Donnerstag, 3. Mai 2018

Der Fall von Afrin – Notizen zur türkischen Katastrophenpolitik in Nordsyrien


Einer der wesentlichen Faktoren unserer Einheit sind unsere Märtyrer“, erklärte der Parteivorsitzende der oppositionellen Cumhuriyet Halk Partisi, Kemal Kılıçdaroğlu, am 17. März im südtürkischen Adana. „Wir haben immerzu auf unsere Armee vertraut, die in Afrin kämpft. In Çanakkale hatte Gazi Mustafa Kemal Atatürk gesagt: ‹Ich befehle Ihnen nicht anzugreifen, ich befehle Ihnen zu sterben›“, so der Vorsitzende der historischen Partei Mustafa Kemals.

Çanakkale“ - das ist die Chiffre dafür, dass in der blutroten Republik permanent die Paranoia gekitzelt wird, existenziell bedroht zu sein. Es steht dafür, dass ein laizistischer Nationalist wie Kemal Kılıçdaroğlu* mit den Nationalislamisten in dem Wahn eins ist, dass die Krise als perfide Intrige über die Türkei hereinbricht. Am 103. Jahrestag der „Märtyrer“ der Schlacht um Çanakkale, bei der der spätere Republikgründer Mustafa Kemal als Divisionskommandeur auftrat, eroberten die türkische Armee und ihre syrischen Alliierten das urbane Afrin im föderalen Nordsyrien.

Als der militante Flügel der in Afrin geschlagenen Föderalisten in Manbij und anderswo den „Islamischen Staat“ zerschlug, wurde die Befreiung demonstrativ damit gefeiert, dass Frauen sich den zwangsverordneten schwarzen Schleier vom Leib rissen und genüsslich ihre erste Zigarette qualmten. Die Türkei der Muslimbrüder dagegen feierte die Eroberung von Afrin mit einem Vers aus dem Quran. Als Erdoğan im nordtürkischen Giresun die in Afrin getöteten „Terroristen“ nachzählte, überbrückte die Parteijugend in Milizkluft sein kurzes Innehalten mit dem Gebrüll „Ungläubige“ und dem heiligen Vers 3:12: „Bald werdet ihr geschlagen sein und euch in der Hölle scharren“.

Doch die Türkei ist unter Erdoğan zu keiner Theokratie entartet, wie es manch türkischer Laizist beklagt, ganz ohne das blutige Fundament der stolzen Türkischen Republik zu hinterfragen. Über den Imamen in den massenhaft fabrizierten Moscheen ragt mehr als je zuvor der Agitator, der vom Muslimbruder Erdoğan erfolgreicher als Kılıçdaroğlu, der im Übrigen ein Getriebener ist, verkörpert wird. Seine heiligste Schrift ist nicht der Quran, auch wenn er aus den blutigsten Suren hin und wieder rezitiert, es ist die Verschwörungsindustrie, die in der Türkei floriert. Sein Erfolgsrezept ist es, wie Karl Kraus über den faschistischen Agitator schrieb, „sich so dumm zu machen, wie seine Zuhörer sind, damit sie glauben, sie seien so gescheit wie er“ – das heißt: dass sie glauben, sie hätten die variierenden Antlitze der Krise demaskiert.

Wenn das Vaterland sich an den Abtrünnigen rächt, möchte weder die republikanische Cumhuriyet Halk Partisi noch die ultranationalistische İyi Parti – ein zur AK Parti oppositionelles Upgrade der Grauen Wölfe – Opposition sein. Wer außerhalb dieser Staatsfront stehend identifiziert wird, dem droht in diesen Tagen noch mehr als zuvor gnadenlose Verfolgung. Als an der renommierten Boğaziçi Universität in Istanbul die „gläubige, nationale, autochthone Jugend“ (Erdoğan) die Süßigkeit Lokum aus Freude über den Fall von Afrin verteilte, protestierten Kommilitonen mit einem improvisierten Spruchband: „Es gibt kein Lokum für Okkupation und Massaker“. Während eines Handgemenge wurde das Lokum über den Asphalt verteilt. Wenig später zerrten Polizisten die Abtrünnigen über das Universitätsgelände. Im nordtürkischen Samsun nahm sich Erdoğan höchstpersönlich dieser „kommunistischen, das Vaterland verratenden Jugend“ an: „Wir werden diesen kommunistischen Jugendlichen nicht das Recht gewähren, an der Universität zu lernen. Unsere Universitäten bilden keine Terroristen aus.“ Heute herrscht an der als liberales Refugium geltenden Boğaziçi Universität die Angst vor weiteren Razzien, täglich patrouilliert die Polizei, mehrere der Antimilitaristen sind in Haft.

