Man erinnere sich an die Novembertage 2019 als der Zorn über das tagtägliche Verelendungsregime zur revolutionären Erhebung im Iran eskalierte, die das Regime allein noch mit gegossenem Blei und hunderten Toten kontern konnte. In jenen Tagen empfahl in der Tagesschau eine Karin Senz, die Regimegegner mit ihren Mördern allein zu lassen; an sie zu denken und Anteil zu nehmen, aber schweigend auszuharren. Europa, so die ARD-Korrespondentin, müsse sich vorrangig darauf konzentrieren, die als Vertragswerk niedergeschriebene Erpressung der Khomeinisten, also die Reduzierung der Urananreicherung gegen Business, zur Geltung zu bringen. Dafür bedürfe es „große (europäische) Diplomaten“.
Nachdem im November 2019 das Regime den blutigen „Sieg“ über die „Verschwörung der Feinde“ ausgerufen und die Unruhen im Iran für beendet erklärt hat, indem es „die Rädelsführer“ identifiziert und verhaftet habe, brach das deutsche Auswärtige Amt sein tagelanges Schweigen und mahnte an – ohne den Schlächtern nahezutreten: „Das Recht auf friedlichen Protest muss gewahrt sein.“ Auch die Europäische Union schwieg sich bis dahin eisern aus.
Es scheint nach wie vor eine Herzenssache mancher Deutscher zu sein, die Iranerinnen und Iraner mit dem „Islamischen Staat“ (so der Titel einer Vorlesungssammlung des Staatsgründers Ruhollah Khomeini) zu versöhnen. So raunt in diesen Tagen Jörg Brase, ZDF-Korrespondent, dass es im Iran „Potenzial geben“ könnte, „Reformen im Parlament zu diskutieren“. Wo in allen Provinzen des Irans über Tage Slogans wie „Tod der Islamischen Republik“ gerufen werden, meint Brase eines zu wissen: „Viele wollen Reformen“.
Im Unterschied zu den Vorjahren demonstrativer Kaltblütigkeit trumpfen in diesen Tagen das Auswärtige Amt und die deutschen Parteien mit einem Wortschwall moralischer Parteinahme für die Frauen im Iran auf. Doch anders als behauptet, fordern die Frauen im Iran nicht die Anerkennung ihrer „unumstößlichen Menschenrechte“ durch das misogyne Regime ein, auch wird nicht, wie in der deutschen Berichterstattung unbeirrt behauptet, gefordert, dass der Staat, also der Mörder selbst, den Tod von Mahsa Amini aufzuklären habe. In keinem einzigen der Slogans, die gerufen werden, dient der Islamische Staat, seine Institutionen und Repräsentanten, weder Reformer noch Erzkonservative, als Appellationsinstanz. Es wird der Tod dieser Staatsbestie herbei geschrien.
Das Wesentliche der neuen deutschen „Regimekritik“ hat Annalena Baerbock in der „Aktuellen Stunde“ des Bundestags ganz nebenbei gesagt: dass „wir weiter über das JCPoA verhandeln“, was offensichtlich nichts anderes heißt, dass sie personenbezogene Sanktionen, die den Interessen des Regimes als Ganzes und der deutschen Industrie kaum schaden, gegen die jetzigen Sanktionen, welche dem Regime wie der Industrie viel mehr schädigen, einzutauschen gedenkt.
