„Einer
der wesentlichen Faktoren unserer Einheit sind unsere
Märtyrer“, erklärte der
Parteivorsitzende der oppositionellen Cumhuriyet Halk Partisi, Kemal
Kılıçdaroğlu, am 17. März im südtürkischen Adana. „Wir haben
immerzu auf unsere Armee vertraut, die in Afrin kämpft. In Çanakkale
hatte Gazi Mustafa Kemal Atatürk gesagt: ‹Ich befehle Ihnen nicht
anzugreifen, ich befehle Ihnen zu sterben›“, so der Vorsitzende
der historischen Partei Mustafa Kemals.
„Çanakkale“
- das ist die Chiffre dafür, dass in der blutroten Republik
permanent die Paranoia gekitzelt wird, existenziell bedroht zu sein.
Es steht dafür, dass ein laizistischer Nationalist wie Kemal
Kılıçdaroğlu* mit den Nationalislamisten in dem Wahn eins ist,
dass die Krise als perfide Intrige über die Türkei hereinbricht. Am
103. Jahrestag der „Märtyrer“ der Schlacht um Çanakkale, bei
der der spätere Republikgründer Mustafa Kemal als
Divisionskommandeur auftrat, eroberten die türkische Armee und ihre
syrischen Alliierten das urbane Afrin im föderalen Nordsyrien.
Als der
militante Flügel der in Afrin geschlagenen Föderalisten in Manbij
und anderswo den „Islamischen Staat“ zerschlug, wurde die
Befreiung demonstrativ damit gefeiert, dass Frauen sich den
zwangsverordneten schwarzen Schleier vom Leib rissen und genüsslich
ihre erste Zigarette qualmten. Die Türkei der Muslimbrüder dagegen
feierte die Eroberung von Afrin mit einem Vers aus dem Quran. Als
Erdoğan im nordtürkischen Giresun die in Afrin getöteten
„Terroristen“ nachzählte, überbrückte die Parteijugend in
Milizkluft sein kurzes Innehalten mit dem Gebrüll „Ungläubige“
und dem heiligen Vers 3:12: „Bald werdet ihr geschlagen sein und
euch in der Hölle scharren“.
Doch die
Türkei ist unter Erdoğan zu keiner Theokratie entartet, wie es
manch türkischer Laizist beklagt, ganz ohne das blutige Fundament
der stolzen Türkischen Republik zu hinterfragen. Über den Imamen in
den massenhaft fabrizierten Moscheen ragt mehr als je zuvor der
Agitator, der vom Muslimbruder Erdoğan erfolgreicher als
Kılıçdaroğlu, der im Übrigen ein Getriebener ist, verkörpert
wird. Seine heiligste Schrift ist nicht der Quran, auch wenn er aus
den blutigsten Suren hin und wieder rezitiert, es ist die
Verschwörungsindustrie, die in der Türkei floriert. Sein
Erfolgsrezept ist es, wie Karl Kraus über den faschistischen
Agitator schrieb, „sich so dumm zu machen, wie seine Zuhörer sind,
damit sie glauben, sie seien so gescheit wie er“ – das heißt:
dass sie glauben, sie hätten die variierenden Antlitze der Krise
demaskiert.
Wenn das
Vaterland sich an den Abtrünnigen rächt, möchte weder die
republikanische Cumhuriyet Halk Partisi noch die
ultranationalistische İyi Parti – ein zur AK Parti oppositionelles
Upgrade der Grauen Wölfe – Opposition sein. Wer außerhalb dieser
Staatsfront stehend identifiziert wird, dem droht in diesen Tagen
noch mehr als zuvor gnadenlose Verfolgung. Als an der renommierten
Boğaziçi Universität in Istanbul die „gläubige, nationale,
autochthone Jugend“ (Erdoğan) die Süßigkeit Lokum aus Freude
über den Fall von Afrin verteilte, protestierten Kommilitonen mit
einem improvisierten Spruchband: „Es gibt kein Lokum für
Okkupation und Massaker“. Während eines Handgemenge wurde das
Lokum über den Asphalt verteilt. Wenig später zerrten Polizisten
die Abtrünnigen über das Universitätsgelände. Im nordtürkischen
Samsun nahm sich Erdoğan höchstpersönlich dieser „kommunistischen,
das Vaterland verratenden Jugend“ an: „Wir werden diesen
kommunistischen Jugendlichen nicht das Recht gewähren, an der
Universität zu lernen. Unsere Universitäten bilden keine
Terroristen aus.“ Heute herrscht an der als liberales Refugium
geltenden Boğaziçi Universität die Angst vor weiteren Razzien,
täglich patrouilliert die Polizei, mehrere der Antimilitaristen sind
in Haft.