Über den Erfolg der (Re-)Islamisierung in der Türkei ist noch nicht entschieden. In der mediterranen Westtürkei hat die republikanische Cumhuriyet Halk Partisi noch staatsmännischen Charakter, der Großteil der Angeordneten der westtürkischen Provinzen für die Nationalversammlung sind strenglaizistische Parteigänger Mustafa Kemals. In manchen anatolischen Provinzen dagegen ist die Partei de facto nicht existent. Die Freiheit der türkischen Laizisten – neben dem Mahalle, in dem sie leben, und die Familie, in der sie hineingeboren sind – hängt nach wie vor davon ab, dass sie, wenn sie nicht vor dem Imam auf die Knie fallen, dann vor der blutroten Fahne stramm stehen. Und doch wird über den Misserfolg der (Re-)Islamisierung entscheiden, inwieweit die Säkularen aus der falschen Einheit gegen die Abtrünnigen am Vaterland ausbrechen und die organisierte Projektion als das denunzieren, was sie ist: gnadenlos selbstverschuldete Unmündigkeit.

Es irrt dennoch, wer denkt, die türkischen Muslimbrüder hätten ein Interesse daran, jene – wenn auch beschädigte – Säkularisierung, die in der Türkei für viele noch Lebensrealität geblieben ist, auch in Nordsyrien zu dulden. In Syrien treten die Muslimbrüder ungehemmt als fromme Paten einer Re-Osmanisierung auf – ganz ohne laizistische Rudimente. Beobachten kann man das nicht allein an ihrem islamistischen Frontvieh, das in den eroberten Territorien nach „Ungläubigen“ fahndet** und ihnen mit Zwangskonversion oder Tod droht. Es lässt sich in diesen Tagen auch dort in Afrin beobachten, wo auf die militärischen Schergen die als Charité getarnten Logistikorganisationen der Muslimbrüder, wie die İHH İnsani Yardım Vakfı und İmkander, folgen, die in Syrien seit längerem damit vertraut sind, die Mujahidin und ihre Familien zu versorgen.

Während der Phase der Liberalisierung der türkischen Ökonomie konnten sich İHH & Co. unter der Protektion der AK Parti als Staatssurrogat etablieren. Die AK Parti Erdoğans öffnete den mildtätigen Agitatoren auch den Bildungsapparat, vor allem die Kaderschmiede der İmam hatip Gymnasien. Sie werben in den Bordmagazinen der Turkish Airlines für sich und auf ihren „Nächten der Märtyrer“, auf denen sie die Traditionslinie vom Mentor Osama Bin Ladens, Abdullah Azzam, über das spirituelle Haupt der Hamas, Ahmed Yasin, bis hin zum kaukasischen Emir Dokka Umarov spannen. İmkander unterhielt im grenznahen Gaziantep länger ein eigenes Hospital für die Angehörigen der syrischen „Islamischen Front“. Ihr Vorsitzender Murat Özer verglich die Eroberung von Afrin mit der Schlacht um Çanakkale, dem zentralen antiimperialistischen Mythos der republikanischen wie islamischen Türkei.