Die redselige Demonstration moralischer Parteinahme täuscht darüber, dass absolut nichts Konkretes gemacht wird, was den eigenen Möglichkeiten gerecht werden könnte. Als da wären etwa Wege aufzufinden, wie die bleierne Kommunikationssperre durchbrochen werden kann. Doch selbst das längst fällige Ende der Kollaboration mit den Agenturen des Regimes in Europa, wie die „Imam-Khomeini-Moschee“ in Hamburg, von denen aus Exiliraner bedroht und mit Gerichtsklagen zermürbt werden, bleibt weiterhin aus. Wie folgenlos die „Regimekritik“ durch das Auswärtige Amt ist, verrät sich etwa in der von allen zu verantwortenden Straflosigkeit angesichts des Vorgehens des Khamenei-Regimes im Irak. Europa blieb ebenso desinteressiert wie teilnahmslos als die revolutionäre Erhebung der irakischen Jugend gegen die grassierende Korruption und das Unwesen der Milizen von den Todesschwadronen des Pasdarangenerals Qasem Soleimani gnadenlos niederkartätscht wurde. Die ranghöchste Funktionärin der Vereinten Nationen im Irak, Jeanine Antoinette Hennis-Plasschaer, gab in jenen Tagen den europäischen Weg vor. So äußerte sie ihre Sorge, die irakische Ökonomie könnte bei den andauernden Protesten Schaden nehmen.
Wie das türkische Regime terrorisiert auch das Khamenei-Regime weiterhin ungestraft Kurdistan-Irak, wo etwa die Demokratische Partei Kurdistans-Iran (DPK-I) ihre Parteienstrukturen hat. Im Jahr 1989 wurde mit Abdul Rahman Ghassemlou der Vorsitzende der DPK-I, von Khomeini als „Partei des Teufels“ denunziert, in Wien ermordet; 1992 in Berlin sein Nachfolger Sadegh Sharafkandi sowie die Repräsentanten der Partei im französischen und deutschen Exil, Fattah Abdoli und Homayoun Ardalan. Dem Organisator der Ausführung des Mordbefehls aus Teheran, Kazem Darabi, war jahrelang zuvor eine einschlägige Moschee in Berlin anvertraut; unter den Augen der deutschen Behörden konnte er ungestraft exilierte Feinde des khomeinistischen Regimes bedrohen. Es wäre zumindest das Gröbste an Büße, dass man es nicht duldet, dass in Kurdistan-Irak die Genossinnen und Genossen der DPK-I von Kamikazedrohnen massakriert werden.
In 43 Jahren, in denen Tugendwächter Frauen mit Glasscherben und Säure terrorisierten und inhaftierte Frauen gezwungen wurden, sich selbst als „Huren“ zu denunzieren, warteten die Deutschen von Hans-Dietrich Genscher bis Frank-Walter Steinmeier mit einem „kritischen Dialog“ mit den khomeinistischen Schlächtern nach dem anderen auf. Eine konkrete Solidarität indessen müsste als Erstes die Forderung nach einem Ende des Islamischen Staates im Iran anerkennen und zur eigenen machen. Die notorische Lüge der Deutschen – „Wir wissen ja nicht, was kommen würde“, wenn die islamofaschistische Attrappe einer „Islamischen Republik“ fällt – ist eine Verhöhnung jener Mutigen, die unmissverständlich darin sind, was sie nicht wollen: Sie wollen kein Regime aggressiv antiisraelischer und projektiver Krisenexorzierung. Sie wollen kein militaristisch-okkultes Regime aus Klerus und einer militant-mafiotischen „Armee der Wächter der Islamischen Revolution“, das sich die nationale Ökonomie zur Beute gemacht hat. Und sie wollen kein Regime, in dem die Unterwerfung der Frauen eine heilige Säule des Gemeinwesens ist.