Über den
Erfolg der (Re-)Islamisierung in der Türkei ist noch nicht
entschieden. In der mediterranen Westtürkei hat die republikanische
Cumhuriyet Halk Partisi noch staatsmännischen Charakter, der
Großteil der Angeordneten der westtürkischen Provinzen für die
Nationalversammlung sind strenglaizistische Parteigänger Mustafa
Kemals. In manchen anatolischen Provinzen dagegen ist die Partei de
facto nicht existent. Die Freiheit der türkischen Laizisten –
neben dem Mahalle, in dem sie leben, und die Familie, in der sie
hineingeboren sind – hängt nach wie vor davon ab, dass sie, wenn
sie nicht vor dem Imam auf die Knie fallen, dann vor der blutroten
Fahne stramm stehen. Und doch wird über den Misserfolg der
(Re-)Islamisierung entscheiden, inwieweit die Säkularen aus der
falschen Einheit gegen die Abtrünnigen am Vaterland ausbrechen und
die organisierte Projektion als das denunzieren, was sie ist:
gnadenlos selbstverschuldete Unmündigkeit.
Es irrt
dennoch, wer denkt, die türkischen Muslimbrüder hätten ein
Interesse daran, jene – wenn auch beschädigte –
Säkularisierung, die in der Türkei für viele noch Lebensrealität
geblieben ist, auch in Nordsyrien zu dulden. In Syrien treten die
Muslimbrüder ungehemmt als fromme Paten einer Re-Osmanisierung auf –
ganz ohne laizistische Rudimente. Beobachten kann man das nicht
allein an ihrem islamistischen Frontvieh, das in den eroberten
Territorien nach „Ungläubigen“ fahndet** und ihnen mit
Zwangskonversion oder Tod droht. Es lässt sich in diesen Tagen auch
dort in Afrin beobachten, wo auf die militärischen Schergen die als
Charité getarnten Logistikorganisationen der Muslimbrüder, wie die
İHH İnsani Yardım Vakfı und İmkander, folgen, die in Syrien seit
längerem damit vertraut sind, die Mujahidin und ihre Familien zu
versorgen.
Während der
Phase der Liberalisierung der türkischen Ökonomie konnten sich İHH
& Co. unter der Protektion der AK Parti als Staatssurrogat
etablieren. Die AK Parti Erdoğans öffnete den mildtätigen
Agitatoren auch den Bildungsapparat, vor allem die Kaderschmiede der
İmam hatip Gymnasien. Sie werben in den Bordmagazinen der Turkish
Airlines für sich und auf ihren „Nächten der Märtyrer“, auf
denen sie die Traditionslinie vom Mentor Osama Bin Ladens, Abdullah
Azzam, über das spirituelle Haupt der Hamas, Ahmed Yasin, bis hin
zum kaukasischen Emir Dokka Umarov spannen. İmkander unterhielt im
grenznahen Gaziantep länger ein eigenes Hospital für die
Angehörigen der syrischen „Islamischen Front“. Ihr Vorsitzender
Murat Özer verglich die Eroberung von Afrin mit der Schlacht um
Çanakkale, dem zentralen antiimperialistischen Mythos der
republikanischen wie islamischen Türkei.
In den
vergangenen Wochen trafen aus Ost-Ghouta die mit den Muslimbrüdern
affiliierte Faylaq al-Rahman sowie die Familienangehörigen der
Militanten in Afrin ein. Dem oppositionellen Syrian Observatory for
Human Rights zufolge soll die al-Rahman Legion damit vertraut werden,
den Polizeidienst sowie Shariahgerichte in Afrin zu organisieren.