In den vergangenen Wochen trafen aus Ost-Ghouta die mit den Muslimbrüdern affiliierte Faylaq al-Rahman sowie die Familienangehörigen der Militanten in Afrin ein. Dem oppositionellen Syrian Observatory for Human Rights zufolge soll die al-Rahman Legion damit vertraut werden, den Polizeidienst sowie Shariahgerichte in Afrin zu organisieren. Auch sunnitische Militante rivalisierender Gangs – Tahrir al-Sham, Saraya Ahl al-Sham, Ahrar al-Sham, Jaysh al-Islam – aus dem evakuierten Qalamoun Gebirge, nordöstlich von Damaskus, nehmen Besitz von den Häusern der aus Afrin Geflüchteten. Während die schwarze Ganzkörperverschleierung mit Sehschlitz im föderalen Afrin ein äußerst seltenes Phänomen war, das unweigerlich Misstrauen provozierte, prägen in diesen Tagen die schwarz Verschleierten an der Seite bärtiger Milizionäre, die zugleich als Tugendwächter auftreten, das Straßenbild im eroberten Afrin. Ihre Überführung ist ein weiteres perfides Detail der russischen Moderation der türkischen Aggression in Nordsyrien. Für Erdoğan selbst ist Afrin die Halde, wohin er die in der Türkei tagtäglich angefeindeten syrischen Geflüchteten verschieben kann. Europa wird um lobende Worte nicht verlegen sein.

Die islamistischen Milizionäre, die am 18. März als erstes in das nahezu menschenleere Stadtzentrum von Afrin vorgestoßen sind, scheinen ihre Mitkämpfer in der Konkurrenz um die Beute mehr zu fürchten als den Verlust jeglicher Reputation als repräsentable Kompradorenklasse in den eroberten Territorien. Ungehemmt plünderten und marodierten sie – als würde es kein Morgen geben. Für Erdoğan sind die sunnitischen Militanten Brüder, die gegen die „Gottlosen und jene, die keinen Glauben haben“, kämpfen.

Die Plünderungsökonomie der sunnitischen Militanten konnte man auch in den Tagen der Schlacht um das urbane Aleppo beobachten – wobei regimeloyale Milizen durchaus erfolgreich mit ihnen konkurrierten – und doch verrät die Hemmungslosigkeit der Marodeure in Afrin noch viel mehr als das ökonomische Eigenleben der syrischen Katastrophe: Zu Beginn der „Operation Olivenzweig“ veredelte die in Istanbul sitzende syrische Exil-Ulema in einer Fatwa die Eroberung von Afrin zum Jihad und verhieß die Beutenahme durch die Frontkämpfer Allahs als islamisch rechtmäßig. Die Aggression gegen Afrin wurde noch in der ersten Phase der propagandistischen Mobilmachung als Feldzug gegen „Ungläubige“ und „Abtrünnige“ an Vaterland und Islam ausgerufen. Staatspräsident Erdoğan denunzierte – ganz synchron mit der syrischen Exil-Ulema – den militanten Flügel der Föderalisten als „ungläubige, gottlose terroristische Organisation ohne heilige Schrift“. Seit längerem kursiert im türkischen Boulevard das absurde Gerücht, dass die Föderalisten den Ezan, den traditionellen Ruf zum Gebet, verbannt und die Muezzine zum Schweigen gebracht hätten. Noch bevor sich die Aggressoren in Afrin ungehemmt der Plünderung widmeten, zerstörten sie die Statue des Schmieds Kawa, der zentralen Figur aus der vorislamischen Mythologie der Newroz-Festlichkeit. Es kursieren unzählige Snuff-Filme, die die islamistischen Schergen von sich und ihren Trophäen, toten Körpern, gemacht haben. Sie verfluchen die Gemordeten als „Schweine“ und „Ungläubige“.

