Im Europa der penetranten Selbstinszenierung guter Gesinnung kümmert es augenscheinlich nur wenig, wenn jene, deren Widerstand gegen die Barbarei mehr als narzisstische Selbstbespiegelung ist, massakriert werden. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es in diesen Tagen angesichts der neuerlichen türkischen Aggression gegen das vor allem kurdische Nordsyrien ein wenig lustlos: „Es gibt ein Recht auf Selbstverteidigung“. Die Charakterfratzen aus dem Auswärtigen Amt meinen natürlich den Aggressor; nur nicht jene, die von türkischer Artillerie und Bayraktar-Drohnen tagtäglich terrorisiert werden. Während der territoriale Eroberungsdrang nach außen und der nationalchauvinistisch-repressive Kitt der Fraktionierung der blutroten Republik nach innen weiterhin unter das „Recht auf Selbstverteidigung“ gefasst werden, hat die syrische al-Qaida die Rivalität unter den islamistischen Rackets vorerst für sich entschieden und ist unter Aufsicht der türkischen Armee in das okkupierte Afrin einmarschiert. Ach so – das Auswärtige Amt mache sich auch „sehr große Sorgen“ um Kollateralschäden.
Es ist nicht ganz zufällig, dass die permanente türkische Aggression gegen Nordsyrien sich nunmehr wieder rasant steigert, wo auch die islamofaschistische Despotie Irans übergegangen ist, durch Militarisierung und „Allahu Akbar“ brüllende Todesschwadronen in Kurdistan die revolutionäre Erhebung niederzuschmettern. Parallel zur türkischen Aggression terrorisiert das Khamenei-Regime mit Fateh-110-Missiles und den berüchtigten Kamikazedrohnen das irakische Kurdistan, wo sich die „Demokratische Partei Kurdistan-Iran“ (PDKI) und andere regimefeindliche Parteien reorganisiert haben sowie viele Geflüchtete aus dem Iran ausharren.
Dass diese Achse des Todes ihre ganz eigene Krise an den Kurden exorziert, ist ebenso wenig zufällig. Ruhollah Khomeini denunzierte die Kurden als „Verräter“ und „Ungläubige“. Die PDKI wurde von Khomeini als „Partei des Teufels geschmäht; ihre Parteivorsitzenden wurden von Regimeschergen in Wien und Berlin ermordet. In der khomeinistischen wie auch türkischen Propaganda ist das Gerücht über die Kurden als Verräter am Staat und Ungläubige des ideologischen Heilsversprechens unverhüllt antisemitisch: so ist das Bild eines sezessionistischen Kurdistans als Intrige eines projizierten „Großisraels“ virulent.
Am 17. September eskalierten im kurdischen Saqqez, der Heimat der von den Tugendwächtern ermordeten Mahsa Amini, die Proteste gegen das misogyne Regime zur revolutionären Erhebung. Noch während der Beerdigung der jungen Frau, die von ihrer Familie mit ihrem kurdischen Namen Jina gerufen wurde, rissen sich anwesende Frauen den Zwangsschleier vom Haar und riefen die Slogans „Frau, Leben, Freiheit“ und „Ich werde denjenigen töten, wer meine Schwester getötet hat“. In Sanandaj, wo sich die Jugend noch am selben Tag erhoben hatte, wurden unzählige Schleier verbrannt und – ganz nebenbei – auch die Beschilderung der „Palästina Straße“ aus dem Asphalt gerissen. Am 19. September wurde dann zum Generalstreik in Kurdistan gerufen. In Kurdistan-Iran kam es bereits in den Vorjahren zu Protesten unter dem Ruf „Frau, Leben, Freiheit“, wie etwa nach dem Mord an Farinaz Khosravani in Mahabad, doch anders als zuvor kam nun auch die Jugend in allen anderen Teilen Irans auf die Straße.