Auch sunnitische Militante rivalisierender Gangs – Tahrir al-Sham,
Saraya Ahl al-Sham, Ahrar al-Sham, Jaysh al-Islam – aus dem
evakuierten Qalamoun Gebirge, nordöstlich von Damaskus, nehmen
Besitz von den Häusern der aus Afrin Geflüchteten. Während die
schwarze Ganzkörperverschleierung mit Sehschlitz im föderalen Afrin
ein äußerst seltenes Phänomen war, das unweigerlich Misstrauen
provozierte, prägen in diesen Tagen die schwarz Verschleierten an
der Seite bärtiger Milizionäre, die zugleich als Tugendwächter
auftreten, das Straßenbild im eroberten Afrin. Ihre Überführung
ist ein weiteres perfides Detail der russischen Moderation der
türkischen Aggression in Nordsyrien. Für Erdoğan selbst ist Afrin
die Halde, wohin er die in der Türkei tagtäglich angefeindeten
syrischen Geflüchteten verschieben kann. Europa wird um lobende
Worte nicht verlegen sein.
Die
islamistischen Milizionäre, die am 18. März als erstes in das
nahezu menschenleere Stadtzentrum von Afrin vorgestoßen sind,
scheinen ihre Mitkämpfer in der Konkurrenz um die Beute mehr zu
fürchten als den Verlust jeglicher Reputation als repräsentable
Kompradorenklasse in den eroberten Territorien. Ungehemmt plünderten
und marodierten sie – als würde es kein Morgen geben. Für Erdoğan
sind die sunnitischen Militanten Brüder, die gegen die „Gottlosen
und jene, die keinen Glauben haben“, kämpfen.
Die
Plünderungsökonomie der sunnitischen Militanten konnte man auch in
den Tagen der Schlacht um das urbane Aleppo beobachten – wobei
regimeloyale Milizen durchaus erfolgreich mit ihnen konkurrierten –
und doch verrät die Hemmungslosigkeit der Marodeure in Afrin noch
viel mehr als das ökonomische Eigenleben der syrischen Katastrophe:
Zu Beginn der „Operation Olivenzweig“ veredelte die in Istanbul
sitzende syrische Exil-Ulema in einer Fatwa die Eroberung von Afrin
zum Jihad und verhieß die Beutenahme durch die Frontkämpfer Allahs
als islamisch rechtmäßig. Die Aggression gegen Afrin wurde noch in
der ersten Phase der propagandistischen Mobilmachung als Feldzug
gegen „Ungläubige“ und „Abtrünnige“ an Vaterland und Islam
ausgerufen. Staatspräsident Erdoğan denunzierte – ganz synchron
mit der syrischen Exil-Ulema – den militanten Flügel der
Föderalisten als „ungläubige, gottlose terroristische
Organisation ohne heilige Schrift“. Seit längerem kursiert im
türkischen Boulevard das absurde Gerücht, dass die Föderalisten
den Ezan, den traditionellen Ruf zum Gebet, verbannt und die Muezzine
zum Schweigen gebracht hätten. Noch bevor sich die Aggressoren in
Afrin ungehemmt der Plünderung widmeten, zerstörten sie die Statue
des Schmieds Kawa, der zentralen Figur aus der vorislamischen
Mythologie der Newroz-Festlichkeit. Es kursieren unzählige
Snuff-Filme, die die islamistischen Schergen von sich und ihren
Trophäen, toten Körpern, gemacht haben. Sie verfluchen die
Gemordeten als „Schweine“ und „Ungläubige“.
Natürlich
ist auch die Türkei gezwungen, dem Unwesen rivalisierender Rackets
ein Antlitz von Stabilisierung und demokratischer Repräsentation
überzustülpen. Das wird die Preisetikette sein, für die die
europäische Beschwichtigung zu haben ist. Als willige
Kollaborateurin fungiert der Türkei die „Syrische
Nationalkoalition“, die anders als die „Freie Syrische Armee“,
die exklusiv sunnitisch ist, zumindest noch den Anschein einer
überkonfessionellen Repräsentation der Opposition gegen das Regime
Bashar al-Assads bemüht. Unter der drückenden Abhängigkeit von
ihren türkischen Gastgebern und dem Hauptfinanzier Qatar sind die
entscheidenden Akteure aber auch innerhalb der Koalition längst
syrische Muslimbrüder, arabische Nationalchauvinisten***, kurdische
Opportunisten und Parteigänger türkischer Großraumpolitik.
Amtierender Präsident der Koalition ist Abdurrahman Mustafa,
zugleich Repräsentant einer panturkistischen Organisation mit Sitz
in Istanbul. Die „Versammlung syrischer Turkmenen“, der
Abdurrahman Mustafa zuvor als Präsident vorstand, ehrt Alparslan
Türkeş, den Begründer der ülkücülük-Ideologie der Grauen
Wölfe, sowie die nationalislamistische Galionsfigur Muhsin
Yazıcıoğlu, einen berüchtigten Pogromaufhetzer. Funktionäre der
turkmenischen Exilorganisation sowie hochrangige Politiker der
Milliyetçi Hareket Partisi und Büyük Birlik Partisi, beide aus dem
Rudel der Grauen Wölfe, beehren sich gegenseitig auf ihren Plena und
Parteitagen.
Doch die
wenigsten der Konstellationen innerhalb der Nationalkoalition sind
herunterzubrechen auf ideologische Kongruenz mit der türkischen
Großraumpolitik. Für andere ist die Kollaboration auch nur das
Ticket zur neuen Staatsklasse. So ist der „Kurdische Nationalrat“
- zu dem die syrische Schwesterorganisation der vom Barzani-Clan
dynastisch geführten Partiya Demokrata Kurdistan und einige kleinere
Parteien gehören, die der Föderation Nordsyrien feindselig sind –
ein weiterer Koalitionär. Während Teile des Nationalrats die
türkische Militärkampagne gegenüber Afrin zumindest kritisierte
und dabei innerhalb der Koalition isoliert blieb, bewerben sich vor
allem die Kader der kurdischen Yekîtî Partiya, der „Partei der
Einheit“, als autochthones Antlitz des türkischen
Okkupationsregimes in Afrin. Ihr Rezept ist das der in
Irakisch-Kurdistan angestammten Partei des Barzani-Clans, das ihr
Klientelregime vor allem in der Kollaboration mit der Türkei und
ihrer Konterguerilla ökonomisch wie politisch festigen konnte. Noch
in diesen Tagen duldet sie das Einsickern des türkischen Militärs
in das von ihr beherrschte Territorium.
Es ist nicht
eine etwaige „terroristische Bedrohung“, die die Türkei nach
Nordsyrien vorzustoßen zwingt. Die verheerenden Massaker in
Grenznähe in Reyhanlı am 11. Mai 2013 und in Suruç am 20. Juli
2015 waren islamistische – vom „tiefen Staat“ der Muslimbrüder
flankiert. In der an der Türkei angrenzenden Provinz Idlib herrschen
bis heute weitflächig die syrischen Derivate der al-Qaida. Die
türkische Aggressivität gründet ganz woanders: Die dezidiert
säkulare Föderation Nordsyrien blockiert die türkische
Großraumexpansion – und sie provoziert Neid und Rachegelüste.
Denn während die Föderation auch für assyrische Christen und
säkulare Araber ein Versprechen auf bessere Tage ist, herrschen in
jenen Teilen Syriens, in die die Türkei ausgiebig investiert hat,
konfessionalistischer Irrsinn, Gangrivalitäten und Devastation. Die
europäische Einfühlung in die „legitimen Sicherheitsinteressen“
der Türkei ist nichts anderes als die Verschleierung der offenen
Flanke der Türkei für die nationalislamistischen und
panturkistischen Rackets in Syrien und die verdeckte für den
„Islamischen Staat“ und andere Derivate der al-Qaida.