Natürlich ist auch die Türkei gezwungen, dem Unwesen rivalisierender Rackets ein Antlitz von Stabilisierung und demokratischer Repräsentation überzustülpen. Das wird die Preisetikette sein, für die die europäische Beschwichtigung zu haben ist. Als willige Kollaborateurin fungiert der Türkei die „Syrische Nationalkoalition“, die anders als die „Freie Syrische Armee“, die exklusiv sunnitisch ist, zumindest noch den Anschein einer überkonfessionellen Repräsentation der Opposition gegen das Regime Bashar al-Assads bemüht. Unter der drückenden Abhängigkeit von ihren türkischen Gastgebern und dem Hauptfinanzier Qatar sind die entscheidenden Akteure aber auch innerhalb der Koalition längst syrische Muslimbrüder, arabische Nationalchauvinisten***, kurdische Opportunisten und Parteigänger türkischer Großraumpolitik. Amtierender Präsident der Koalition ist Abdurrahman Mustafa, zugleich Repräsentant einer panturkistischen Organisation mit Sitz in Istanbul. Die „Versammlung syrischer Turkmenen“, der Abdurrahman Mustafa zuvor als Präsident vorstand, ehrt Alparslan Türkeş, den Begründer der ülkücülük-Ideologie der Grauen Wölfe, sowie die nationalislamistische Galionsfigur Muhsin Yazıcıoğlu, einen berüchtigten Pogromaufhetzer. Funktionäre der turkmenischen Exilorganisation sowie hochrangige Politiker der Milliyetçi Hareket Partisi und Büyük Birlik Partisi, beide aus dem Rudel der Grauen Wölfe, beehren sich gegenseitig auf ihren Plena und Parteitagen.

Doch die wenigsten der Konstellationen innerhalb der Nationalkoalition sind herunterzubrechen auf ideologische Kongruenz mit der türkischen Großraumpolitik. Für andere ist die Kollaboration auch nur das Ticket zur neuen Staatsklasse. So ist der „Kurdische Nationalrat“ - zu dem die syrische Schwesterorganisation der vom Barzani-Clan dynastisch geführten Partiya Demokrata Kurdistan und einige kleinere Parteien gehören, die der Föderation Nordsyrien feindselig sind – ein weiterer Koalitionär. Während Teile des Nationalrats die türkische Militärkampagne gegenüber Afrin zumindest kritisierte und dabei innerhalb der Koalition isoliert blieb, bewerben sich vor allem die Kader der kurdischen Yekîtî Partiya, der „Partei der Einheit“, als autochthones Antlitz des türkischen Okkupationsregimes in Afrin. Ihr Rezept ist das der in Irakisch-Kurdistan angestammten Partei des Barzani-Clans, das ihr Klientelregime vor allem in der Kollaboration mit der Türkei und ihrer Konterguerilla ökonomisch wie politisch festigen konnte. Noch in diesen Tagen duldet sie das Einsickern des türkischen Militärs in das von ihr beherrschte Territorium.

Es ist nicht eine etwaige „terroristische Bedrohung“, die die Türkei nach Nordsyrien vorzustoßen zwingt. Die verheerenden Massaker in Grenznähe in Reyhanlı am 11. Mai 2013 und in Suruç am 20. Juli 2015 waren islamistische – vom „tiefen Staat“ der Muslimbrüder flankiert. In der an der Türkei angrenzenden Provinz Idlib herrschen bis heute weitflächig die syrischen Derivate der al-Qaida. Die türkische Aggressivität gründet ganz woanders: Die dezidiert säkulare Föderation Nordsyrien blockiert die türkische Großraumexpansion – und sie provoziert Neid und Rachegelüste. Denn während die Föderation auch für assyrische Christen und säkulare Araber ein Versprechen auf bessere Tage ist, herrschen in jenen Teilen Syriens, in die die Türkei ausgiebig investiert hat, konfessionalistischer Irrsinn, Gangrivalitäten und Devastation. Die europäische Einfühlung in die „legitimen Sicherheitsinteressen“ der Türkei ist nichts anderes als die Verschleierung der offenen Flanke der Türkei für die nationalislamistischen und panturkistischen Rackets in Syrien und die verdeckte für den „Islamischen Staat“ und andere Derivate der al-Qaida.