Die militärische Reaktion des Regimes gründet vor allem auch darin, dass in Kurdistan-Iran seit nunmehr über 70 Tage die Grundzüge der Revolution vorgeführt werden: 1. ein ausdauernder Generalstreik, 2. die Beteiligung der ruralen Peripherie, um die Beweglichkeit der Repressionsmaschinerie zwischen den urbanen Zentren zu erlahmen, 3. die militante Organisierung der Jugend sowie die Identifizierung der Kollaborateure des Regimes. Schwere Konfrontationen erschüttern ganz Kurdistan-Iran, nahezu Tag für Tag, in Oshnavieh, Piranshahr, Sardasht, Saqqez, Divandarreh, Marivan, Sanandaj, Dehgolan, Oorveh, Kamyaran, Ravansar und so weiter. Dass das Regime zunächst am relativ kleinen Javanrud sein konterrevolutionäres Potenzial veranschaulicht hat, spricht dafür, dass es angesichts der revolutionären Entschlossenheit in Kurdistan durchaus geschwächt ist. Die Peripherie von Javanrud ist hügelig, mit Sperrung der wenigen Straßen, die aus dem Provinzstädtchen herausführen, hat das Regime Javanrud in eine totale Isolation gezwungen. Inzwischen ist die Wächterarmee mit ihren Toyota-Pickups, auf deren Pritschen schwere MGs aufgebracht sind, in nahezu ganz Iranisch-Kurdistan präsent. In Sanandaj und Saqqez dagegen herrscht trotz dieser bleiernen Repression nach wie vor keine Grabesruhe.
Das islamofaschistische Regime spekuliert, dass mit dem militärischen Szenario der Konterrevolution auch das europäische Interesse rapide schwinden wird. Angesichts der sich ausweitenden Militarisierung werden sich jene selbsternannten „Iran-Analysten“ bestätigt fühlen, die der Meinung sind, dass eine Revolution sowieso nur mit noch trümmerreicheren Katastrophen drohe. Und auch das zunächst überraschend große Interesse der Kulturindustrie wird dahinschwinden, sobald die Sequenzen aus dem Iran mehr und mehr der Straßenschlachtung etwa im syrischen Homs ähneln werden.
Unlängst hatte etwa Charlotte Wiedemann in der Taz ein Szenario von Anarchie und Regierungslosigkeit beschworen, wenn das „jetzige System implodiert“. In ihr steige die Beklemmung auf, dass der Iran angesichts der Unruhen „entweder einer Militärdiktatur oder einem Staatszerfall entgegen“ schreitet. Das Geraune von einer drohenden Militärdiktatur täuscht darüber, dass die „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“, kurzum die Sepah, längst das zentrale Racket in dieser islamofaschistischen Attrappe einer Republik ist. In den durstigen Provinzen des Irans, in Khuzestan und Lorestan etwa, ist sie als „Wassermafia“ bekannt, anderswo ruft man sie verächtlich, wie in einem populären Revolutionsslogan, als „unseren Islamischen Staat (Daesh)“. Die pseudo-republikanische Institution der „Islamischen beratenden Versammlung“ indessen ist nicht viel mehr als die Brüllkulisse des Regimes. Unlängst haben 227 von 290 Mitgliedern der Versammlung gefordert, dass gegen die inhaftierten Revolutionäre als „Feinde Allahs“ ein „göttlicher Schuldspruch“ gesprochen werden müsse. Auf den Schuldspruch „Feindseligkeit gegen Allah“, Moharebeh, folgt in der Islamischen Republik zuallermeist die Hinrichtung.
Mit einer ähnlichen militärischen Wucht wie in diesen Tagen in Kurdistan und Belutschistan schlug das Regime auch während des blutigen Novembers im Jahr 2019 in der Provinz Khuzestan ein. Die Massenproteste in der südwestlichen Provinz Irans, aus der das Regime seine fossile Potenz erhält, konterte die Wächterarmee innerhalb wenige Tage mit einem Massaker in der Hafenstadt Mahshahr. Zwischen dem 15. und 17. November hat sich der Bloody Aban von 2019 gejährt. Über klandestine, aber weit verzweigte Strukturen wurde in den Vortagen zu einem revolutionären Gedenken an die Morde aufgerufen. Schülerinnen etwa beschrieben unzählige Papierzettelchen mit der Hand, um sie an ihre Mitschülerinnen zu verteilen. An den Universitäten und in nahezu ganz Kurdistan-Iran wurde erneut erfolgreich zum Ausstand aufgerufen, aber auch der Große Bazar in Teheran und das Gewerbe in Mashhad, Isfahan, Tabriz und anderswo wurden bestreikt. Wer hier keine organisierte Front gegen das Regime erkennen vermag, will sie nicht erkennen.
Die Wucht, mit der die Aufrufe selbst Kleinstädte erfasst hat, blamiert jene deutsche Pseudo-Expertise, die weiterhin keine „kritische Masse“ zu erkennen vermag. Vor allem in den südiranischen Provinzen Hormozgan und Fars, der zentraliranischen Provinz Isfahan und den nordiranischen Provinzen Gilan und Mazandaran konfrontierte auch die Bevölkerung vieler Provinzstädtchen massenhaft die islamofaschistische Staatsbestie. In Dashti (Hormozgan) etwa, wo weniger als 5.000 Menschen leben, beteiligte sich nahezu das ganze Städtchen an der Beerdigung des am Vortag ermordeten Revolutionäres Hamed Melai. Im zentraliranischen Khomein in der Provinz Markazi schlugen Flammen aus dem musealen Geburtshaus von Ruhollah Khomeini, während antiklerikale Slogans durch die Dunkelheit hallten. In Qom wurden Molotowcocktails gegen das Islamische Seminar geschleudert, jene ranghöchste Institution frömmelnder Gelehrigkeit im Iran. In Izeh (Provinz Khuzestan) und anderswo wurden die Islamischen Seminare niedergebrannt. Bei der Beerdigung von Kian Pirfalak, der am 16. November in Izeh ermordet wurde, riefen die Anwesenden dem Imam entgegen: „Die Bakhtiari haben kein Gebetsritual“.
Nachdem am 19. November das Regime aus weiten Teilen von Mahabad hinausgedrängt wurde, unterbrach dieses die Elektrizitätsversorgung und begann mit seiner militärischen Kampagne in Kurdistan. Es folgten die Massaker in Javanrud und Piranshahr an jenen, die sich zuvor in Massen an den Trauerversammlungen für die am Vortag Ermordeten beteiligt hatten. Es ist eine bösartige Tradition der islamofaschistischen Despotie, die toten Körper der Ermordeten zu rauben und sie hastig zu verscharren. Oder die Familien mit mafiotischen Taktiken wie der Geiselhaft von Angehörigen dazu zu drängen, ihre Toten im Stillen zu beerdigen.
Das revolutionäre Mahabad, 19. November
In diesen Tagen bemüht sich das Regime angesichts des World Cup in Katar den nationalchauvinistischen Furor herauszukitzeln – bislang mit wenig Erfolg. Das Regime kann nicht mehr auf die Getrenntheit der Iranerinnen und Iraner vertrauen. So werden seit Tagen bei Solidaritätsprotesten in Teheran, Mashhad oder Karaj Slogans gerufen wie „Kurdistan, Zahedan (Belutschistan) – Auge und Licht des Irans“. Und während der schweren Konfrontationen in Belutschistan mit ähnlich vielen Ermordeten wie in Kurdistan heißt es: „Kurdistan, Kurdistan, wir unterstützen dich“.
In diesem Sinne:
Solidarität mit den Revolutionären in Kurdistan und anderswo im Iran,
Tod der islamofaschistischen Despotie!
Azadi!
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