zubetonierens. Mag auch der Glaube an die Großartigkeit einer imperialen Türkei dort am virulentesten sein, wo das tägliche Leben zumeist am kümmerlichsten ist, also in der Provinz: die Menschen dort sind den Mächtigen nur das Brüllvieh. Es ist das urbane Moloch, welches das islamomafiotische Regime der AKP nährt.

Während es nach dem Verlust von Istanbul um Erdoğan zunächst still blieb, agitierte die zweite Reihe aggressiv den Volkswillen zur Rache. So etwa Metin Külünk, der Erdoğan seit den Jugendtagen bei der militanten Parteimiliz von Millî Görüş, den Akıncılar, verbunden ist: Hat Külünk bereits in den Vortagen des 31. März eine militärische Okkupation der Türkei beschworen, falls seine Partei verliere, denunziert er nun den in Istanbul erfolgreichen Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu als „trojanisches Pferd“ eines imperialistischen Coups. Bei dieser Intrige von „FETÖ“, US-Amerikanern und „terroristischen Elementen“ unter den Kurden mit Ekrem İmamoğlu als ihrem „Fenster“, so Külünk, öffne ein Szenario von Anarchie und Chaos auf den Straßen die Schleuse zum Einmarsch. Die absurde Anschuldigung, Ekrem İmamoğlu provoziere mit der Bezugnahme auf die von der verfassungsgemäß höchsten Institution der Wahlaufsicht (Yüksek Seçim Kurulu - YSK), veröffentlichen Prozentzahlen Anarchie und Chaos, ist mehr als ein bösartiges Gerücht: es ist projizierte Aggression, die Drohung mit Terror.

Inzwischen denunziert auch Erdoğan den Erfolg von Ekrem İmamoğlu in Istanbul als „organisiertes Verbrechen“. Yeni Şafak aus der mit der Familie Erdoğan verbundenen Albayrak Holding sowie andere Schriftorgane des Agitators schimpfen ihn ebenso panisch wie paranoid als „Projekt“ von „FETÖ“, PKK und US-Amerikanern. Mit dem Verlust von Istanbul und anderen Großstädten bricht der AKP nicht nur ein Teil der institutionellen Fassade ihres islamomafiotischen Regimes weg. Vor allem Istanbul sowie die südtürkischen Provinzhauptstädte Adana und Mersin führen der AKP vor Augen, dass es ihr mit der permanenten Repression nicht gelungen ist, die nächst größte Oppositionspartei, die Halkların Demokratik Partisi (HDP), entscheidend zu schwächen. Die taktische Entscheidung der HDP, in den genannten Büyükşehir Belediyesi keine eigenen Kandidaten zu bewerben und dafür ihre Parteifreunde aufzurufen, sich für jenen Kandidaten der Opposition mit den besten Erfolgsaussichten zu entscheiden, brachte der CHP in den west- und südtürkischen Großstädten, in denen eine große kurdische Diaspora lebt, die Mehrheit.

Es ist erstaunlich wie die HDP angesichts der Masseninhaftnahmen und täglichen Dämonisierungen sich überhaupt noch halten kann. So erhielt sie den höchsten Zuspruch etwa in jenen beiden nordöstlichen Provinzen Kars und Iğdır, in denen neben Kurden auch viele Türken leben, die in dieser Grenzregion traditionell der MHP verbunden sind. In Iğdır hatte zuvor wie die AKP auch die oppositionelle, aber ultranationalistische İyi Parti, Abstand davon genommen, einen eigenen Kandidaten zu bewerben, um İsa Yaşar Tezel von der MHP gegenüber den Herausforderer der „terroristischen Partei“ HDP nicht zu schwächen. Der Graue Wolf verlor trotzdem und twitterte alsdann über eine gegen ihn sich verschwörende „Operation der FETÖ & PKK“.

Im Südosten wurden im September 2016 über 80 Provinz- und Kreisstädte unter Zwangsverwaltung gestellt. Kommunaler Besitz wurde weit unter Marktpreis an den Parteiklüngel oder die paramilitärische Polizei verschoben, Gedenkstatuen zerstört, kurdische, armenische und aramäische Beschriftungen entfernt, in Theatern alsdann der Koran gelehrt. Mit der Asphaltierung von Straßen warb man dagegen um Akzeptanz für die Zwangsverwaltung. Zunächst überlegte man in Ankara, die Zwangsverwalter über den 31. März hinaus im Amt zu belassen und die betroffenen Provinzen von der Befragung des heiligen Volkswillens auszuschließen, wovon das Regime dann doch Abstand nahm. Dafür ließ es mit Ausnahmegenehmigungen, unzählige von Angehörigen der Gendarmerie sowie Soldaten fern ihrer Heimatstädte in den südöstlichen Distrikten an der Urne antreten. Vor allem die militärisch organisierten Polizeieinheiten, wie die berüchtigte PÖH, rekrutieren sich aus ideologisch strammen Grünen und Grauen Wölfen. Allein in Şırnak, unweit der syrischen und irakischen Grenze, spricht man von etwa 12.000 Polizisten und Soldaten am Urnengrab. Şırnak wurde während einer 246 Tage langen Abriegelung im Jahr 2016 stark beschädigt. Bis zu 70 Prozent der Stadt wurden anschließend vom Regime und der mit ihr assoziierten Beton-Mafia kahlgeschlagen. In Şırnak, wo der Zuspruch für die HDP in den vergangenen Jahren noch bei um die 70 Prozent lag, gewann am 31. März der Kandidat der AKP genauso wie in dem für den Einmarsch in den Irak relevanten kurdischen Grenzdistrikt Uludere, wo die HDP in der jüngeren Vergangenheit noch nahezu 90 Prozent des Zuspruchs auf sich vereinte. In anderen Distrikten wie dem im urbanen Diyarbakır zentral liegenden Bağlar und in Teilen der Großstadtkommune Van, wo der Marschschritt an die Urne keinen Gewinn für das Regime brachte, wird den abtrünnigen Kommunalpolitikern das Mandat verweigert, da sie zuvor aufgrund des berüchtigten Konterputsch-Dekrets KHK etwa aus dem Lehramt ausgeschieden sind. Die Mandate gehen auf die am 31. März noch erfolglosen Kandidaten der AKP über.