Das ist alles nichts Neues. In den vergangenen Jahren, als das Auswärtige Amt der khomeinistischen Despotie zutrug, „Stabilisierungsfaktor in der Region“ (S. Gabriel) zu werden, der „Erhalt der Zahlungskanäle“ zur europäischen „Priorität“ (H. Maas) und der Widerstand gegen US-amerikanische Iran-Sanktionen als ein „Akt europäischer Souveränität“ (die französischen, britischen und deutschen Amtskollegen) erklärt wurden, wurde der Iran wieder und wieder von Aufständen erschüttert. Unzählige Einrichtungen der Mullahs wurden in den vergangenen Jahren niedergebrannt, ganz genauso wie die überdimensionale Straßendekoration aus frommen Versen, Märtyrerverehrung, antiisraelischen Vernichtungsdrohungen und den Fratzen von Ali Khamenei, Ruhollah Khomeini und Qasem Soleimani. Die Slogans sind bis heute dieselben: „Das Regime sagt, Amerika ist unser Feind, aber es lügt, das Regime selbst ist unser Feind“, „Reformer, Prinzipalisten – eure Rochade ist vorbei“ oder „Tod dem Velayat-e Faqih“.*
Einzig von Protesten zu sprechen, verfehlt längst die Wirklichkeit im Iran. Wir sind vielmehr Zeuge einer revolutionären Erhebung. In allen 31 Provinzen Irans kam es seit dem Tod von Mahsa Amini am 16. September zu schweren Konfrontationen mit der Repressionsmaschinerie. Sie dauern unter Todesdrohung bis heute von Kurdistan bis Khuzestan, von Teheran nach Mashhad, an. Das Regime sprach in jüngerer Vergangenheit offen aus, dass ihre im Irak und anderswo etablierten Milizen die Verteidigung der „Islamischen Revolution“ übernehmen, sobald die „inneren Kräfte“ darin zu scheitern drohen. Auch werden weder die russische Despotie, die in diesen Tagen mit Kamikazedrohnen aus dem Iran die Ukraine terrorisiert, noch China passiv zu sehen, wie ihr Partner in Crime fällt. Gholam-Hossein Mohseni-Ejei, höchster Richter im Islamischen Staat, sagte jüngst und wahrlich nicht als einziger, dass die Revolutionäre „Agenten unserer Feinde“ sind – damit ist der Todesspruch über sie gesprochen.
Und doch ist der Aufstand gegen den Islamischen Staat im Iran, der seit 1979 eine dunkle Inspiration für die islamischen Konterrevolutionäre von Afghanistan bis nach Ägypten ist, ein Freiheitsversprechen weit über die Grenzen des Irans hinaus. Die Revolutionäre im Iran, Frauen wie Männer, haben unter den Slogans „Frau, Leben, Freiheit“** und „Ich werde denjenigen töten, der meine Schwester getötet hat“ dem regressiven Wesen der „Islamischen Republik“ als ebenso antijüdischen wie frauenfeindlichen Männerbund entschieden widersprochen. Es ist zugleich die erste revolutionäre Erhebung überhaupt, die ihren Beginn als feministischen Protest nahm. Sollte der Aufstand niedergerungen werden, was von Jörg Brase bis zum Regime-Lobbyisten im Auswärtigen Amt Adnan Tabatabai als ausgemacht gilt, besteht die weitere Aussicht nicht aus Reformen, sondern Grabesruhe.
In diesem Sinne: Frau, Leben, Freiheit – Tod dem Islamischen Staat!
* Mit „Velayat-e Faqih“ beschrieb Khomeini die totale Geltung des Wächteramts in allen Sphären des Staates. In seiner Hauptschrift, der „Islamische Staat“, sprach Khomeini davon, die theologischen Seminare von den Quietisten zu reinigen und die Moscheen zu Kasernen, die wöchentliche Khutbah-Predigt zum Schlachtruf und die Betenden zu Bataillonen zu machen. Er bekräftigte, dass die Etablierung eines solchen „Islamischen Staates“ Massen an Toten erfordern würde. „Der Islam hat viele Stämme ausgerottet“, so Khomeini, da sie Verderben über die Muslime gebracht und „die Interessen des Islamischen Staates“ beschädigt hätten.
** Der Slogan wurde geprägt durch kurdische Feministinnen, populär gemacht durch jene Militanten aus Kurdistan-Syrien, die auch in diesen Tagen von der türkischen Artillerie mit dem Tod bedroht werden. Bereits 2015, während der Proteste in Kurdistan-Iran als Reaktion auf den Tod einer jungen Frau namens Farinaz Khosravani in Mahabad, riefen Protestierende „Jin, Jiyan, Azadi“ („Frau, Leben, Freiheit).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen