Dienstag, 10. Dezember 2024

Flugschrift: »When we've freed Kobanî, we'll be off to Iran. It's their turn next!« Eine Erinnerung an ein revolutionäres Versprechen

 

Die Topografie Nordostsyriens ist geprägt durch das Stigma genozidaler Narben. Nach Ras al-Ayn im Norden des späteren Gouvernements al-Hasakah führten die Todesmärsche der anatolischen Armenier. Tausende wurden hier im Jahr 1916 massakriert, Hunderttausende zu weiteren Todesmärschen nach Deir ez-Zor gezwungen. Wessen ausgezehrter Leib nicht vom Säbel durchdrungen wurde, den erwartete der Tod durch Verhungern oder Typhus. Viele der Ermordeten entstammten dem zentralanatolischen Sebasteia, der heutigen türkischen Provinz Sivas, nunmehr unumstrittenes Territorium des faschistischen Wolfsrudels. Die Kirche in Deir ez-Zor, die dem Gedenken an dem Genozid gewidmet wurde, mit einer Skulptur, an dessen Sockel die Gebeine von Ermordeten begraben waren, wurde am 21. September 2014 vom Islamischen Staat gesprengt.

 Überlebende der Todesmärsche gründeten in Nordostsyrien armenische Gemeinden. Entlang des Flusses Khabur, ein Zweig des Euphrats, erstanden zudem Dörfer assyrischer Christen. Sie waren vor ihren Verfolgern aus der Bergregion Hakkâri zunächst in den Nordirak geflüchtet. Infolge des Konstitutionsprozesses des irakischen Staates – das britische Mandat endete 1932 – traf die Assyrer auch im Irak eine Nachwelle der genozidalen Wogen. Das Massaker von Sêmêl zwang sie zur Flucht in das französische Protektorat Syriens.

 Am 23. Februar 2015 drang der genozidale Islamische Staat in die assyrischen Gemeinden am Khabur ein, wenige Tage später lebte kein einziger Christ mehr dort. Sie waren geflüchtet, ermordet oder als Geiseln anderswohin verbracht worden. Auch nach der Befreiung blieben die Dörfer – bis auf Tell Tamer – verwaist und die vom Islamischen Staat gesprengten Kirchen Ruinen. Keine hundert Kilometer weiter östlich im Gouvernement al-Hasakah, nah am Irak, erhebt sich in der sandigen Öde ein monströser Kontrast zur Ausgestorbenheit der assyrischen Dörfer am Khabur. Al-Hawl gleicht dabei einer Dystopie. Tausende von Familienangehörigen der Soldaten des gescheiterten Kalifats sind hier interniert. Am 23. März 2019 endete im ruralen al-Baghuz Fawqani die territoriale Existenz des Islamischen Staates in Syrien. Meter für Meter und mit dem Leben vieler Frauen und Männer wurde die Region befreit durch die Brigaden der Partiya Yekîtiya Demokrat, die sich für einen demokratischen Konföderalismus ausspricht, und ihrer Militärkoalition Hêzên Sûriya Demokratîk, in der auch Brigaden christlicher Assyrer und Armenier sowie Fraktionen der Freien Syrischen Armee inkludiert sind. Doch in al-Hawl scheint sich der Unstaat als ein Miniatur-Emirat erhalten zu haben. Die Hisbah, eine Todesschwadron hochideologisierter Frauen, straft in al-Hawl gnadenlos jene ab, die dem Islamischen Staat abtrünnig sind oder der Kollaboration mit dem Feind beschuldigt werden. Die sogenannten Immigranten gelten als die bedrohlichsten in al-Hawl. Unter ihnen mehr als 120 Kinder und 68 Frauen deutscher Staatsangehörigkeit, von denen nur einige wenige repatriiert wurden. Leonora M. war eine von ihnen, im Kalifat war sie mit Martin L., der Karriere in der islamischen Staatssicherheit machte, verheiratet, der Deutsche hielt sich eine yezidische Sklavin. Vor einem deutschen Gericht kam Leonora M. mit einer Bewährungsstrafe davon. Seit langem fordern die demokratischen Föderalisten in Nordostsyrien die Repatriierung der europäischen Immigranten. Auch Forderungen nach Ad-hoc-Strafgerichten in Syrien und einer Institutionalisierung ausdauernder Re-Education unter internationaler Beteiligung verhallen. In al-Hawl sollen auch noch yezidische Sklavinnen leben. Sie wurden von ihren Peinigern gezwungen, während der Registrierung über ihre Identität zu täuschen. Europa scheint dabei wenig bis kein Interesse an der Strafverfolgung der genozidalen Parteigänger des Kalifats zu haben. Und vor allem ist es nicht gewillt, die Autonome Administration in Nordostsyrien anzuerkennen. Währenddessen macht das Auswärtige Amt aus dem türkischen Aggressor einen »Schlüsselakteur« bei der Krisenbewältigung in Syrien.