Die kurdischen Föderalisten fürchteten eine Revolution, die aus den Moscheen kam und zu einer Geiselnahme verkümmerte. Das ist der Grund ihrer Distanzierung gegenüber den sunnitischen Militanten – und nicht die als Gerücht kursierende Fraternisierung mit ihren Folterern des Regimes. Sie wissen nur zu gut, dass Zwangsarabisierung wie Türkifizierung verzahnt sind mit dem politischen Islam. Anders als weitflächig in der Türkei – mit Aussparungen vor allem entlang der Agäisküste – kann sich in Syrisch-Kurdistan die voranschreitende Islamisierung nicht als demokratisch legitimiert, als Volksverstaatlichung, tarnen. Sie wird als Anschlag auf das eigene Leben wahrgenommen. Während im türkisch eroberten Afrin ein schwarzer Schatten über die Frauen geworfen wird, hat das von den Föderalisten befreite sunnitisch-konservative Rakka, zuvor die Kapitale des „Islamischen Staates“, mit der großartigen Leila Mustafa nun eine unverschleierte Frau als Vorsitzende des Stadtrats.

De facto karikiert die Türkei mit jeder ihrer Aktionen den an anderen Tagen noch versprochenen regime change in Damaskus. Mehr noch als die sunnitischen Militanten, die sich weiterhin gegenseitig befehden, profitiert Bashar al-Assad und seine russischen und iranischen Protektoren von der türkischen Aggressivität. Im Schatten der türkischen Militärkampagne gegen Afrin konsolidierte das Regime erfolgreich sein Staatsterritorium in Ost-Ghouta. Die aggressive (Re-)Islamisierung von Afrin ist eng verzahnt mit dem demografischen Engineering des Regimes, das mit der Evakuierung von Darayya, Douma und anderer sunnitischer Zentren der Türkei das Menschenmaterial zuschiebt. Unter dem Freudengesang – „Entweder Bashar oder verbrannte Erde“ – hat das Regime der al-Ba'ath-Partei nicht weniger zu Jihadisierung Syriens beigetragen als die Türkei selbst.

Der von Donald Trump ausgeplauderte Abzug der US-amerikanischen Soldaten aus Syrien sowie die Nichteinhaltung des Versprechens eines finanziellen Engagements für die Rekonstruktion von Ruinen wie Rakka drohen damit, dass die Föderalisten mit den Meistern der Rackets allein gelassen werden. Das jüngste Szenario sieht vor, dass das US-amerikanische Militär ihre Positionen an alliierte arabische Staaten – Saudi-Arabien, Vereinigten Arabischen Emirate, Qatar – übergibt. Um die säkulare Föderation Nordsyrien würde dann der sunnitische Gürtel noch enger geschnürt werden. Der Generalsekretär des Nordatlantikpaktes schmeichelte jüngst den türkischen Warlords in den schönsten Worten, die ein Europäer finden kann: die Türkei garantiere „die Stabilität an der Südgrenze“ der NATO, also dort, wo in diesen Tagen unter türkischer Patronage ein Rayon rivalisierender islamistischer Rackets – einschließlich der Derivate von al-Qaida – entsteht.

