Sonntag, 13. Januar 2019

Next door Idlib – Beobachtungen von der Südgrenze des Nordatlantikpaktes



Trump Is Right on Syria. Turkey Can Get the Job Done. There will be no victory for the terrorists.“
(Recep Tayyip Erdoğan als Gastautor der New York Times, 7. Januar 2019)

Bolton hat einen schwerwiegenden Fehler gemacht und wer auch immer so denkt, hat auch einen Fehler gemacht. In dieser Angelegenheit können wir keine Kompromisse eingehen.“
(Erdoğan über John Bolton, der zaghaft Sicherheitsgarantien für die kurdischen Alliierten einforderte.)

Während Donald Trump davon fantasiert, dass „Präsident Erdoğan“ ausrotten wird, was vom „Islamischen Staat“ übrig geblieben ist, übernehmen die Derivate der syrischen al-Qaida die Provinz Idlib nahezu in Gänze sowie Teile der Provinzen Hama und Aleppo und verleiben sich dort auch die ersten Dörfer im Distrikt Afrin ein. Die türkische Armee, die in Idlib stationiert ist, verharrt in Passivität, während die türkeiloyale „Nationale Befreiungsfront“ in die Flucht geschlagen wird. Selbst angesichts der Konfrontationen in Grenzdörfern wie Atmeh schreitet die türkische Armee nicht ein. Anders als ihre Helden in Afghanistan, die noch gezwungen waren, sich in Höhlen zu tarnen, herrschen die syrischen Derivate von al-Qaida nun über ein expandierendes Territorium entlang eines Teils der Südgrenze des Nordatlantikpakts. Die stärksten Verbände innerhalb der türkeinahen „Nationalen Front“ – Ahrar al-Sham und die den Muslimbrüdern nahen Faylaq al-Sham – eroberten noch im März 2015 Seite an Seite mit der syrischen al-Qaida, der al-Nusra Front, und unter dem Namen Jaysh al-Fatah die Stadt Idlib. Fusionsgespräche scheiterten schlussendlich am nationalistischen Flügel von Ahrar al-Sham, den ständigen Gerüchten über feindselige Intrigen und der sektiererischen Aggressivität gegenüber Brigaden, die nicht dieselbe Radikalität im Glauben teilen.

Über die Gründe der türkischen Passivität mag spekuliert werden – doch zweifelsohne rufen die vergangenen Tage Erinnerungen an den Fall von Aleppo-Stadt Ende des Jahres 2016 hervor. Die Einnahme des urbanen Ostens von Aleppo durch die Loyalisten Bashar al-Assads war weniger die zwingende Konsequenz militärischer Überlegenheit als die der drückenden Abhängigkeit der sunnitischen Militanten von der Türkei. Die Milizionäre der ahl as-sunna mögen darauf vertraut haben, dass der türkische Militäreinmarsch in Nordsyrien auch einen Korridor in das östliche Aleppo schlagen werde, in Wahrheit aber drängte Erdoğan, der mächtigste sunnitische Warlord in Syrien, die Militanten in Aleppo dazu, die urbane Front aufzugeben und in die nördlich gelegene Periphere abzusickern, wo die türkische Militärkampagne Fırat Kalkanı, das „Schild des Euphrats“, einzig noch die Verhinderung der territorialen Integrität eines säkularen und föderalen Nordsyriens verfolgte, doch längst nicht mehr eine direkte Konfrontation mit dem Damaszener Regime. Wie in jenen Tagen des Falls von Aleppo liegt die Vermutung nahe, dass Erdoğan dem Großmeister der Warlords, Vladimir Putin, Idlib überlässt, um in Manbij ermächtigt zu werden, eine weitere Militärkampagne zur Vernichtung der Föderation der Abtrünnigen zu beginnen.