Aleppo im Dezember 2016

Am 19. Dezember 2016 richtete der junge türkische Polizist Mevlüt Mert A. unter dem Ruf »Für Halab« und dem Todesfluch »Allahu ekber« den russischen Gesandten in Ankara hin. In den Tagen zuvor war die Fatah Halab, eine Koalition von Milizen der ahl as-sunna, unter den getakteten russischen Bombardements zum withdrawal aus Aleppo gezwungen worden. Zwischen den Trümmern marschierten nun die Hezbollah, die Proxy-Armeen von Qasem Soleimani wie die aus Afghanen (zwangs-)rekrutierte Fatemiyoun Brigade und die pakistanische Zainebiyoun Division, sowie tschetschenische Legionäre des Bluthundes Ramzan Kadyrov. Mohammad Ali Jafari, Kommandeur der Wächterarmee, erhob Halab zur Front der permanenten »Islamischen Revolution«, die 1979 zur khomeinistischen Übernahme des Irans geführt hat.

 Doch die Rache des türkischen Polizisten eskalierte nicht in einer weiteren Konfrontation mit dem Kreml. Sie war vielmehr die Katastase einer Opferinszenierung jener verfolgenden Unschuld, die darüber täuschte, dass es die türkische Syrienpolitik selbst war, die die Reihen der Fatah Halab nach und nach ausgedünnt hatte. Die Leichenstarre des russischen Gesandten war noch nicht eingetreten, da traf sich der türkische Minister für auswärtige Affären, Mevlüt Çavuşoğlu, mit Sergej Lawrow und Mohammad Javad Zarif. Als wäre Halab einzig geschlachtet geworden, um gleichwie den Irrsinn der syrischen Katastrophe als auch die Teilnahmslosigkeit der Europäer vorzuführen, einigten sie sich hastig auf einschneidende Frontverschiebungen. Es war das türkische Kalkül, mit der Kapitulation in Halab die Militanten für die Prioritätenänderung in der eigenen Großraumpolitik zu vereinnahmen. Die panturkistische Sultan Murad Division, die den Muslimbrüdern nahe Faylaq al-Sham sowie Fraktionen innerhalb der Ahrar al-Sham waren Monate zuvor aus den Ruinen von Halab aufgebrochen, um an der türkischen Militärkampagne Fırat Kalkanı Harekâtı, dem »Euphratschild«, teilzuhaben.

 Die türkische Staatsfront fürchtete nicht allein den Durchbruch der demokratischen Föderalisten nach Afrin, um dessen Totalisolation zu beenden. Sie fürchtet bis heute in der demokratischen Föderation Nordostsyriens ein Gemeinwesen, das die fatalen Mechanismen der syrischen Katastrophe nicht reproduziert. Während anderswo Imame, salafistische Wanderprediger, Emissäre der al-Qaida und desertierte Militärs in der ruralen Peripherie rekrutierten und als ambitiöse Start-ups und Franchise-Warlords vor allem in Qatar und Türkei um Finanzierung warben, gelang es den demokratischen Föderalisten die assyrischen Christen, die Nachkommen jener Armenier, die die Todesmärsche überlebten, aber auch arabische Stämme von einem solidarischen Bund zu überzeugen. Die Befreiung der Frauen und ein angstfreies Leben für Christen sind unumstößliche Säulen der demokratischen Föderation. Dort aber, wo die türkische Staatsfront ausgiebig investiert hat, waltet die Despotie rivalisierender Warlords und eine misogyne Apartheid zwischen Frau und Mann. Das Nordsyrien der demokratischen Föderalisten hindert die türkische Staatsfront in ihrer aggressiven Großraumpolitik – und sie provoziert mit ihren Erfolgen Neid und Rachegelüste.

 Als am 18. März 2018 die türkische Einverleibung von Afrin erfolgte, verlasen die Staatsimame – auch in den deutschen Moscheen der DİTİB – die 48. Sure »Fetih«, die sogenannte Siegessure. Im nordtürkischen Giresun zählte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan triumphal die in Afrin getöteten »Terroristen« nach. Während seines rhetorischen Innehaltens brüllte die Parteijugend in Milizkluft »Ungläubige« und drohte mit dem Vers 3:12: »Bald werdet ihr geschlagen sein und euch in der Hölle scharren«. Während bis zur türkischen Einnahme die schwarze Ganzkörperverschleierung mit dünnem Sehschlitz in Afrin ein Kuriosum war, das Verdacht provozierte, prägen nun die schwarz Verschleierten an der Seite bärtiger Milizionäre, die um die Beute rivalisieren, die Szenerie. Der Generalsekretär des Nordatlantikpaktes schmeichelte indessen den türkischen Okkupanten mit dem begrenzten Vokabular eines europäischen Sprechautomaten: die Türkei garantiere „die Stabilität an der Südgrenze“ der NATO, also dort, wo unter türkischer Patronage islamistische Mordbrenner – einschließlich der jüngsten Generation von al-Qaida – territoriale Geltung erlangten.

 Im darauffolgenden Jahr marschierte die türkische Armee und ihr Frontvieh auch in Tell Abyad und Ras al-Ayn ein – auf Kurmancî: Girê Sipî und Serê Kaniyê. Panisch flüchteten die Nachkommen jener, die 1916 die Todesmärsche überlebten. Auch in Girê Sipî und Serê Kaniyê leben nunmehr keine Christen mehr. Nach der Einnahme von Serê Kaniyê hielt Essam al-Buwaydhani von der Jaysh al-Islam, die Khutba-Predigt in einer der Moscheen, in der er die theologische Legitimität der Raubbeute pries. Die Hêzên Sûriya Demokratîk, der Militärverband der demokratischen Föderation Nordostsyriens, hatte in den Wochen vor dem Einmarsch ihre Verteidigungspositionen in der Grenzregion geschliffen, um das von den US-Amerikaner protegierte »Security Mechanism Framework« auszuführen, das eine Kooperation bei den Grenzpatrouillen zwischen türkischer und US-amerikanischer Armee vorsah. Doch der unter Donald Trump angeordnete withdrawal des US-amerikanischen Militärs kam einer Absolution für jene Staatsbestie gleich, die am hysterischsten heult. Mitch McConnell, Parteiführer des Senats, kritisierte die Entscheidung als einen »strategischen Alptraum«. Selbst das Pentagon schien mit der Entscheidung überrumpelt worden zu sein. Trump twitterte indes über ein Gespräch mit Erdoğan: »…and he is a man who can do it plus, Turkey is right next door«.

 Als sich die Türkei wahrlich noch »next door« zum Islamischen Staat befand, schienen beide mit der Grenzsituation versöhnt zu sein. Auch und vor allem als der Islamische Staat Girê Sipî einnahm und von den Minaretten der Moscheen ein Ultimatum an die Kurden aussprach: Flucht oder Tod. Die Partisanen des Kalifats, die die suizidalen Massaker an Oppositionellen in Diyarbakır, Suruç und Ankara ausführten, bewegten sich in jenen Tagen ungehindert zwischen der Türkei und dem Islamischen Staat.

 Wie zuvor im okkupierten Afrin kursierte auch 2019 wieder die ewiggleiche Snuff-Propaganda, die den Feind – eine »ungläubige, gottlose terroristische Organisation ohne heilige Schrift« (R.T. Erdoğan) demütigen soll. Nicht von ungefähr ähnelt die Selbstinszenierung in ihrer Enthemmtheit und ihrem misogynen Hass jener des Pogroms am 7. Oktober im Süden Israels: »Die Leichen der Schweine sind unter unseren Füßen«, höhnen die Milizionäre, während sie über den leblosen Körper einer weiblichen Föderalistin trampeln. »Dies ist eine der Huren, die du uns (als Beute) gebracht hast«, worauf ein penetrantes »Allahu Akbar« folgt. Der frühere Kommandeur der Fatah Halab, Yasser Abdul Rahim (in jenen Tagen bei der Muslimbrüder-nahen Miliz Faylaq al-Sham), fotografierte sich grinsend vor einer weiteren überwältigten Föderalistin, während die Männerrotte »Schlachtet sie« brüllte. Als am 12. Oktober 2019 Hevrîn Xelef in eine Razzia der Ahrar al-Sharqiya geriet, zerrten die Milizionäre sie an den Haaren durch den Staub, schlugen auf sie ein und richteten sie schlussendlich hin. Die türkische Propaganda pries diesen bestialischen Mord als Triumph über den Feind. Hevrîn Xelef war bis zu ihrem Tode Generalsekretärin der Partiya Sûriya Pêşerojê, die im befreiten Rakka gegründet wurde, um das Ideal der syrischen Revolution gegen das Baʿth-Regime mit der Idee eines säkularen und nicht-ethnizistischen Syriens zu verwirklichen.

 

 
 Hevrîn Xelef, ermordet am 12.10.2019, die türkische Gazete Yeni Akit jubelte: »Terör örgütüne büyük şok! Kritik isim öldürüldü«

 Am Ende desselben Monats, in dem Hevrîn Xelef ermordet wurde und die Christen aus Girê Sipî und Serê Kaniyê geflüchtet waren, wurde in der ruralen Peripherie des Gouvernements Idlib – nicht mehr als 5 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt – der selbsternannte Kalif des Islamischen Staates Abu-Bakr al-Baghdadi in einer US-amerikanischen Kommandoaktion getötet. In Idlib ist die türkische Armee präsent, doch die Identifizierung und Tötung des Schlächters geschah in direkter Koordination zwischen US-amerikanischem Militär und der Hêzên Sûriya Demokratîk. Stunden später und in derselben Konstellation wurde auch Abul-Hasan al-Muhajir, die rechte Hand des Kalifen, im türkisch okkupierten Jarabulus getötet. Beide Kommandoaktionen geschahen im Terrain türkischer Protektorate, aber ohne türkische Beteiligung. Das US-amerikanische Militär weiß – anders als Donald Trump – ganz genau, wem sie bei der Eliminierung des Islamischen Unstaates trauen kann und wem eben nicht. Als am 20. Januar 2022 in al-Hasakah die Sleeper Cells des Unstaates begannen, mit Nadelstichen die Befreiung ihrer inhaftierten Glaubensbrüder zu erzwingen, wurde die Hêzên Sûriya Demokratîk, die darüber hinaus mit einer Revolte der Inhaftierten konfrontiert war, von türkischer Artillerie und Bayraktar-Drohnen terrorisiert.

Aleppo im Dezember 2024

 In den vergangenen Tagen rühmte Devlet Bahçeli, Adjutant Erdoğans in der türkischen Staatsfront, dass Tell Rifat, nördlich von Halab, von »Ungeziefer« befreit wurde. Bis zur Okkupation durch die türkische Proxy-Armee harrten in Tell Rifat über hunderttausend Geflüchtete aus Afrin aus. Nun flüchten sie wieder. Der Rudelführer der faschistischen Grauen Wölfe erhoffe sich indes, das Manbij, das am 13. August 2016 durch die demokratischen Föderalisten vom Islamischen Staat befreit wurde, als Nächstes falle und droht auch der oppositionellen DEM-Partei mit noch mehr Repression. Es ist äußerst vielsagend, dass im Vergleich zur türkischen Proxy-Armee mit dem absurden Namen Syrische Nationalarmee die al-Qaida-Abspaltung Hayʼat Tahrir al-Sham als diszipliniertes und diversitätssensibles Staatssurrogat erscheint. Ihr Haupt Abu Mohammad al-Julani wurde im Jahr 2011 auf Befehl von Abu-Bakr al-Baghdadi nach Syrien entsandt und wurde dort Emir der al-Nusrah Front. Im Jahr 2017 trennte sich Tahrir al-Sham offiziell von al-Qaida. In Idlib wurden nunmehr jene, die dem al-Qaida-Emir Ayman al-Zawahiri die Treue halten, rabiat verdrängt. Als al-Julani 2011 nach Syrien aufbrach, war auch Abu Maria al-Qahtani als weiterer Emissär der al-Qaida an seiner Seite. Al-Qahtani soll im Jahr 2016 an der Gründung von Ahrar al-Sharqiya beteiligt gewesen sein, jener Miliz, die Hevrîn Xelef ermordet hat und Teil der türkischen Proxy-Armee ist. Al-Julani wurde nunmehr zum viel porträtierten Antlitz der dramatischen Umschwünge Syriens in den vergangenen Tagen. Nach Charles Lister vom Middle East Institut habe sich sein Shariah-Racket von salafistisch-globalistisch in nationalrevolutionär gewandelt. Dasselbe Raunen aus den Denkautomaten kennt man noch aus jenen Tagen des Jahres 2021 als die gewandelten, nunmehr nationalrevolutionären Taliban Afghanistan übernahmen.

 Als im September 2014 drohte, dass das nordsyrische Kobanî an das al-Baghdadi-Kalifat fällt, befand sich Zanyar Omrani, ein Dokumentarist aus dem kurdischen Iran, an der Widerstandsfront. Seine Reportage bezeugt die rege Teilnahme von Frauen und Männern aus Rojhilatê Kurdistanê, dem iranischen Teil Kurdistans, an der Front in Kobanî. Viele jener, die in der Reportage zu sehen sind, werden diesen Widerstand nicht überlebt haben. »Wenn wir Kobanî befreit haben, ist es als nächstes der Iran«, verspricht lächelnd eine der Frauen. Im Jahr 2022 hallte der Ruf »Frau, Leben, Freiheit«, der in den Jahren zuvor in Nordsyrien zu Popularität kam, durch die Straßen Irans. Noch während der Beerdigung von Mahsa Amini, die von ihrer Familie mit ihrem kurdischen Namen Jina gerufen wurde, rissen sich anwesende Frauen den Zwangsschleier vom Haar. Der Protest gegen den misogynen Mord erfasste mit einer solchen Wucht nahezu alle Provinzen und selbst Kleinstädte in der ruralen Peripherie. Im Qom, die heilige Kapitale der Geistlichkeit, wurden Brandflaschen gegen das Islamische Seminar geschleudert; in Kerman, woher mit Qasem Soleimani einer der Architekten der syrischen Katastrophe stammt, seine überdimensionalen Porträts verbrannt. Das Regime konterte mit Hinrichtungen und gnadenloser Abstrafung.