Ebenso wie die Konstellationen in Syrien sind jene in der Türkei äußerst krisenhaft. Nach den systematischen Amtsenthebungen im Militär infolge des 15. Juli 2015, die vor allem Offiziere mit traditioneller Westfixierung trafen, war Erdoğan gezwungen, sich den türkischen Eurasiern anzunähern. Dieses ultranationalistische Milieu, das vor allem in der Vatan Partisi von Doğu Perinçek als konspirativ-paranoider Zirkel pensionierter Militärs und ziviler „Soldaten Mustafa Kemals“ organisiert ist, beschwört die Existenz eines „kurdischen Korridors“ von Irak nach Syrien als perfides Instrument der US-amerikanischen Imperialisten zur Sabotage einer „unabhängigen Türkei“. Die russische Moderation des türkischen Eroberungsfeldzugs gegen Afrin entspricht exakt ihrer Propaganda, in der der russische Behemoth an der Seite der Türkei, des Irans und Chinas als eurasischer Ordnungsgarant fungiert. Die Sentimentalitäten der türkischen Muslimbrüder gelten ursprünglich vor allem den muslimischen Brüdern in der Peripherie dieser Staaten: den kaukasischen Emiren und den Uiguren im beschworenen Ost-Turkestan. Doğu Perinçek und seine Mitstreiter sind zudem keine Freunde des Islams, dafür des „Häretikers“ Bashar al-Assad. Der deutsche Schatten des früheren Maoisten Perinçek ist Jürgen Elsässer, dessen „antiglobalistischen“ Schriften er rezensiert. Unweigerlich provozieren die strenglaizistischen Ultranationalisten den Argwohn jener Muslimbrüder, die sie als Konkurrenten im ideologischen Apparat fürchten, wie Murat Özer oder die berüchtigte Gazette Yeni Akit. Die krude Allianz aus Muslimbrüdern, Grauen Wölfen und Sozialfaschisten, die Erdoğan nach Afrin geführt hat, besteht aus sich feindseligen Rackets, die einzig der Hass auf die Abtrünnigen am Vaterland eint.

Die Türkei ist der labilste Akteur einer etwaigen russisch-iranisch-türkischen Achse. Erdoğan weiß durchaus, was er an den Europäern, ihren Märkten, ihren Touristen, ihrer Kumpanei hat. Und am Ende des Tages ist auch die Türkei der Muslimbrüder noch Mitglied im Nordatlantikpakt und nicht nur aufgrund seines schmeichelnden Generalsekretärs ist es für die Türkei abwegig, daran etwas zu ändern. Doch auch die Russen werben mit Märkten, Touristen und stoischer Geduld – man denke nur an die demonstrative Unaufgeregtheit nach der Ermordung des russischen Repräsentanten Andrey Karlov in Ankara durch einen türkischen Polizisten. Recep Tayyip Erdoğan, Vladimir Putin, Ali Khamenei, Hassan Nasrallah (ihnen sind noch ganze Heerscharen an Agitatoren untergeordnet) bleiben rivalisierende Warlords, deren Einheit einzig in der antiimperialistischen Mythenbildung gestiftet wird. Ihre eigene imperialistische Aggression – der Iran tituliert Syrien offen als „35ste Provinz“, die Türkei behauptet ein angestammtes Recht auf Aleppo, Mosul und Kirkuk – drückt sich als antiuniversalistische Befreiungstheologie aus, ihre antiimperialistische Polemik ist projizierter Geltungsdrang. Der Russe Aleksandr Dugin, Vordenker der identitären Konterrevolution mit geistigen Anleihen bei Julius Evola, Alain de Benoist und Carl Schmitt, war unlängst zu Gast bei einer Fraktionssitzung der AK Parti. Seiner Schüler pflegen auch einen regen Austausch mit einigen der aggressivsten Ayatollahs wie Mohammad Taghi Mesbah und Yazdi Abdollah Javadi-Amoli.

Im Iran scheitert in diesen Tagen die Formierung der Massen durch die antiimperialistische Manipulation. Bei Protesten gegen das ruinöse Missmanagement der Wasserressourcen und die herrschende Korruption in Isfahan rufen unter der Dürre leidende Bauern – jene also, die der totalitäre Staat zuvor über die Moschee an sich kettete – den Slogan „Unser Feind ist hier, es ist eine Lüge, wenn Sie sagen, unser Feind ist Amerika“. In Kazerun, in der südlichen Provinz Fars liegend, wird unter demselben wahrhaft staatsfeindlichen Slogan die wöchentliche Khutbah-Predigt, die in der „Islamischen Republik“ die zentrale Institution der Agitation und Mobilisierung des Brüllviehs ist, verunmöglicht. Ende Februar riefen streikende Stahlarbeiter während der Khutbah-Predigt in Ahvaz gegen das „Allahu Akbar“ des Vorbeters an. Sie wandelten ein Regimeslogan in die sarkastische Parole „Nieder der mit den Arbeitern, Friede dem Unterdrücker“ um.

