Unter dem
Präsidialregime Recep Tayyip Erdoğans ist der Schritt zur Urne nicht allein ein Diktat zur demokratischen Legitimierung von Befehl
und Gewalt oder, wie es Binali Yıldırım vor seinem Scheitern
ausdrückte, ein „Festival der Demokratie“. Der Volkswille, von
Erdoğan aufgestachelt und verhetzt, ist dem Liebhaber des Volkes und
unzähligen anderen Berufsagitatoren in der Türkei heilig –
selbstverständlich nur solange dieser dem eigenen Geltungsdrang
entspricht. Auch in den Vortagen des 31. März, an dem das Staatsvolk
zur Parteienbesetzung in den kommunalen Institutionen der Republik
befragt wurde, nahm Erdoğan sich höchstpersönlich dem Agitieren
des nationalen Willens an. Zu seinem Adjutanten machte der Staatspräsident
nicht einen der Kandidaten seiner Partei für den 31. März, viel
mehr entschied sich Erdoğan für einen Ungläubigen. Einen Tag nach
den bestialischen Morden im fernen Christchurch führte Erdoğan
während seines Auftritts im westtürkischen Tekirdağ den
pathologisch narzisstischen Willen des im rassistischen Wahn
mordenden Australiers Brenton Tarrant aus, voyeuristisch teilzuhaben
an dessen Kreuzzug. „Schauen wir uns das an“, kommentierte
Staatspräsident Erdoğan das von Tarrant mit Action-Camcorder in
Echtzeit übertragene Massaker. Auf Brenton Tarrants Blutmarsch
folgte auf dem Screen abrupt der Auftritt des Parteivorsitzenden der
größten Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), Kemal
Kılıçdaroğlu, der am Tag zuvor sich in Yalova zu den Morden in
Christchurch geäußert hatte und dabei auch daran erinnerte, nicht
die durch religiösen Hass zerrissene „Geografie des Islams“ aus
den Augen zu verlieren. „Siehe dir diesen unverschämten Mann an,
‹der Terror, der der islamischen Welt entspringt›, sagt er“,
geiferte Erdoğan, während sich auf dem Screen Kılıçdaroğlu und
der Mörder von Christchurch abwechselten. „So sieht die türkische
Opposition aus“, ruft Erdoğan. „Wir müssen verstehen, was es
für eine schwere Sünde ist, sich für diesen Mann zu entscheiden,
der die Ummah zum Ursprung des Terrors macht. Er wird am 31. März
zur Verantwortung gezogen werden.“
Dass am 31.
März die aggressive Leichenfledderei Erdoğans nicht verhindert hat,
dass seine Partei und die kollaborierende Milliyetçi Hareket Partisi
(MHP) Istanbul, Ankara und weitere Großstädte verloren haben,
erhält die Hoffnung zumindest am Leben. Der von ihm denunzierte
Oppositionspolitiker Kemal Kılıçdaroğlu, ein der laizistischen
Republik verbundener Mann aus einer alevitischen Familie, war in den
Jahren zuvor stets daran gescheitert, sobald er dilettantisch mit
Erdoğan antizionistisch, pseudo-frömmelnd oder militaristisch in
Konkurrenz getreten ist. In den vergangenen Wochen jedoch besannen
sich er und seine Partei ganz darauf, sich der ökonomischen Krise
und ihren verheerenden Folgen zu widmen. Und doch kann nichts darüber
täuschen, dass die historische Partei Mustafa Kemals eine Partei mit
stark regionalem Charakter ist, die auf die Küstenprovinzen, den
Gürtel um Ankara sowie auf jene anatolischen Distrikte, in denen
noch Aleviten leben, beschränkt bleibt. In der inneren Türkei muss
Erdoğans Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) wenn überhaupt ihren
Partner in crime, die MHP der Grauen Wölfe, sowie deren Abspaltung,
die İyi Parti, fürchten. Daran hat sich nichts geändert, viel mehr
verhärtet sich die Tristesse von Afyonkarahisar nach Erzurum.