 Während der türkischen Aggression gegen die demokratische Föderation Nordostsyriens täuschte das Auswärtige Amt jahrelang über die »legitimen Sicherheitsinteressen« der Türkei und verkroch sich bei jeder Eskalation hinter dem eigenen Unwissen angesichts der »fluiden Lage«. Ganz ähnlich wie ein solches Geraune einer Absolution für die türkische Staatsbestie gleichkommt, ist die europäische Verzögerungstaktik gegenüber der verzweifelten Forderung iranischer Revolutionäre, die Wächterarmee als terroristische Organisation zu kriminalisieren, eine Carte blanche für den Islamischen Staat im Geiste Ruhollah Khomeinis. Eine Carte blanche auch für das Pogrom am 7. Oktober 2023 und für die Hinrichtung des deutschen Staatsangehörigen Jamshid Sharmahd.

 In diesen Stunden fällt das Baʿth-Regime. Einzig die omnipräsenten Monumente der Dynastie al-Assad täuschten noch darüber, dass es vielmehr die Schattendespotie des khomeinistischen Regimes und seiner Hezbollah war, als dessen nationale Fassade sich der Baʿth-Staat in den vergangenen Jahren überhaupt noch restaurieren konnte. Der Fall des Regimes wurde möglich, weil das militärische Mehrfrontenpotenzial der Hezbollah inzwischen drastisch geschrumpft ist und das khomeinistische Regime zögerte, auch noch seine irakischen Shia-Milizen zu opfern. Nach jahrelangen Einkesselungen, getakteten Bombardements, den modernen Grabenschlachten zwischen den Betonschluchten in Halab und anderswo mit hunderttausenden Toten konnten Hayʼat Tahrir al-Sham und weitere militante Oppositionsfraktionen innerhalb weniger Tage ohne schwere Konfrontationen halb Syrien einnehmen. Der Durchmarsch sagt viel über die ruinöse Aushöhlung des Regimes aus, aber wenig über das militärische Potenzial der Männer von al-Julani.

 Während US-amerikanische und europäische Analysten noch über das Wandlungspotenzial der militanten Parteigänger eines islamischen Staates rätseln, scheint sich die Koryphäe der Rackets, der russische Kreml, nolens volens mit der Afghanistan-Variante arrangiert zu haben. Als nach der Übernahme Afghanistans durch die Taliban im August 2021 noch hektisch weibliche Antlitze auf Reklame unkenntlich gemacht wurden, um nicht den Zorn der Tugendterroristen zu provozieren, und viele Afghanen verängstigt ausharrten, schwärmte der russische Gesandte Dmitrij Zhirnov davon, dass die Tage nach dem Einmarsch der Taliban »die friedlichsten« gewesen wären, die er »in Kabul erlebt habe«. Während am Kabuler Flughafen panisch Flüchtende zu Tode getrampelt wurden und die russische Propaganda gegen die Geflüchteten hetzte, schwadronierte Zhirnov von »Touristen«, die alsbald nach Afghanistan kommen könnten: »Afghanistan erinnert mich an die Krim, nur das Meer fehlt«. Al-Julani, so wird kolportiert, habe sich bereits an die Russen gewendet und ihnen Sicherheitsgarantien für die russische Militärpräsenz in Tartus und anderswo ausgesprochen. Hinlänglich bekannt ist die russische Protegierung von Ahmad al-Awda aus dem südlichen Daraa, einer der wendischen Warlords, die am 8. Dezember Damaskus einnahmen.

 Es ist vielsagend, dass es die Nachkommen der al-Qaida, kaukasische Jihadreisende und panturkistische Chauvinisten unter türkischem Protektorat im Norden Syriens zu territorialer Geltung gebracht haben, ganz so wie zuvor der Islamische Staat. In Südsyrien, fern von der türkischen Grenze, ist unter den Oppositionsfraktionen gegen das Baʿth-Regime ein fundamentalistischer Islam schwächer ausgeprägt. Nahezu ignoriert wurden die jüngsten Massenproteste, die seit mehr als einem Jahr im südlichen Gouvernement Suwayda anhielten, und bei denen ein Ende des Baʿth-Regimes und der Präsenz des khomeinistischen Regimes in Syrien gefordert wurde. In Suwayda leben vor allem Drusen. Ihre religiösen Traditionen, wie der Glaube an Reinkarnation, haben eine stark synkretistische Ausprägung, folglich gelten sie der islamischen Orthodoxie als Häretiker.  In den Protestslogans wurde das Regime als Captagon-Mafia denunziert. Die Proteste schlossen alsbald auch das angrenzende Gouvernement Daraa ein sowie Tartus und Latakia, dort also wo vor allem die ebenso in der islamischen Orthodoxie als häretisch geltenden Alawiten leben und wo auch die Dynastie der al-Assad herstammt. Diese ausdauernden Proteste von jenen, die das Regime zuvor kaum fürchten musste, waren wie das Prodrom des Regimekollapses in diesen Tagen.

  In der deutschen Wahrnehmung erscheint das Ende des Baʿth-Regime indes vor allem als Husarenritt von al-Julani, dem »Mann der Stunde« (Tagesschau). Dass es andere waren, die als Erstes in Damaskus eintrafen, Fraktionen der Freien Syrischen Armee sowie Brigaden der Drusen, wird kaum noch von Interesse sein. Es scheint so als hätten sich nahezu alle nach wenigen Tagen mit al-Julani und seiner Hayʼat Tahrir al-Sham arrangiert: Und so plaudert, um die ordentliche Nachfolge zu besprechen, der scheidende Justizminister des Ancien Régime mit dem Justizminister jenes Heilsregimes, das Hayʼat Tahrir al-Sham im Jahr 2017 im rural geprägten Gouvernement Idlib etabliert hat. Das Staatssurrogat in Idlib war von Beginn an mit Protesten konfrontiert, die in der ersten Hälfte dieses Jahres für die Männer um al-Julani bedrohlich wurden. In Jisr al-Shughour, Binnish und anderswo in dem Gouvernement wurde Hayʼat Tahrir al-Sham dafür kritisiert, das repressive Regime nachzuahmen, und unverhohlen das Haupt von al-Julani gefordert. Die Einvernehmlichkeit darüber, dass al-Julani und die frommen Technokraten seines kriselnden Staatsprovisoriums in Idlib, welches jüngst selbst noch mit Protesten konfrontiert war, nun innerhalb weniger Tage zu den Protagonisten eines neuen Syriens wurden, irritiert. Noch 2019 bedrohte eine Militärkampagne des Baʿth-Regimes den Süden von Idlib. Wenn Tahrir al-Sham in den vergangenen Jahren selbst seine territoriale Geltung erweitern konnte, dann nur in den Rayons der türkischen Proxy-Milizen. Auffällig ist in diesen Tagen die Wendehalsigkeit von Fraktionen innerhalb des Ancien Régime sowie vor allem, und auch das erinnert an die Übernahme Afghanistans durch die Taliban, die diskrete Parteinahme Katars für al-Julani. Es war nicht allein das khomeinistische Regime, das die Hamas in ihrer Entscheidung für den 7. Oktober 2023, die in nächster Konsequenz auch eine Entscheidung für den Tod Tausender in Gaza war, bestärkte. Es waren auch die Türkei und vor allem Katar. Hayʼat Tahrir al-Sham ist die katarische Investition in die syrische Katastrophe, so wie das Emirat in die Hamas investiert hat. Israel wird gute Gründe haben, dass es in diesen Stunden die militärische Infrastruktur Syriens pulverisiert.

 In vielen al-Julani-Porträts dieser Tage fehlt vor allem ein biografisches Detail. Al-Julani war einer jener Männer, die nach dem Ende des irakischen Baʿth-Regimes im Jahr 2003 von Syrien aus den befreiten Irak infiltrierten, um diesen in eine suizidale Hölle zu verwandeln. Das Pentagon dokumentierte im Jahr 2007, dass monatlich zwischen 50 und 80 Männer von Syrien in den Irak geschleust werden, um dort ihre suizidalen Kamikazekommandos auszuführen, die allein zwischen Januar und September um die 5.500 Menschen mit in den Tod rissen. Das syrische Baʿth-Regime duldete nicht nur die Transitrouten der al-Qaida, es schien sie darüber hinaus zu fördern. Das Endes dieses mafiotischen Regimes, das durchdrungen war durch die Agenturen des khomeinistischen Regimes, ist Grund zur Freude. Die Hoffnung gründet indessen nicht in der heiligen Wandlung von al-Julani zu einem gütigen Übervater der Nation. Syrien wird ein Krisenstaat bleiben.

 Doch die immense Schwächung der Hezbollah und somit der Katastrophenarchitektur des khomeinistischen Regimes erweitert die Aussicht auf ein Ende jener Despotie, die sich 1979 dem Iran einverleibt hat. Die globalen Reaktionen auf das Pogrom am 7. Oktober erhellten die ideologischen Konstellationen. Während Osama Bin Laden post mortem zum TikTok-Influencer emporgestiegen ist und die Parteinahme für das Pogrom an US-amerikanischen und europäischen Universitäten als fashionable gilt, ähneln die vom Regime agitierten Anrottungen in Teheran oder anderswo im Iran einer trostlosen wie verachteten Begegnung der noch verbliebenen Greise der Islamischen Revolution. Als eine direkte militärische Konfrontation zwischen Israel und dem khomeinistischen Regime drohte, fanden sich in Teheran Graffitislogans wie »Israel, der erste Schlag (gegen das Regime) ist eurer, wir beenden es auf der Straße« und »Israelis und Iraner vereinigt euch«. Der ranghohe Mullah Mohammad Abolghassem Doulabi bedauerte unlängst, dass im Iran um die 50.000 Moscheen aus Unrentabilität und Desinteresse am Gebet geschlossen bleiben. Er sprach unverhüllt über das Paradoxon einer vom Islam entfremdeten Nation eines Staates, der auf den Doktrinen eines fundamentalistischen Islams gründet. War eine Mehrheit innerhalb der Opposition Ende der 1970er bereit, unter dem drohenden Gebrüll »Allahu Akbar« zu marschieren, schleudert die heutige Jugend im Iran den Mullahs Slogans wie »Wir hassen deine Religion, verflucht sei deine Moral« entgegen. Sie wollen kein Regime aggressiv antiisraelischer und projektiver Krisenexorzierung. Sie wollen kein militaristisch-okkultes Regime aus Klerus und der Armee der Wächter der Islamischen Revolution. Und sie wollen kein Regime, in dem die Unterwerfung der Frauen eine heilige Säule des Gemeinwesens ist.

 Nicht allein in der Massenbeteiligung Iranisch-Kurdistans an den Protesten gegen das khomeinistische Regime gründet das Band der Solidarität mit der demokratischen Föderation Nordostsyriens. Ein freier Iran und eine demokratische Föderation in Nordsyrien, die der türkischen Aggression standhält, wären die Antipoden einer permanenten Konterrevolution.

Die Forderungen der Stunde wären

Solidarität mit dem Widerstand in Kobanî

Anerkennung der demokratischen Föderation Nordostsyriens und Sanktionierung der türkischen Aggression

Kriminalisierung der Wächterarmee der Islamischen Revolution und ihrer Proxys als terroristische Organisationen, kein Dialog, keine Legitimierung mehr mit der khomeinistischen Despotie