Die kurdischen Föderalisten fürchteten eine Revolution, die aus den Moscheen kam
und zu einer Geiselnahme verkümmerte. Das ist der Grund ihrer
Distanzierung gegenüber den sunnitischen Militanten – und nicht
die als Gerücht kursierende Fraternisierung mit ihren Folterern des
Regimes. Sie wissen nur zu gut, dass Zwangsarabisierung wie
Türkifizierung verzahnt sind mit dem politischen Islam. Anders als
weitflächig in der Türkei – mit Aussparungen vor allem entlang
der Agäisküste – kann sich in Syrisch-Kurdistan die
voranschreitende Islamisierung nicht als demokratisch legitimiert,
als Volksverstaatlichung, tarnen. Sie wird als Anschlag auf das
eigene Leben wahrgenommen. Während im türkisch eroberten Afrin ein
schwarzer Schatten über die Frauen geworfen wird, hat das von den
Föderalisten befreite sunnitisch-konservative Rakka, zuvor die
Kapitale des „Islamischen Staates“, mit der großartigen Leila
Mustafa nun eine unverschleierte Frau als Vorsitzende des Stadtrats.
De facto
karikiert die Türkei mit jeder ihrer Aktionen den an anderen Tagen
noch versprochenen regime change in Damaskus. Mehr noch als die
sunnitischen Militanten, die sich weiterhin gegenseitig befehden,
profitiert Bashar al-Assad und seine russischen und iranischen
Protektoren von der türkischen Aggressivität. Im Schatten der
türkischen Militärkampagne gegen Afrin konsolidierte das Regime
erfolgreich sein Staatsterritorium in Ost-Ghouta. Die aggressive
(Re-)Islamisierung von Afrin ist eng verzahnt mit dem demografischen
Engineering des Regimes, das mit der Evakuierung von Darayya, Douma
und anderer sunnitischer Zentren der Türkei das Menschenmaterial
zuschiebt. Unter dem Freudengesang – „Entweder Bashar oder
verbrannte Erde“ – hat das Regime der al-Ba'ath-Partei nicht
weniger zu Jihadisierung Syriens beigetragen als die Türkei selbst.
Der von
Donald Trump ausgeplauderte Abzug der US-amerikanischen Soldaten aus
Syrien sowie die Nichteinhaltung des Versprechens eines finanziellen
Engagements für die Rekonstruktion von Ruinen wie Rakka drohen
damit, dass die Föderalisten mit den Meistern der Rackets allein
gelassen werden. Das jüngste Szenario sieht vor, dass das
US-amerikanische Militär ihre Positionen an alliierte arabische
Staaten – Saudi-Arabien, Vereinigten Arabischen Emirate, Qatar –
übergibt. Um die säkulare Föderation Nordsyrien würde dann der
sunnitische Gürtel noch enger geschnürt werden. Der Generalsekretär
des Nordatlantikpaktes schmeichelte jüngst den türkischen Warlords
in den schönsten Worten, die ein Europäer finden kann: die Türkei
garantiere „die Stabilität an der Südgrenze“ der NATO, also
dort, wo in diesen Tagen unter türkischer Patronage ein Rayon
rivalisierender islamistischer Rackets – einschließlich der
Derivate von al-Qaida – entsteht.
Ebenso wie
die Konstellationen in Syrien sind jene in der Türkei äußerst
krisenhaft. Nach den systematischen Amtsenthebungen im Militär
infolge des 15. Juli 2015, die vor allem Offiziere mit traditioneller
Westfixierung trafen, war Erdoğan gezwungen, sich den türkischen
Eurasiern anzunähern. Dieses ultranationalistische Milieu, das vor
allem in der Vatan Partisi von Doğu Perinçek als
konspirativ-paranoider Zirkel pensionierter Militärs und ziviler
„Soldaten Mustafa Kemals“ organisiert ist, beschwört die
Existenz eines „kurdischen Korridors“ von Irak nach Syrien als
perfides Instrument der US-amerikanischen Imperialisten zur Sabotage
einer „unabhängigen Türkei“. Die russische Moderation des
türkischen Eroberungsfeldzugs gegen Afrin entspricht exakt ihrer
Propaganda, in der der russische Behemoth an der Seite der Türkei,
des Irans und Chinas als eurasischer Ordnungsgarant fungiert. Die
Sentimentalitäten der türkischen Muslimbrüder gelten ursprünglich
vor allem den muslimischen Brüdern in der Peripherie dieser Staaten:
den kaukasischen Emiren und den Uiguren im beschworenen
Ost-Turkestan. Doğu Perinçek und seine Mitstreiter sind zudem keine
Freunde des Islams, dafür des „Häretikers“ Bashar al-Assad. Der
deutsche Schatten des früheren Maoisten Perinçek ist Jürgen
Elsässer, dessen „antiglobalistischen“ Schriften er rezensiert.