Eine
Bedrohung für de facto Staatspartei AKP ist es zweifelsohne, dass
dort der Zuspruch zunehmend am Schwinden ist, wo das ökonomische
Herz der Türkei schlägt. Am Tropf der kommunalen Institutionen der
Großstädte – Istanbul ist wie ein Staat für sich – hängt auch
die Klientel der AKP, die Profiteure eines mafiotischen Systems des
Zubetonierens. Mag auch der Glaube an die Großartigkeit einer
imperialen Türkei dort am virulentesten sein, wo das tägliche Leben
zumeist am kümmerlichsten ist, also in der Provinz: die Menschen
dort sind den Mächtigen nur das Brüllvieh. Es ist das urbane
Moloch, welches das islamomafiotische Regime der AKP nährt.
Während es
nach dem Verlust von Istanbul um Erdoğan zunächst still blieb,
agitierte die zweite Reihe aggressiv den Volkswillen zur Rache. So
etwa Metin Külünk, der Erdoğan seit den Jugendtagen bei der
militanten Parteimiliz von Millî Görüş, den Akıncılar,
verbunden ist: Hat Külünk bereits in den Vortagen des 31. März
eine militärische Okkupation der Türkei beschworen, falls seine
Partei verliere, denunziert er nun den in Istanbul erfolgreichen
Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu als „trojanisches Pferd“
eines imperialistischen Coups. Bei dieser Intrige von „FETÖ“,
US-Amerikanern und „terroristischen Elementen“ unter den Kurden
mit Ekrem İmamoğlu als ihrem „Fenster“, so Külünk, öffne ein
Szenario von Anarchie und Chaos auf den Straßen die Schleuse zum
Einmarsch. Die absurde Anschuldigung, Ekrem İmamoğlu provoziere mit
der Bezugnahme auf die von der verfassungsgemäß höchsten
Institution der Wahlaufsicht (Yüksek Seçim Kurulu - YSK),
veröffentlichen Prozentzahlen Anarchie und Chaos, ist mehr als ein
bösartiges Gerücht: es ist projizierte Aggression, die Drohung mit
Terror.
Inzwischen
denunziert auch Erdoğan den Erfolg von Ekrem İmamoğlu in Istanbul
als „organisiertes Verbrechen“. Yeni Şafak aus der mit der
Familie Erdoğan verbundenen Albayrak Holding sowie andere
Schriftorgane des Agitators schimpfen ihn ebenso panisch wie paranoid
als „Projekt“ von „FETÖ“, PKK und US-Amerikanern. Mit dem
Verlust von Istanbul und anderen Großstädten bricht der AKP nicht
nur ein Teil der institutionellen Fassade ihres islamomafiotischen
Regimes weg. Vor allem Istanbul sowie die südtürkischen
Provinzhauptstädte Adana und Mersin führen der AKP vor Augen, dass
es ihr mit der permanenten Repression nicht gelungen ist, die nächst
größte Oppositionspartei, die Halkların Demokratik Partisi (HDP),
entscheidend zu schwächen. Die taktische Entscheidung der HDP, in
den genannten Büyükşehir Belediyesi keine eigenen Kandidaten zu
bewerben und dafür ihre Parteifreunde aufzurufen, sich für jenen
Kandidaten der Opposition mit den besten Erfolgsaussichten zu
entscheiden, brachte der CHP in den west- und südtürkischen
Großstädten, in denen eine große kurdische Diaspora lebt, die
Mehrheit.
Es ist
erstaunlich wie die HDP angesichts der Masseninhaftnahmen und
täglichen Dämonisierungen sich überhaupt noch halten kann. So
erhielt sie den höchsten Zuspruch etwa in jenen beiden nordöstlichen
Provinzen Kars und Iğdır, in denen neben Kurden auch viele Türken
leben, die in dieser Grenzregion traditionell der MHP verbunden sind.
In Iğdır hatte zuvor wie die AKP auch die oppositionelle, aber
ultranationalistische İyi Parti, Abstand davon genommen, einen
eigenen Kandidaten zu bewerben, um İsa Yaşar Tezel von der MHP
gegenüber den Herausforderer der „terroristischen Partei“ HDP
nicht zu schwächen. Der Graue Wolf verlor trotzdem und twitterte
alsdann über eine gegen ihn sich verschwörende „Operation der
FETÖ & PKK“.