Die türkische Katastrophe liegt vor allem auch darin, dass – anders als in diesen Tagen im Iran – der antiimperialistische Mythos den Staatspräsidenten mit dem kleinen Mann, den Muslimbruder mit dem Laizisten vereint. Die Cumhuriyet Halk Partisi ignoriert die ausgestreckte Hand der Halkların Demokratik Partisi und begründet ihre Volksfront mit der Grauen Wölfin Meral Akşener (İyi Parti) und dem Islamisten Temel Karamollaoğlu (Saadet Partisi), jenem Einpeitscher der Pogromisten von Sivas im Juli 1993.

Eines der Opfer dieser blutroten Lügenrepublik ist die Lehrerin Ayşe Çelik aus Diyarbakır, die vor wenigen Tagen mit ihrem Kind eine15-monatige Haftstrafe antrat. Ein türkisches Gericht hielt es für „Propaganda für eine terroristische Organisation“, dass sie am 8. Januar 2016 in der populären Beyaz Show auf Kanal D folgendes gesagt hat: „Schweigen Sie nicht. Menschen sollen nicht sterben, Kinder sollen nicht mehr sterben, Mütter sollten nicht mehr weinen“. Als sie bei dem Moderator Beyazıt Öztürk anrief, harrte sie im militärisch abgeriegelten Silvan in der südöstlichen Provinz Diyarbakır, aus. Auch der Moderator provozierte zunächst den Zorn der Justiz, da er sich bei Ayşe Çelik für ihren Anruf bedankte: „Hoffentlich werden diese Friedenswünsche bald wahr.“ Nachdem er um Vergebung gebettelt und hervorgehoben hatte, dass er der „Sohn eines Polizisten“ und dem Staat treu ergebend sei, konzentrierte sich die Repression wieder ganz auf die abtrünnige Lehrerin.

Ayşe Çelik bei ihrem Haftantritt, sie wird auf den letzten Schritten von den oppositionellen Abgeordneten Feleknas Uca und Zeynep Altıok begleitet.


* Die sporadische Kritik von Kemal Kılıçdaroğlu, dem Vorsitzenden der traditionellen Partei Mustafa Kemals, an der Syrien-Politik Erdoğans endet dann doch wieder in antiimperialistischer Verschwörungsideologie – die Türkei als Opfer US-amerikanischer Intrigen – und der Heiligsprechung der türkischen Armee und ihrer Märtyrer. Es existiert dennoch auch ein antinationalistischer Flügel in der Partei, der für eine Oppositionsfront mit der Halkların Demokratik Partisi plädiert.
** In Syrien konzentrierten sich bis vor wenigen Wochen die noch verbliebenen ezidischen Dörfer auf Afrin sowie die nordöstliche Region Jazira. Anders als in Irakisch-Kurdistan verunmöglicht die Föderation Nordsyrien die notorische Hetze von staatsfinanzierten Imamen und salafistischen Agitatoren gegen die religiöse Minorität. Die ezidischen Dörfer in Afrin sind inzwischen verwaist. Mit dem Sinjar und Afrin verloren die Eziden ihre letzten beiden Refugien im Irak und Syrien, was deutsche Gerichte nicht davon abhält, Eziden aus dem Irak keine Anerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 AsylG mehr zuzuerkennen. Die „Verfolgungsdichte“, so das VG Bayreuth, sei nicht hinreichend, da mit der „Kurdischen Autonomieregion“ eine innerirakische Fluchtmöglichkeit existiere.
*** Selbst bei säkularen Persönlichkeiten der syrischen Opposition, die innerhalb und außerhalb der Nationalkoalition noch anzutreffen sind, bricht sich gegenüber der Föderation Nordsyrien das nationalchauvinistische Ressentiment Bahn. Michel Kilo etwa, ein säkular-christlicher Exil-Syrer, denunziert die Föderation als ein „zweites Israel“: „Sie können nicht ein Kurdistan aus Syrien herausbrechen. Wenn sie die Teilung Syriens verfolgen, werden wir ihnen das Kreuz brechen.“

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