Eine Opposition, die nicht dezidiert antimilitaristisch ist und mit dem aggressiven Türkentum bricht, wird allerhöchstens eine verkümmerte sein können. Es existiert durchaus auch ein antinationalistischer Flügel in der CHP, der für eine Annäherung an die HDP plädiert. Die Kandidatenpolitik der Republikanischen Volkspartei hat zuletzt aber vor allem den nationalchauvinistischen Flügel bevorzugt. Der für die CHP in Ankara erfolgreiche Mansur Yavaş etwa begann ursprünglich bei der völkischen MHP, später bemühte sich die AKP erfolglos um ihn als Nachfolger des berüchtigter İbrahim Melih Gökçek als Stadtvater Ankaras. Und auch die Istanbuler Hoffnung Ekrem İmamoğlu ist nicht der Kumpel der „terroristischen Partei“ und Moscheefeind als der er von Yeni Şafak denunziert wird. Der Oppositionspolitiker ist selbst familiär verbunden mit der urbanen Beton-Mafia und ist vor allem ein stolztürkischer Volksfreund, der etwa den faschistischen Rudelführer Alparslan Türkeş an dessen Todestag am 4. April lobhudelte. Der republikanische Kommunalpolitiker Gürbüz Çapan dagegen sprach jüngst offen aus, dass auch dem seit dem 3. November 2016 inhaftierten Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, zu danken ist: „Wir haben Istanbul gewonnen und die Distrikte Esenyurt und Küçükçekmece. Daran hat Selahattin Demirtaş, unser Bruder, großen Anteil. Wir haben ihm zu danken.“ Aus Yeni Şafak schrie es sogleich heraus: „Ihre erste Aufgabe war es, Demirtaş, den Direktor der terroristischen Organisation, zu danken.“ Über der Provinzvorsitzenden der Republikanischen Volkspartei in Istanbul, Canan Kaftancıoğlu, ist mehr als eine Denunziationskampagne ergangen, nachdem sie Selahattin Demirtaş gegrüßt hatte und Fotografien von ihr mit dem inhaftierten kurdischen Oppositionspolitiker zu kursieren begannen. Nach ihrer Kritik an dem Slogan „Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals“ und dem Gedenken an das Katastrophenjahr 1915 – sie sprach explizit vom Genozid an den Armeniern („ermeni soykırımı“) – ist Canan Kaftancıoğlu auch in der eigenen Partei nicht unumstritten.

Manch einer hält der AKP noch zugute, dass sie die demokratische Prozedur, die Parteienkonkurrenz und den Schritt an die Urne nicht eliminiert hat und weiterhin das Risiko auf sich nimmt, Verluste zu erleiden. Der faschistische Charakter des Regimes liegt aber ganz anderswo. In Unterschied zu den Getreuen des Ayatollahs im Iran 1979 haben die Muslimbrüder Erdoğans den Apparat nicht revolutionär zerschlagen und einen eigenen nach ihrem Ebenbild begründet; sie haben viel mehr den real existierenden Staat infiltriert und erobert. Der Türkischen Republik ist die Krise seit Anbeginn inhärent, als ein Staat, der die Zerrissenheit zwischen Modernisierung und regressivem Erwachen, urbaner Entfremdung und anatolischer Dorfidiotie, ökonomischer Prosperität und Elend, Säkularisierung und islamischem Geltungsdrang und schließlich die Widersprüchlichkeit zwischen Gründungsmythos, Selbstbild und Realität beständig repressiv überbrückt hat. Die Muslimbrüder Erdoğans haben die düstere Tradition in der Republik, die empirische Uneinigkeit als eine perfide Intrige anderswoher auszutreiben, zum Staatsprogramm gemacht. Das Regime bedurfte bislang den Schritt zur Urne als Mobilisierung des Volkswillens, als Brüllkulisse für die Verächtlichmachung und Demütigung der von allen Seiten halluzinierten Feinde der Nation. Und es bedurfte einer Opposition, solange die Nation, verfleischlicht durch den Führer, über dieser als „Abtrünnige“ und „Vaterlandsverräter“ triumphiert. Zu verhindern wäre also, dass Erdoğan in den kommenden Tagen dem Brüllvieh zuruft, der 31. März ist ein „Geschenk Allahs“ – ganz so wie ihm der 15./16. Juli 2016 eines war.

Eine Opposition, die diesem Regime bedrohlich werden will, muss vor allem auch mit dem Mythos des unschuldigen und betrogenen Volkes brechen und diejenigen, die glücklich sind, weil sie sich Türken nennen, den Spiegel vorhalten, damit sie vor sich selbst erschrecken. Den faschistischen Agitator Erdoğan zu denunzieren, heißt der projektiven Krisenexorzierung zu entsagen und Mündigkeit einzufordern. In etwa so wie die protestierenden Frauen am 8. März in Istanbul, die ihre Pfiffe und Slogans gegen die polizeiliche Repression auch dann nicht einstellten, als der Gebetsruf aus einer nahen Moschee erklang. Nach Erdoğan hätten die Frauen nicht nur den Gebetsruf verächtlich gemacht viel mehr auch noch die blutrote Fahne.

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