Im Südosten
wurden im September 2016 über 80 Provinz- und Kreisstädte unter
Zwangsverwaltung gestellt. Kommunaler Besitz wurde weit unter
Marktpreis an den Parteiklüngel oder die paramilitärische Polizei
verschoben, Gedenkstatuen zerstört, kurdische, armenische und
aramäische Beschriftungen entfernt, in Theatern alsdann der Koran
gelehrt. Mit der Asphaltierung von Straßen warb man dagegen um
Akzeptanz für die Zwangsverwaltung. Zunächst überlegte man in
Ankara, die Zwangsverwalter über den 31. März hinaus im Amt zu
belassen und die betroffenen Provinzen von der Befragung des heiligen
Volkswillens auszuschließen, wovon das Regime dann doch Abstand
nahm. Dafür ließ es mit Ausnahmegenehmigungen, unzählige von
Angehörigen der Gendarmerie sowie Soldaten fern ihrer Heimatstädte
in den südöstlichen Distrikten an der Urne antreten. Vor allem die
militärisch organisierten Polizeieinheiten, wie die berüchtigte
PÖH, rekrutieren sich aus ideologisch strammen Grünen und Grauen
Wölfen. Allein in Şırnak, unweit der syrischen und irakischen
Grenze, spricht man von etwa 12.000 Polizisten und Soldaten am
Urnengrab. Şırnak wurde während einer 246 Tage langen Abriegelung
im Jahr 2016 stark beschädigt. Bis zu 70 Prozent der Stadt wurden
anschließend vom Regime und der mit ihr assoziierten Beton-Mafia
kahlgeschlagen. In Şırnak, wo der Zuspruch für die HDP in den
vergangenen Jahren noch bei um die 70 Prozent lag, gewann am 31. März
der Kandidat der AKP genauso wie in dem für den Einmarsch in den
Irak relevanten kurdischen Grenzdistrikt Uludere, wo die HDP in der
jüngeren Vergangenheit noch nahezu 90 Prozent des Zuspruchs auf sich
vereinte. In anderen Distrikten wie dem im urbanen Diyarbakır
zentral liegenden Bağlar und in Teilen der Großstadtkommune Van, wo der Marschschritt an die Urne keinen Gewinn für
das Regime brachte, wird den abtrünnigen Kommunalpolitikern das Mandat
verweigert, da sie zuvor aufgrund des berüchtigten
Konterputsch-Dekrets KHK etwa aus dem Lehramt ausgeschieden sind. Die
Mandate gehen auf die am 31. März noch erfolglosen Kandidaten der
AKP über.
Eine
Opposition, die nicht dezidiert antimilitaristisch ist und mit dem
aggressiven Türkentum bricht, wird allerhöchstens eine verkümmerte
sein können. Es existiert durchaus auch ein antinationalistischer
Flügel in der CHP, der für eine Annäherung an die HDP plädiert.
Die Kandidatenpolitik der Republikanischen Volkspartei hat zuletzt
aber vor allem den nationalchauvinistischen Flügel bevorzugt. Der
für die CHP in Ankara erfolgreiche Mansur Yavaş etwa begann
ursprünglich bei der völkischen MHP, später bemühte sich die AKP
erfolglos um ihn als Nachfolger des berüchtigter İbrahim Melih
Gökçek als Stadtvater Ankaras. Und auch die Istanbuler Hoffnung
Ekrem İmamoğlu ist nicht der Kumpel der „terroristischen Partei“
und Moscheefeind als der er von Yeni Şafak denunziert wird. Der
Oppositionspolitiker ist selbst familiär verbunden mit der urbanen
Beton-Mafia und ist vor allem ein stolztürkischer Volksfreund, der etwa
den faschistischen Rudelführer Alparslan Türkeş an dessen Todestag
am 4. April lobhudelte. Der republikanische Kommunalpolitiker Gürbüz
Çapan dagegen sprach jüngst offen aus, dass auch dem seit dem 3.