Die Anwesenheit rivalisierender Akteure in der Provinz Idlib – unter ihnen auch Brigaden der „Freien Syrischen Armee“ – ermöglichte es bislang noch, dass manche Kleinstädte wie Atarib, Kafr Nabl oder Maarrat al-Nu'man zivile Strukturen verteidigen konnten, die nicht vollends vereinnahmt sind von der herrschenden islamomafiotischen Milizökonomie. Doch während der türkische Warlord Erdoğan als Gastautor der ehrwürdigen New York Times sich bei „Human Rights Watch“ zu bewerben schien, eroberte am Vortag die syrische al-Qaida das Städtchen Atarib. Vor einem Jahr beschwor Erdoğan – und die Führung der strenglaizistischen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) log mit ihm – die Einnahme von Afrin, zuvor ein säkulares Refugium und friedliebendes Binnenexil für Hunderttausende Syrer, als humanistische Geste: „Zunächst werden wir die Wurzeln der Terroristen abtöten, dann werden wir Afrin wieder lebenswert machen. Für wen? Für die 3,5 Millionen Syrer, die wir in unserem Land bewirten.“ Heute sieht die türkische Armee unaufgeregt zu, wie sich die syrische al-Qaida Dörfer im Süden des Distrikts Afrin krallt. Unterdessen werden syrische Kurden aus Afrin vor türkische Gerichte gezerrt und der „Zerstörung der Einheit des türkischen Staates“ beschuldigt und droht weiteren Abgeordneten der Halkların Demokratik Partisi (HDP) die Aufhebung der Immunität, weil sie gegen die Hinrichtung des iranischen Kurden Ramin Hossein Panahi protestiert haben. Zur Wahrheit über die türkische Katastrophe gehört auch, dass es der Dunstkreis der ultranationalistischen, aber islamskeptischen „Partei des Vaterlands“ ist, der am hysterischsten eine weitere Militärkampagne gegen das föderale Nordsyrien herbeibrüllt.

Man sollte sich daran erinnern, wofür genau die Anklage des türkischen Staates 142 Jahre Haft für den Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş fordert. Die schwerste Anschuldigung in der Anklageschrift betrifft die Herbsttage des Jahres 2014, als der „Islamische Staat“ nur noch wenige Straßenzüge davon entfernt war, die syrisch-türkische Grenzstadt Kobanê einzunehmen. Wochen zuvor überrannten die Soldaten des Kalifats die nordirakische Sinjar-Region, nahmen Kinder und Frauen zu Sklaven und ermordeten jene männlichen Eziden, denen nicht die Flucht gelang. Die genozidale Drohung, die sich dem kurdischen Kobanê Meter für Meter näherte, konnte von niemandem mehr geleugnet werden. Selahattin Demirtaş, der nunmehr seit dem 3. November 2016 inhaftiert ist, rief in jenen Herbsttagen zu gewaltfreien Protesten auf – für Solidarität mit Kobanê und gegen die Repression jenen gegenüber, die Kobanê verteidigten. Die türkische Anklage macht daraus „Volksverhetzung und Aufstachelung zur Gewalt“.

Wäre in diesen Tagen Kobanê an den „Islamischen Staat“ gefallen, hätten die Genozideure über einen durchgängigen Grenzstreifen von mehr als 200 Kilometern mit der Türkei geherrscht. Mit den Soldaten des Kalifats, darüber täuschte sich niemand in Ankara, ist Damaskus nicht zu erobern. Viel mehr begann der „Islamische Staat“ auch jene sunnitischen Militanten, denen die ausgiebige Generosität der Türkei gilt, in aufreibende Revierfehden um Territorien, Rekruten und theologische Reinheit zu zwingen. Und doch folgen die türkeinahe nationaljihadistische Islamische Front, die Brigaden der „Freien Syrischen Armee“, die syrische al-Qaida und der „Islamische Staat“ einem ähnlichen Koordinatensystem: Die Übernahme der Kontrolle über weitflächige Grenzstreifen oder gar Grenzübergänge zur Türkei war und ist eine der priorisierten Beuten der syrischen Katastrophe. Eine Schleuse zur Türkei garantiert ein logistisches Nadelöhr und stößt die Pforte zu einer lukrativen Schmuggelökonomie auf. Der Grenzübergang Bab al-Hawa etwa, der den syrischen M45 Highway von Aleppo nach İskenderun verlängert, wurde am 19. Juli 2012 von der „Freien Syrischen Armee“ unter Kontrolle gebracht. Im Dezember 2013 wurde sie von den syrischen Taliban der Ahrar al-Sham (als Mitglied der inzwischen nicht mehr existenten Islamischen Front) verdrängt, die im Juli 2017 dann vor der syrischen al-Qaida via Bab al-Hawa in die Türkei flüchteten.

Die syrische Katastrophe reizte in der Türkei eine Hochkonjunktur islamischer und panturanistischer Nichtregierungsorganisationen an. In der syrischen Hölle, wo das Aushungern eine zentrale Strategie des Regimes von Bashar al-Assad war und Menschen über Jahre auf wenigen Quadratkilometern eingeschlossen blieben, entschied über Loyalität und Rekrutierung als erstes ein funktionierendes Distributionssystem in den eingeschlossenen Distrikten. Wer die Mehlmühlen und Brotstuben kontrolliert, erzwingt Hörigkeit. Graswurzeljihadisten – humanistisch geschmückt als Caritas – wie İHH İnsani Yardım Vakfı, İmkander und İyilikder mit Nähe zum Staat der Muslimbrüder, Grüne Wölfe wie Yesevi Yardım aber auch klandestine Moscheen und diskrete Schleuser des „Islamischen Staates“ begründeten den logistischen Unterbau der sunnitischen Militanten in Syrien.

Doch wenden wir uns wieder den Herbsttagen des Jahres 2014 zu. Die türkischen Panzergrenadierbataillone, die selbst bei friendly fire durch den „Islamischen Staat“ geduldig auf den an Kobanê angrenzenden Hügeln ausharrten, bildeten einzig die absurde Kulisse für eine „next door“-Politik, die so ganz anders gemeint sein muss als von Donald Trump in diesen Tagen. Die Proteste gegen die türkische Passivität gegenüber dem „Islamischen Staat“ und dem aggressiven Einschreiten jenen gegenüber, die von der Türkei aus nach Kobanê wollten, um die Grenzstadt zu verteidigen, eskalierten alsdann. In Gaziantep und anderswo verbrüderten sich Polizisten mit militanten Grauen Wölfen, die Protestierende hetzten. Im laizistischen İzmir-Bornova traktierte eine nationalchauvinistische Rotte unter „Allahu ekber“-Gebrüll und dem Wolfsgruß den stark blutenden und leblos wirkenden Ekrem Kaçaroğlu, dem zuvor das gegossene Blei eines Polizisten traf. Der Kurde verlor Tage später sein Leben.

Doch am mörderischsten eskalierten die Proteste im Südosten, wo Freunde eines freien Rojavas auf Parteigänger der kurdischen Hizbullah trafen. Auch hier kam es zum Schulterschluss zwischen Polizisten und den militanten Feinden eines säkularen Kobanê. Einer ihrer (vermutlich im Iran oder im Libanon lebenden) Führungskader, Edip Gümüş, äußerte sich zuvor über den „Islamischen Staat“: „Diejenigen, die sagen, dass sie Muslime sind, können nicht unsere Feinde sein“. Die Hizbullah begann in den Jahren 1979 - 1980 als von Ruhollah Khomeini inspirierter sunnitischer Zirkel zur (Re-)Missionierung der mit Unglauben und Degeneration konfrontierten Kurden und endete als militante Todesschwadrone, die unzählige Abtrünnige bestialisch folterte und ermordete und „unkeusche“ Frauen mit Säure verätzte.

Im folgenden Jahr sollten die Schläferzellen des „Islamischen Staates“ in der Türkei selbst zu schlagen: am 6. Juni in Diyarbakır, am 20. Juli in Suruç, der Schwesterstadt von Kobanê, am 10. Oktober in Ankara. Die Toten waren ausnahmslos Oppositionelle, zumeist Parteigänger der HDP von Selahattin Demirtaş.


(Wer irritiert ist, dass in diesen Beobachtungen die deutsche Politik nicht vorkommt: das Auswärtige Amt bastelt an der baldigen Funktionsfähigkeit einer „Special-purpose entity“, eines eigenen Zahlungssystems, das das Business mit den khomeinistischen Mördern im Iran über ein Clearinghaus jenseits der internationalen Finanzmärkte ermöglichen soll. Man muss eben Prioritäten haben.)

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