Unweigerlich provozieren die strenglaizistischen Ultranationalisten
den Argwohn jener Muslimbrüder, die sie als Konkurrenten im
ideologischen Apparat fürchten, wie Murat Özer oder die berüchtigte
Gazette Yeni Akit. Die krude Allianz aus Muslimbrüdern, Grauen
Wölfen und Sozialfaschisten, die Erdoğan nach Afrin geführt hat,
besteht aus sich feindseligen Rackets, die einzig der Hass auf die
Abtrünnigen am Vaterland eint.
Die Türkei
ist der labilste Akteur einer etwaigen
russisch-iranisch-türkischen Achse. Erdoğan weiß durchaus, was er
an den Europäern, ihren Märkten, ihren Touristen, ihrer Kumpanei
hat. Und am Ende des Tages ist auch die Türkei der Muslimbrüder
noch Mitglied im Nordatlantikpakt und nicht nur aufgrund seines
schmeichelnden Generalsekretärs ist es für die Türkei abwegig,
daran etwas zu ändern. Doch auch die Russen werben mit Märkten,
Touristen und stoischer Geduld – man denke nur an die demonstrative
Unaufgeregtheit nach der Ermordung des russischen Repräsentanten
Andrey Karlov in Ankara durch einen türkischen Polizisten. Recep
Tayyip Erdoğan, Vladimir Putin, Ali Khamenei, Hassan Nasrallah
(ihnen sind noch ganze Heerscharen an Agitatoren untergeordnet)
bleiben rivalisierende Warlords, deren Einheit einzig in der
antiimperialistischen Mythenbildung gestiftet wird. Ihre eigene
imperialistische Aggression – der Iran tituliert Syrien offen als
„35ste Provinz“, die Türkei behauptet ein angestammtes Recht auf
Aleppo, Mosul und Kirkuk – drückt sich als antiuniversalistische
Befreiungstheologie aus, ihre antiimperialistische Polemik ist
projizierter Geltungsdrang. Der Russe Aleksandr Dugin, Vordenker der
identitären Konterrevolution mit geistigen Anleihen bei Julius
Evola, Alain de Benoist und Carl Schmitt, war unlängst zu Gast bei
einer Fraktionssitzung der AK Parti. Seiner Schüler pflegen auch
einen regen Austausch mit einigen der aggressivsten Ayatollahs wie
Mohammad Taghi Mesbah und Yazdi Abdollah Javadi-Amoli.
Im Iran
scheitert in diesen Tagen die Formierung der Massen durch die
antiimperialistische Manipulation. Bei Protesten gegen das ruinöse
Missmanagement der Wasserressourcen und die herrschende Korruption in
Isfahan rufen unter der Dürre leidende Bauern – jene also, die der
totalitäre Staat zuvor über die Moschee an sich kettete – den Slogan „Unser Feind ist hier, es
ist eine Lüge, wenn Sie sagen, unser Feind ist Amerika“. In
Kazerun, in der südlichen Provinz Fars liegend, wird unter demselben
wahrhaft staatsfeindlichen Slogan die wöchentliche Khutbah-Predigt,
die in der „Islamischen Republik“ die zentrale Institution der
Agitation und Mobilisierung des Brüllviehs ist, verunmöglicht. Ende
Februar riefen streikende Stahlarbeiter während der Khutbah-Predigt
in Ahvaz gegen das „Allahu Akbar“ des Vorbeters an. Sie wandelten
ein Regimeslogan in die sarkastische Parole „Nieder der mit den
Arbeitern, Friede dem Unterdrücker“ um.
Die türkische
Katastrophe liegt vor allem auch darin, dass – anders als in diesen
Tagen im Iran – der antiimperialistische Mythos den
Staatspräsidenten mit dem kleinen Mann, den Muslimbruder mit dem
Laizisten vereint. Die Cumhuriyet Halk Partisi ignoriert die
ausgestreckte Hand der Halkların Demokratik Partisi und begründet
ihre Volksfront mit der Grauen Wölfin Meral Akşener (İyi Parti)
und dem Islamisten Temel Karamollaoğlu (Saadet Partisi), jenem
Einpeitscher der Pogromisten von Sivas im Juli 1993.
Eines der
Opfer dieser blutroten Lügenrepublik ist die Lehrerin Ayşe Çelik
aus Diyarbakır, die vor wenigen Tagen mit ihrem Kind eine15-monatige
Haftstrafe antrat. Ein türkisches Gericht hielt es für „Propaganda
für eine terroristische Organisation“, dass sie am 8. Januar 2016
in der populären Beyaz Show auf Kanal D folgendes gesagt hat:
„Schweigen Sie nicht. Menschen sollen nicht sterben, Kinder sollen
nicht mehr sterben, Mütter sollten nicht mehr weinen“. Als sie bei
dem Moderator Beyazıt Öztürk anrief, harrte sie im militärisch
abgeriegelten Silvan in der südöstlichen Provinz Diyarbakır, aus.
Auch der Moderator provozierte zunächst den Zorn der Justiz, da er
sich bei Ayşe Çelik für ihren Anruf bedankte: „Hoffentlich
werden diese Friedenswünsche bald wahr.“ Nachdem er um Vergebung
gebettelt und hervorgehoben hatte, dass er der „Sohn eines
Polizisten“ und dem Staat treu ergebend sei, konzentrierte sich die
Repression wieder ganz auf die abtrünnige Lehrerin.
Ayşe
Çelik bei ihrem Haftantritt, sie wird auf den letzten Schritten von
den oppositionellen Abgeordneten Feleknas Uca und Zeynep Altıok
begleitet.
* Die
sporadische Kritik von Kemal Kılıçdaroğlu, dem Vorsitzenden der
traditionellen Partei Mustafa Kemals, an der Syrien-Politik Erdoğans
endet dann doch wieder in antiimperialistischer
Verschwörungsideologie – die Türkei als Opfer US-amerikanischer
Intrigen – und der Heiligsprechung der türkischen Armee und ihrer
Märtyrer. Es existiert dennoch auch ein antinationalistischer Flügel
in der Partei, der für eine Oppositionsfront mit der Halkların
Demokratik Partisi plädiert.
** In Syrien
konzentrierten sich bis vor wenigen Wochen die noch verbliebenen
ezidischen Dörfer auf Afrin sowie die nordöstliche Region Jazira.
Anders als in Irakisch-Kurdistan verunmöglicht die Föderation
Nordsyrien die notorische Hetze von staatsfinanzierten Imamen und
salafistischen Agitatoren gegen die religiöse Minorität. Die
ezidischen Dörfer in Afrin sind inzwischen verwaist. Mit dem Sinjar
und Afrin verloren die Eziden ihre letzten beiden Refugien im Irak
und Syrien, was deutsche Gerichte nicht davon abhält, Eziden aus dem
Irak keine Anerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4
AsylG mehr zuzuerkennen. Die „Verfolgungsdichte“, so das VG
Bayreuth, sei nicht hinreichend, da mit der „Kurdischen
Autonomieregion“ eine innerirakische Fluchtmöglichkeit existiere.
*** Selbst
bei säkularen Persönlichkeiten der syrischen Opposition, die
innerhalb und außerhalb der Nationalkoalition noch anzutreffen sind,
bricht sich gegenüber der Föderation Nordsyrien das
nationalchauvinistische Ressentiment Bahn. Michel Kilo etwa, ein
säkular-christlicher Exil-Syrer, denunziert die Föderation als ein
„zweites Israel“: „Sie können nicht ein Kurdistan aus Syrien
herausbrechen. Wenn sie die Teilung Syriens verfolgen, werden wir
ihnen das Kreuz brechen.“
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