November 2016 inhaftierten Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş,
zu danken ist: „Wir haben Istanbul gewonnen und die Distrikte
Esenyurt und Küçükçekmece. Daran hat Selahattin Demirtaş, unser
Bruder, großen Anteil. Wir haben ihm zu danken.“ Aus Yeni Şafak
schrie es sogleich heraus: „Ihre erste Aufgabe war es,
Demirtaş, den Direktor der terroristischen Organisation, zu danken.“
Über der Provinzvorsitzenden der Republikanischen Volkspartei in
Istanbul, Canan Kaftancıoğlu, ist mehr als eine
Denunziationskampagne ergangen, nachdem sie Selahattin Demirtaş
gegrüßt hatte und Fotografien von ihr mit dem inhaftierten
kurdischen Oppositionspolitiker zu kursieren begannen. Nach ihrer
Kritik an dem Slogan „Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals“ und
dem Gedenken an das Katastrophenjahr 1915 – sie sprach explizit vom
Genozid an den Armeniern („ermeni soykırımı“) – ist Canan
Kaftancıoğlu auch in der eigenen Partei nicht unumstritten.
Manch einer
hält der AKP noch zugute, dass sie die demokratische Prozedur, die
Parteienkonkurrenz und den Schritt an die Urne nicht eliminiert hat
und weiterhin das Risiko auf sich nimmt, Verluste zu erleiden. Der
faschistische Charakter des Regimes liegt aber ganz anderswo. In
Unterschied zu den Getreuen des Ayatollahs im Iran 1979 haben die
Muslimbrüder Erdoğans den Apparat nicht revolutionär zerschlagen
und einen eigenen nach ihrem Ebenbild begründet; sie haben viel mehr
den real existierenden Staat infiltriert und erobert. Der Türkischen
Republik ist die Krise seit Anbeginn inhärent, als ein Staat, der
die Zerrissenheit zwischen Modernisierung und regressivem Erwachen, urbaner
Entfremdung und anatolischer Dorfidiotie, ökonomischer Prosperität
und Elend, Säkularisierung und islamischem Geltungsdrang und
schließlich die Widersprüchlichkeit zwischen Gründungsmythos,
Selbstbild und Realität beständig repressiv überbrückt hat. Die
Muslimbrüder Erdoğans haben die düstere Tradition in der Republik,
die empirische Uneinigkeit als eine perfide Intrige anderswoher
auszutreiben, zum Staatsprogramm gemacht. Das Regime bedurfte bislang
den Schritt zur Urne als Mobilisierung des Volkswillens, als
Brüllkulisse für die Verächtlichmachung und Demütigung der von
allen Seiten halluzinierten Feinde der Nation. Und es bedurfte einer
Opposition, solange die Nation, verfleischlicht durch den Führer,
über dieser als „Abtrünnige“ und „Vaterlandsverräter“
triumphiert. Zu verhindern wäre also, dass Erdoğan in den kommenden
Tagen dem Brüllvieh zuruft, der 31. März ist ein „Geschenk
Allahs“ – ganz so wie ihm der 15./16. Juli 2016 eines war.
Eine
Opposition, die diesem Regime bedrohlich werden will, muss vor allem
auch mit dem Mythos des unschuldigen und betrogenen Volkes brechen
und diejenigen, die glücklich sind, weil sie sich Türken nennen, den Spiegel vorhalten, damit sie vor sich selbst
erschrecken. Den faschistischen Agitator Erdoğan zu denunzieren,
heißt der projektiven Krisenexorzierung zu entsagen und Mündigkeit
einzufordern. In etwa so wie die protestierenden Frauen am 8. März
in Istanbul, die ihre Pfiffe und Slogans gegen die polizeiliche
Repression auch dann nicht einstellten, als der Gebetsruf aus einer
nahen Moschee erklang. Nach Erdoğan hätten die Frauen nicht nur den
Gebetsruf verächtlich gemacht viel mehr auch noch die blutrote
Fahne.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen